Diese Geschichte widme ich unserem Freund Wolfgang, dem Leiter eines Pflegeheims und seinen Mitarbeitern, die durch ihre Arbeit alten und kranken Menschen helfen, sie pflegen, versorgen und auch auf ihrem letzten Gang begleiten. Möge Gott ihnen die physische und psychische Kraft geben, um weiterhin diesen Menschen dienen zu können. Das Banner zu seiner Website befindet sich auf der Seite "Freunde & links".  

Die Entscheidung?


Die alte Frau, ich nenne sie Theresa, sitzt in ihrem Zimmer am Fenster. Aber ihre Augen sehen weder die Bäume, Sträucher oder Blumen draußen im Garten, noch die Menschen am Gehweg. Selbst die Fahrzeuge auf der Straße nimmt sie nicht wahr.

Morgen hat sie Geburtstag, dann kann sie auf 80 Lebensjahre zurückblicken. Zeiten der Freude, des Glücks, aber auch des Leids und vieler Entbehrungen. Was hinter ihr liegt weiß sie. Aber die Zukunft? Wie lange kann sie noch in ihrer Wohnung bleiben und sich selbst versorgen? Nur Gott weiß es und er wird es schon richten, hofft sie.

Hat er ihr nicht schon oft geholfen? Als sie noch ganz klein war und in den Teich fiel?
Der Hund bellte wie verrückt und der Nachbar zog sie aus dem Wasser.

Dann die Geburt ihrer Tochter. Es gab Komplikationen. Sie erlebt es noch einmal, sieht sich im Bett liegen. Die Stimmen des Mannes, der Mutter und des kleinen Sohnes hört sie. Der Kleine schreit: "Mutti, Mutti", begleitet von einem herzzerreißenden Weinen. Sie möchte ja, aber es ist als ob sie sich gegen eine durchsichtige Wand stemmt, hinter der ihre Lieben stehen. Ihre Kraft reicht nicht, um diese Glasscheibe zu durchbrechen.
Auf einmal hört sie hinter sich eine leise, einschmeichelnde Musik. Sie sieht ein helles warmes Leuchten und wird von einer unendlichen Sehnsucht erfasst. Zu diesem strahlenden Licht möchte sie laufen! Was fühlt sie sich leicht und gut! Ganz langsam, schwebend dreht sie sich der Helligkeit zu. Der erste Schritt, der zweite ...welch ein Glücksgefühl! Dort muss sie hin. Es wird die Erfüllung aller Träume und Wünsche sein! Aber irgendetwas lässt sie nicht. Es sind Stimmen und an ihrem Körper wird gezogen. Wieder sieht sie ihre Familie und ... auf einmal kann sie diese Wand aufdrücken. Fast böse ist sie, hat Sehnsucht nach der Musik, die sie nie mehr im Leben hören wird. Sie will zu diesem Licht, das Geborgenheit verspricht.
Jetzt sind auch die Schmerzen wieder da und sie friert!
Bevor sie begreift was geschehen ist, sieht sie ihren kleinen Sohn. Als sie dann das schreiende Bündel Mensch, ihre Tochter, im Arm hält, ist sie doch froh, dass sie umkehren durfte.

Theresa wendet sich vom Fenster ab und geht in die Küche. Ein Kaffee wäre nicht schlecht, denkt sie. Der Abwasch wartet auch noch. Als die Kinder ihr einen Geschirrspüler kaufen wollten, hatte sie sich mit Händen und Füßen gewehrt. Ja damals ... aber mittlerweile fallen ihr manche Arbeiten schwer, sehr schwer sogar. Was ist, wenn ich gar nicht mehr kann?, sinniert sie. Schnell schiebt sie diese Gedanken von sich. Morgen will der Bürgermeister zum Gratulieren kommen. Sicher werden sich auch die Nachbarn, Freunde und Kinder anschließen. Sie freut sich schon! Obwohl ... es wird wieder sehr anstrengend für sie werden. Warum wird gerade am 80sten so ein Trara veranstaltet? Ist nicht der 79ste oder der 81ste ebenso wichtig?

Es klingelt. Die Nachbarin kommt, um zu helfen. Sie ist auch schon älter, aber zu zweit geht es halt doch besser. Schnell ist der Abwasch erledigt, mit dem Tuch wird der Staub von den Möbeln entfernt und nun noch saugen. Stolz betrachten die Beiden ihr Werk.
Jetzt wird der Kaffe schmecken!

Abends allein im Ehebett erfasst sie wieder einmal die Sehnsucht nach Georg, ihrem Mann.
Lächelnd erinnert sie sich, wie ihre erste Begegnung verlief. Es war beim Einkaufen. Tollpatschig hatte der Jüngling einen Stoß Dosen im Laden umgeworfen. Erst Jahre später erfuhr Theresa den Grund des Missgeschicks. Hatte Georg sich doch in sie verguckt und so passierte es ... Eifrig half sie beim Aufstellen der Dosen, jedes Mal errötend, wenn der junge Bursche sie ansah. Schüchtern waren sie Beide damals und wenn Freunde nicht nachgeholfen hätten ... wer weiß. Vielleicht wären sie nie ein Paar geworden. Aber so ... Nach ein paar Wochen gestand der Kavalier Theresa seine Liebe. Nach einem halben Jahr hielt er bei den Eltern um ihre Hand an. So war es damals noch! Als junge Frau zog Resi, wie sie zärtlich von ihrem Mann genannt wurde, nach der Hochzeit zu Georg, dessen Familie einen großen Bauernhof besaß. Er sollte und wollte den Hof übernehmen. Auch Theresa war einverstanden, fühlte sie doch Georgs Verbundenheit mit seiner Heimat.

Aber es war nicht einfach. Die Arbeit war schwer. Viele Tiere mussten versorgt werden. Das bedeutete morgens zeitig aufstehen. Wetterabhängige Arbeiten mussten durchgezogen werden und das erforderte viel Kraft. Das Schlimmste für die junge Frau war das Leben in der Großfamilie. Nie richtig alleine sein mit dem eigenen Mann, außer abends im Bett. Besonders schmerzhaft empfand Resi es, nachdem das erste Kind auf der Welt war. Konsequent wurde dessen Versorgung und Erziehung von der Schwiegermutter in die Hand genommen. Die junge Frau musste sich um die Aufgaben einer Bäuerin kümmern. Traurig fühlte sie, wie der Sprössling sich mehr und mehr von ihr entfernte. Oder bildete sie es sich damals nur ein? Als dann ihre Tochter zur Welt kam, versuchte sie das zu ändern. Erfolglos!
Trotzdem wurden die Kinder groß und verstehen sich gut mit der Mutter.

Weitere Leidensjahre folgten. Georgs Vater lebte nicht mehr und die Schwiegermutter wurde krank. Pflege rund um die Uhr. Fast zerbrach Resi daran. Damals gab es noch kein Abschieben der Alten in ein Pflegeheim. So war es geregelt worden auf dem Hof. Das Geld für solch eine Institution hätte ja auch gefehlt. Leer gebrannt und einsam an Leib und Seele fühlte sie sich oft. Fast hundert Jahre alt wurde die Schwiegermutter, bis sie erlöst wurde. Es war viele Jahre kein Leben mehr, nur noch ein sinnloses Dahindämmern.

Aber jetzt ... dachten die Eheleute und gaben den Hof an die Kinder ab. Es waren ihnen nur wenige gemeinsame Jahre vergönnt. Auch Georg wurde krank - ganz plötzlich. Immer hatten die Beiden an Andere gedacht und für sie gesorgt. Die eigenen Bedürfnisse wurden hinten angestellt. Bis man die tückische Krankheit erkannte, war es zu spät.
Resi laufen die Tränen über die Wangen. "Georg, du fehlst mir so", flüstert sie leise.

Der Geburtstag wird zum riesigen Fest, dessen ungewollter Mittelpunkt Theresa ist. Ihre Bescheidenheit lässt es sie als peinlich empfinden. Der Pfarrer, der gleich am Anfang ein paar Worte mit ihr wechseln konnte, fühlt ihre seelische Not. Er bittet, wiederkommen zu dürfen. Resi freut sich, schätzt sie doch diesen ruhigen und verständnisvollen Mann, der auch zuhören kann. Eine Gabe, die heutzutage nur noch wenige Menschen besitzen.

Am Wochenende sitzt er der alten Frau gegenüber. Mühsam steht sie auf, um frischen Kaffee zu holen. Immer wieder stützt sie sich auf dem Weg in die Küche an den Möbeln. Der Pfarrer sieht es. Wenn er es auch nicht erwähnt, spürt er doch die seelische Not der Frau.
Er weiß Bescheid.

Und dann fängt Resi zu reden an. Sie spricht von der Zukunftsangst, von der Sorge sich nicht mehr selbst versorgen zu können, der Frage: Pflegeheim, betreutes Wohnen und den finanziellen Sorgen. Sie will auf keinen Fall, dass die Kinder ...

Bereits dunkel ist es, als der Pfarrer Theresa verlässt. Viel leichter ist ihr ums Herz. Ist sie sich doch der Hilfe des Pfarrers gewiss, eine Entscheidung muss sie aber selbst treffen und es wird sicher die richtige sein, wenn es soweit sein sollte.

Ein liebevoller Blick streicht über ihre Möbel beim Zubettgehen ... wer weiß!
Heidi Gotti - September 2004

zurück zur Geschichten-Übersicht           zurück zur Hauptseite