Ein schwerer Abschied

Wieder sitze ich hier, am Bett des Schwiegervaters, wie schon so oft in den letzten zwei, ja fast drei, Monaten. Wie lange kenne ich ihn nun schon? Gute zwanzig Jahre ist es her, damals starben kurz hintereinander meine Eltern und meine Schwiegereltern nahmen ihre Stelle ein. Mein Schwiegervater, meinem Vati sehr ähnlich, wuchs mir besonders ans Herz.
Ruhig, besonnen, klug ist er und geistig aktiv bis ins hohe Alter.

Nun bin ich also wieder hier in diesem sehr großen und unpersönlichen Pflegeheim. 
Was hätten wir anders machen können? Als uns der Schwager anrief, der Vater ist wieder - in seiner Wohnung - bewusstlos hingefallen und nun im Krankenhaus, dachten wir noch, es wird schon wieder. Er erholte sich ja auch, aber dann kam gleich der nächste Hirnschlag und die Ärzte erklärten uns, dass er nicht mehr allein leben dürfe. Er würde ein Pflegefall bleiben. Natürlich spielten wir mit dem Gedanken, ihn zu uns zu holen. Aber es war platzmäßig nicht machbar. Außerdem soll man einen Baum mit achtundachtzig Jahren nicht mehr verpflanzen. Aber war das Heim nicht auch eine Verpflanzung?
Was hatte er geweint und musste doch zustimmen. Es war für uns alle damals sehr schwer. Vater war ja geistig noch voll aktiv, man konnte mit ihm über alles reden und sich Rat holen. Aber er wollte einfach nicht mehr. Sein Argument: Ich mag nicht mehr, es hat alles keinen Sinn.
Das ließ er vor allen Dingen seine drei Söhne fühlen. Kaum kam man in seine Nähe, fing er an zu stöhnen, unentwegt. Es war schrecklich! Nur mir gelang es, ihn aus diesem Rhythmus zu reißen. Ich erzählte ihm alles was mir in den Sinn kam und er hörte zu. Ich fragte ihn um Rat, bei Dingen, wenn ich nicht mehr weiter wusste. Und erhielt Antwort von ihm.
Aber kaum hörte ich auf zu sprechen, fing sein Stöhnen wieder an. Ich war sehr traurig!
Was konnte ich denn tun, wenn er sich aufgab? Wie konnte ich ihm Lebensmut geben?

Über seine Hand streichle ich wieder, sie ist ganz kalt und ich versuche, sie zu wärmen.
Wir hatten damals dieses Heim im Zentrum gewählt, damit wir Vater jeden Tag besuchen konnten. Einmal wir, dann meine beiden Schwager. Verbunden haben wir es immer mit einem Besuch bei der Mutter. Die Schwiegermutter lebt in einem sehr kleinen und familiären Haus zur Pflege. Aber sie lebt sowieso in ihrer eigenen kleinen glücklichen Welt, geprägt von Alzheimer-Schüben, die sie mal mehr oder weniger die unmittelbaren Ereignisse vergessen lassen.

Eigentlich war es dieses Mal nicht unser Besuchstag. Spontan beschlossen wir, nach dem Vater und der Mutter zu sehen. Es war, als ob er uns gerufen hätte. Auf der Fahrt überlegten wir noch: Zuerst zum Vater oder zur Mutter. Wir fahren zum Vater.

Es war dieser entsetzlich heiße Sommer mit Tagen, an denen das Thermometer die Vierzig-Grad-Marke erreichte und sogar darüber stieg. Am Parkplatz entschieden wir, noch ein paar Schritte in den nahen Wald zu gehen. Eine Bank entdeckten wir und ... das Handy klingelte. Wie gut, dass wir nicht zuerst zur Mutter gefahren waren, dort wären wir im Funkloch und nicht erreichbar.
Der Schwager: Kommt sofort, Vater geht es nicht gut, er liegt im Sterben. Schnell rannten wir die paar Meter durch den Wald, über den Parkplatz zum Eingang. Den Aufzug nehmen?
Nein, die Treppe, das geht schneller.
Mein Herz klopfte zum Zerspringen, der Druck stieg mir in den Kopf.
Ich kämpfe gegen Übelkeit und Ohnmacht ...

Nun bin ich hier. Vater wurde hoch gebettet, er sitzt fast. Sein Atem geht stoßweise. Der jüngste Sohn sitzt am Bett, er will Vaters Hand nehmen, wird aber zurück gestoßen, der andere Sohn steht daneben. Meine Gedanken überschlagen sich, was kann ich tun?
Nichts, ich fühl mich ohnmächtig, machtlos! Der Schwager steht auf und ich setze mich zu Vater. Ich nehme seine Hand! Die Tränen laufen mir über das Gesicht! Ganz leicht streichle ich sie, sein Gesicht und über sein Haar. Ich rede mit ihm, aber er kann nicht antworten. So sitze ich minutenlang und noch weitere drei Stunden ...
Es ist alles total unwirklich, friedlich und doch aufwühlend. Seine eiskalte Hand bekommt durch mich wieder Wärme. Darüber bin ich glücklich, ich möchte ihm Kraft geben, für ihn da sein.
Die Schwester erklärt mir, ich muss ihn "loslassen", aber ich will nicht! Irgendwann entscheide ich mich doch, Vaters Wunsch, diese Welt verlassen zu wollen, zu akzeptieren. Ich sage es ihm und ich glaube, er hat es verstanden, denn sein Atem wird immer flacher.
Dann verlässt seine Seele diese Erde. Draußen wird es stockdunkel, ein Blitz ... und der Donner kracht. Das Licht im Zimmer erlischt. Noch weitere zwei Stunden sitzen wir bei diesem tobenden Wetter an Vaters Bett und nehmen - jeder für sich - Abschied von ihm. Ein gewaltiger Sturm heult um das Gebäude, es ist schwarz wie die Nacht ein schreckliches Gewitter tobt. Richtig unheimlich! Die Bäume biegen sich, dass sie fast den Boden berühren.
Meine Gedanken weilen bei Vater. Was hatten wir uns noch alles vorgenommen. Ausflüge wollten wir gemeinsam unternehmen. Freuten uns schon auf das Frühjahr. Vater, geistig fit, hätte sich über jedes Ziel gefreut. Nur mit dem Laufen ging es nicht mehr so gut, aber auf Wanderungen und Spaziergänge hätten wir gerne verzichtet. Die Gegend, die Natur genießen, das hätte Vater gefallen. Soviel hatten wir schon vorgeplant und dann ...

Die Stunden des Abschiednehmens hatten gut getan, wenn ich auch entsetzlich traurig war. Jetzt erledigten wir das Nötigste und fuhren heim.

Nach Mitternacht beschlossen wir, ins Bett zu gehen. Mein elektrischer Wecker am Bett blinkte, der Strom musste weg gewesen sein. Aber warum blinkten die anderen Geräte im Haus nicht? Die Mikrowelle, das Video ...?
Vielleicht ein anderer Stromkreis, dachte ich noch. Mein Blick fiel auf die Uhr beim Bett meines Mannes. Diese zeigte ganz normal die Zeit an und das war derselbe Stromkreis. Seltsam! Total erschöpft sank ich die Kissen und fiel sofort in einen bleiernen Schlaf. Nach etwa zwei Stunden war ich plötzlich hellwach. Wieder fiel mein Blick auf meinen blinkenden Wecker. Er zeigte die Zeit, also die Stunden an, die vergangen waren, seit er abgeschaltet hatte. Zurückgerechnet war es die Todeszeit des Vaters.
Am nächsten Tag stellten wir diesen Zeitmesser wieder und er lief und läuft heute noch.

In einem Gespräch mit lieben, vertrauten Menschen und einem Bekannten, er ist Psychotherapeut, durfte ich dieses Erlebnis aufarbeiten. Er erklärte mir, dass für eine Seele Entfernungen nicht zählen, wenn sie eine Botschaft überbringen will. Ich solle es als lieben Gruß vom Vater werten, als eine besondere Gnade, die mir zuteil wurde.

Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die einmalig sind. Sie sind da, aber man kann sie einfach nicht erklären. So hab ich es akzeptiert mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand.
Ich weiß, er wird immer für mich da sein und auch auf mich aufpassen. Wie oft spreche ich noch mit ihm, wenn ich traurig bin oder zornig. Aber auch wenn ich glücklich bin, lasse ich ihn daran teilhaben. Im Gespräch mit ihm fühle ich mich geborgen und ich hoffe, dass es noch lange so sein möge!

Heidi Gotti

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