Die Engelskastanie

Es war zum Verzweifeln, der Junge war irgendwie anders als seine Geschwister und Buben dieses Alters. Die Eltern wussten selbst nicht warum.
In der Schule stand der Erstklässler immer abseits und beobachtete, ob sich nicht ein Opfer blicken ließ, dem man zeigen konnte, wer der Boss ist.
Dumm war der Bub nicht, im Gegenteil, erklärten die Lehrer.
Viele Tränen weinte die Mutter und gab sich die Schuld.
Nur die Großmutter hatte Zugang zu dem Jungen.
„Bobbi“, sprach sie ihn eines Tages mit seinem Kosenamen an. „Komm, wir machen einen Spaziergang.“
Anfangs wollte der Knabe nicht und verzog den Mund. Als er aber Omis ausgestreckte Hand sah, ging er doch mit.
Nun im Herbst trugen die Bäume ihre Früchte und auch unter dem Kastanienbaum am Waldrand türmten sie sich.
Die Oma meinte so ganz beiläufig: „In jeder Frucht wohnt ein kleiner Engel, der Glück bringt, mit dem man reden kann und der uns Menschen tröstet. Man muss nur fest daran glauben, sich bücken und die richtige Frucht suchen. Soll ich dir dabei helfen?“
Mit leuchtenden Augen hatte Bobbi zugehört und schon nickte er eifrig mit dem Kopf.
Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit und bald hatten sie die richtige Kastanie gefunden. Sie sah ganz anders aus, als die übrigen Früchte, deshalb musste sie es sein.
„Wenn du sie in der Hand hältst, wirst du das Engelchen im Inneren fühlen“, erklärte die Großmutter.
 Und tatsächlich, es schien zu klappen, denn die Hand des Kindes wurde richtig warm und mit verklärtem Gesicht, marschierte der Junge an der Seite der Oma heim.

Die Kastanie nahm er ab diesem Tag überall mit hin und wenn er nicht weiter wusste oder die Gefahr bestand, sich zu prügeln, holte er sie aus der Hosentasche und drückte sie ganz fest, bis die Wärme der Baumfrucht aus der Kinderhand ins Herz strahlte.

Heidi Gotti

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