Das Geschenk


Eben zog ich meine Schuhe an und möchte die Wohnung verlassen, als es klingelt. Ich wohne mit meinen drei Kindern nach der Scheidung in einer kleinen Dachstockwohnung im dritten Stock. Generell betätige ich niemals den Türöffner, ohne mich nicht vergewissert zu haben, wer vor der Haustüre steht. Ein Blick aus dem Fenster präsentiert mir einen noch sehr jungen Mann, der ungeduldig vor der Haustüre steht. Auf meine Frage, was er denn möchte, antwortet er strahlend:
"Ich habe ein Geschenk für Sie!"
"Um was handelt es sich denn?", lautet meine Frage. Geheimnisvoll entgegnet der junge Mann: "Das kann ich Ihnen hier nicht sagen. Darf ich rauf kommen?"
Natürlich frage ich erneut nach und wieder erfolgen diplomatische Erklärungen, die mich neugierig machen, weiß ich doch genau, dass der Schenker schon lange gestorben ist. Aber das muss ich wissen und betätige den Türöffner. Kurz darauf stehe ich an meiner Wohnungstür dem jungen Mann gegenüber. Zwei Riesenkoffer, in jeder Hand einen, erkenne ich nun zu meinem Erstaunen. Wo hatte er die nur versteckt, dass ich sie nicht sehen konnte?
Mit Blick auf die Behälter erkläre ich konsequent, dass ich nichts kaufe und an der Haustüre schon generell nicht. Wieder kommt das Argument des Geschenkes.
Naja, denke ich, jetzt wo er schon mal oben ist, hör dir an, was er zu verschenken hat.
Ergreife aber noch einmal das Wort, um ihm unumwunden zu erklären, dass ich weiß, dass heutzutage nichts her gegeben wird ohne Gegenleistung.
Sein geheimnisvolles Lächeln weckt meine Neugier aufs Neue. Da ich selbst in einer Versicherung arbeite und meine Kunden im Außendienst betreue, bin ich versiert, was Verkaufsgespräche anbelangt. Sehr interessiert beschließe ich, mich auf das Katz- und Maus-Spiel einzulassen.
Nachdem wir am großen Tisch meiner Wohnküche Platz genommen haben, öffnet der Knabe eifrig den ersten Koffer. Was ich zu sehen bekomme, bestätigt meine Vermutung. Bettwäsche!
"Weiße hat man heute nicht mehr", wird mir erklärt. Bunte, einfarbige, Blümchen, Karos, abstrakte Muster, auf Leinen, Damast oder Baumwolle werden mir präsentiert. Diesen Spaß kann ich uns Beiden nun nicht mehr zerstören. So höre ich aufmerksam zu.
Nun kommt der zweite Koffer dran. Bade- und Handtücher in allen Farben, Mustern und Größen kommen zum Vorschein. Auch hier werde ich eingewiesen, was im Moment ‚in' ist. Ich mache ein interessiertes Gesicht, weiß ich doch genau, was als Nächstes erfolgen wird. Natürlich werde ich nicht enttäuscht. Es folgt der Preis, der in Bezug auf diese Qualität ein ‚Nichts' darstellt. Schmunzelnd lasse ich den jungen Mann seine Erklärungen abspulen. Dann kommt die Pointe, das Geschenk.
"Als kostenlose Zugabe darf ich ihnen diesen qualitativen wertvollen und besonders flauschigen Waschlappen überreichen. Er wird Ihre Entscheidung sicher erleichtern.
Blitzschnell hat der junge Mann ein bereits teilweise ausgefülltes Bestellformular hervorgezaubert. Der Kugelschreiber in seiner Hand klickt und ist schreibbereit.
Erwartungsvolle Augen sehen mich an.
Nun bin ich am Zug. Ganz langsam ergreife ich das erste Wäschepaket und erkläre dem Knaben: "Ich helfe ihnen nun beim Einpacken. Wunderschöne Bettwäsche und herrliche Frotteesachen bieten sie an. Auch der Preis ist annehmbar. Es tut mir entsetzlich leid, aber ich benötige nichts Derartiges, meine Schränke sind übervoll. Auch erwähnte ich ja bereits, dass ich an der Haustüre keine Geschäfte tätige."
Sprachlos sieht mich der Jüngling an, als ich bedächtig und sorgfältig beginne, Stück für Stück seiner Kostbarkeiten einzupacken. Zum Schluss verschließe ich die Koffer. Kein Wort ist seither gefallen, als ich zur Türe gehe und sie öffne. Nun bleibt dem jungen Mann nichts Anderes übrig, als seine beiden Koffer zu schnappen und den Rückweg anzutreten. Total überfahren sieht er mich an. Bevor ich die Türe schließe, schenke ich ihm noch ein aufmunterndes Lächeln und strecke ihm den Waschlappen entgegen.
"Ihr Geschenk, das sie mir vorher doch nicht verraten konnten. Auch das brauche ich nicht", säusle ich und stecke ihm den Waschlappen in seine Jackentasche.
Ich hoffe, dass der Jüngling nun soviel gelernt hat, dass er seine Kunden in Zukunft respektieren wird, wenn sie ihm erklären, dass sie grundsätzlich nichts kaufen, um was es sich auch handeln möge.
Heidi Gotti

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