Der geheimnisvolle Reisende

Es war Winter und ich stand dicht gedrängt mit vielen Menschen im Zug, unterwegs von der Landeshauptstadt in meine Heimatgemeinde. Wie in einer Sardinenbüchse kamen wir uns vor. An einem Halt unterwegs war Endstation, warum erfuhren wir nicht. So war das damals. Damit ich überhaupt heim kam, stieg ich in einen Eilzug, der nicht überall halten sollte, zum Glück aber meine Stadt anfahren würde.
‚Hoffentlich kontrolliert der Schaffner nicht“, waren meine Gedanken. Ich war mir jetzt schon sicher, dass mein Geld nicht reichen würde, um den Aufpreis zu bezahlen.
Da viele Reisende heim wollten und in die Bahn drängten, war diese bald voll besetzt.
Ein eleganter Herr im Nadelstreifenanzug mit Reisegepäck beobachtete mich heimlich. Oder bildete ich mir das nur ein? Erzogen, sich nicht von Männern ansprechen zu lassen, ignorierte ich es und tat abweisend. Naja, ein wenig aus den Augenwinkeln musste ich schon schauen. Als kleine Eva träumte ich sofort vom Ritter mit dem weißen Pferd. Dabei musste ich innerlich dann doch schmunzeln. Hier im Zugabteil ein so großes Tier?

Kurz bevor ich aussteigen musste, stand dieser Herr plötzlich neben mir, drückte mir eine Visitenkarte in die Hand und bat mich lächelnd, ich möchte ihm doch schreiben. Vor Schreck hätte ich fast das Verlassen des Zuges verpasst.

Daheim zeigte ich die Karte meiner Mutti und wir stellten fest, dass er irgendein Boss der Siemens Ltd. in Kabul sein musste.
„Sicher freut sich der Fremde über einen lieben Gruß aus seiner Heimat, denn in Afghanistan gibt es keine Schnee-Winter wie bei uns“, meinte meine Mutter. „Du vergibst dir nichts, wenn du eine Ansichtskarte von hier wählst und liebe Grüße darauf schreibst.“

So war es dann auch. Ich habe nie mehr etwas von diesem seltsamen Reisenden gehört oder gelesen. Wie denn auch, denn ich habe keinen Absender angegeben, nur meinen Namen.

Heidi Gotti