Mit der Maus gegen die Einsamkeit


Anna entdeckt das Internet

In einer kleinen Stadt lebte eine ältere Frau ganz alleine auf sich gestellt, da sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Ich werde sie einfach "Anna" nennen. Seit sie nicht mehr arbeiten ging, war es sehr einsam um sie geworden. Ihre Rente war wohl nicht sehr hoch, aber arm konnte man sie nicht nennen. Anna war einsam!

Immerzu schlafen kann man nicht, und Radio und Fernsehen sind mit der Zeit auch nicht mehr interessant. Wie gerne hätte sie jemanden gehabt, mit dem sie sich hätte unterhalten können. Das Telefon, ja, aber wer hatte denn schon Zeit, ihr immer zuzuhören? Niemand, denn sie merkte schon am Tonfall und der Kürze des Gesprächpartners, dass er kein Interesse daran hatte, mit ihr zu reden.

So wurde sie immer einsamer. Ihre Kinder lebten über dem großen Teich, in diesem fernen großen Land, das man Amerika nennt. Dort anzurufen, konnte sie sich schon gar nicht leisten und die Briefe brauchten immer entsetzlich lange, bis sie abgeschickt und die Antwort wieder bei ihr angekommen war.

Eines Tages klingelte es an ihrer Wohnungstüre. Draußen standen zwei Männer, die große Kartons neben sich stehen hatten. Sie kamen von einem Geschäft, ganz in ihrer Nähe. Sie wollte schon die Türe schließen, mit der Bemerkung, dass sie nichts bestellt hätte, als der eine der Männer sagte: "Wir kommen von Ihrem großen Sohn." Auf ihre fragenden Augen hin, entgegnete er, der Inhalt der Schachteln sei ein Geschenk der Kinder. Also ließ sie die Männer in ihre Wohnung. Diese machten sich zuerst ans Auspacken und sahen sich dann um. "Dort in der Ecke, der große Tisch, der wäre doch nicht schlecht", meinte der eine. Der andere nickte.

Nun begannen sie emsig, dieses "Etwas" aufzubauen. Anna konnte sich darunter überhaupt nichts vorstellen, wollte die Arbeiter aber nicht mit Fragen löchern. Das eine Teil sah aus wie ein kleiner Fernseher. Dann war noch so eine "Kiste" dabei und etwas Flaches mit lauter Tasten. Sie fragte die Männer, ob sie gerne einen Kaffee trinken würden. Auf deren bejahende Antwort hin, begab sie sich in die Küche. Als sie mit dem heißen Getränk und einigen selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen zurückkam, hatten die Gegenstände auf dem Tisch schon Formen angenommen. Sie erkannte, dass es sich um einen PC handeln musste. In verschiedenen Werbebroschüren und im Fernsehen hatte sie Computer schon gesehen. Aber, um Gottes willen, was sollte sie denn damit anfangen?

Jetzt fragten die Arbeiter auch noch nach ihrer Telefonsteckdose. Sie bekam ganz runde Augen und konnte sich den Sinn der Frage absolut nicht erklären. Aber vorerst setzten sich die Männer mit ihr hin, und sie tranken gemeinsam Kaffee. Ihre Plätzchen seien sehr gut, meinten die beiden. Es entwickelte sich auch eine Unterhaltung, die Anna sichtlich genoss, einsam, wie sie sonst war. Auf ihre unzähligen Fragen erklärten ihr die Männer, dass sie beauftragt seien, den PC aufzustellen und ans Internet anzuschließen. Das Finanzielle sei mit dem Chef bereits geregelt worden. Auch sei jemand beauftragt, sie anfangs täglich und später bei Bedarf zu besuchen, um ihr alles zu zeigen. Außerdem dürfe sie bei Fragen jederzeit anrufen. Ganz glücklich war unsere Anna. Allein der Besuch eines Menschen war für sie ja ein Erlebnis der besonderen Art.
Als die Männer dann fertig waren, vereinbarten sie gleich für den darauf folgenden Tag einen Termin, an dem der PC-Spezialist bei Anna vorbeikommen könne. Am nächsten Morgen war sie ganz aufgeregt und schon sehr zeitig wach. Kaum erwarten konnte sie es, bis es 10 Uhr war und der Techniker kommen sollte. Schon vorher hatte sie Kaffee und auch Tee bereitgestellt und ein paar Plätzchen dazu gelegt. Dann klingelte es und sie beeilte sich, die Türe zu öffnen. Gemeinsam setzten sie sich vor den PC und der Mann zeigte ihr ganz langsam alles und erklärte es ihr. Dann war sie an der Reihe. Bevor der Spezialist ging, richtete er Anna noch im Outlook die Post ein und legte eine Email-Adresse für Anna an.

Er schickte eine Probemail an den Sohn weg und speicherte noch die Email-Adressen der Kinder im Adressbuch ab. Dann startete er das Programm, und siehe da, mit einem Klingeln kam die erste Email im Postfach an. Ein "Brief" des Sohnes. Als Anna ihn dann las, liefen ihr vor Freude die Tränen über die Wangen. Es war eine lange Nachricht, in der ihr mitgeteilt wurde, wie es den Kindern und Enkeln so ginge. Der Techniker, der mittlerweile seine Sachen zusammen gepackt hatte, half Anna noch, eine kurze Nachricht zu verfassen und sie auch abzusenden, worauf kurz darauf auch schon die Antwort eintraf. Anna war überwältigt.

Nun dauerte es keine zwei Wochen mehr bis sie die heiß ersehnten Neuigkeiten der Kinder lesen konnte. Sehr geduldig kam der PC-Fachmann noch oft bei Anna vorbei. Sie war so erfüllt vom Lernen, und es klappte auch vorzüglich damit. Dann zeigte ihr der Mann auch noch die Handhabung des Internets. Das war für sie wie ein großes Fenster in die weite Welt. Was gab es da alles zu entdecken, zu erfahren und zu sehen. Viele Wochen waren inzwischen vergangen, und sie war mit "ihrem" PC schon so vertraut, als ob es sich um einen Freund handeln würde. Jeden Tag sendete und empfing sie Emails von Ihren Kindern. Eines Tages bekam sie wieder eine Mail von ihrem Provider, dort wurde ihr ein Link vorgeschlagen. Der Beschreibung nach musste es etwas für ihr Alter sein.

Also versuchte sie es einmal und landete bei einem Internetklub. Ganz begeistert war sie. Es gab ein Gästebuch, das sie interessiert durchlas. Im Poesiealbum befanden sich herrliche Bilder und wunderschöne Einträge. Ein "Rundgang" wurde vorgeschlagen, den sie auch gleich vornahm. In den Visitenkarten musste sie auch noch stöbern, die waren ja aus aller Welt. Im "Chat" blieb sie hängen, traute sich aber noch nicht. Aber auch das würde sie eines Tages bewältigen, da war sie sich ganz sicher. Dann machte sie sich über die Mitgliedschaft schlau und meldete sich sofort an, natürlich mit dem passenden Spitznamen, den sie vorher für sich ausgewählt hatte. Was war Anna nun glücklich. Jetzt konnte sie auch einen Eintrag im Gästebuch vornehmen. Mit ihrem: "Ich bin neu hier und würde mich über Post freuen", löste sie eine Lawine aus.

Sie bekam nämlich massenhaft Emails von anderen Mitgliedern. So entwickelten sich viele wunderschöne virtuelle Freundschaften, und Anna war nie mehr einsam. War sie traurig, wurde sie getröstet. War sie fröhlich und lustig, konnte sie das an Andere weitergeben. All das spiegelte sich in ihren Einträgen wider, die sie im Poesiealbum vornahm. Sie war ihren Kindern so dankbar und schrieb ihnen begeistert, dass sie nicht gedacht hätte, dass man auch zu Hause so viel Spaß haben könne. Ein paar ihrer Email-Freundschaften waren sehr intensiv und vertraut geworden. Für Anna unfassbar, dass man jemanden so ins Herz schließen kann, den man persönlich nicht kennt und nie im Leben gesehen hat. Das waren echte Freundschaften. Zwischen den Zeilen konnte sie lesen, wie es ihren Freunden ging. Waren sie traurig, wurden sie von ihr getröstet. Hatten sie Probleme versuchte sie ihnen zu helfen. Wenn sie unglücklich war, erhielt sie Trost und so ging das hin und her. Sehr sicher bin ich mir, dass Anna nie mehr einsam ist und noch viele Freundschaften dieser Art knüpfen wird. Das wünsche ich ihr auch von ganzem Herzen.

Heidi Gotti

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