Die kleine Wolke

 

Eben war sie geboren worden - die kleine Wolke, als Teil eines großen Gebildes. Nun steht sie am Himmel, flauschig und strahlend weiß, mitten im intensiven Azurblau. Kein Lufthauch regt sich an diesem heißen Sommertag. Unten liegt eine große Wiese, auf der die Bauern arbeiten. Das am vorherigen Tag abgemähte Gras wird gewendet, es geschieht mit dem Traktor, dem ein Gerät angehängt ist.
Viel hat die Wolke schon erfahren, als sie noch nicht selbständig war. Es wurde erzählt, dass früher alle diese Arbeiten noch per Hand ausgeführt werden mussten. Die Wagen, auf denen das duftende Heu nach der Trocknung aufgeladen wurde, zogen damals noch Pferde.
Diese Erinnerungen sind sofort verschwunden als das laute "tuck tuck", des Traktors ertönt. Die Maschinen erleichtern den Bauern der heutigen Zeit die damalige schwere Handarbeit. Bald wird das Heu trocken sein und dann von einem weiteren Gerät zusammen geschoben und vom nächsten angesaugt auf den angehängten Wagen befördert werden.
Spaziergänger treten aus dem nahen schattigen Wald. Die Kinder hüpfen und springen. Aber ... nicht lange. Immer langsamer wird ihr Schritt. Der Vater bleibt stehen und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die kleine Wolke hat Mitleid und stellt sich vor die Sonne. Ein dankbarer Blick der Menschen nach oben, streift sie. Schnell strebt die Gruppe in den gegenüberliegenden Wald.
Am Horizont zeigen sich drohend große, dunkle Gewitterwolken. Das kleine Wölkchen hat Angst vor diesen bösen Geschwistern, die schnell näher kommen, getrieben vom auffrischenden Wind. Sturmgepeitscht sind sie plötzlich hier. Um nicht von ihnen gefressen zu werden, entschließt sich die Wolke zur Flucht. Mutig setzt sie sich vor den Wind und lässt sich forttreiben. Hinter sich sieht sie schon den ersten grellen Blitz zucken und hört das Donnergrollen. Puuuuh, geschafft, Wölkchen ist in Sicherheit. Hier trifft sie auf andere entkommene Geschwister. Sie fassen sich an den Händen und lassen sich vom Wind treiben. Einmal im Kreis, dann rechts herum und anschließend wieder links.
Die Gewitterwolken haben ihre Ladung über der Erde verteilt ... einen gewaltigen Platzregen, vermischt mit Hagel. Für sie beginnt nun der ewige Kreislauf, als Wasser zur Erde, sich dort sammeln in Bächen und Flüssen. Dann folgt die Wanderung, die oft erst im Meer endet. Irgendwann während oder am Ende dieser Reise werden die Wassertropfen von der Sonne in den Himmel gesaugt, wo sich neue Wolken bilden.
Schrecklich denkt die kleine Wolke und schüttelt sich bei dem Gedanken. Sie möchte noch lange hier oben verweilen, möchte viel von der Welt sehen und nicht gleich als Regen zur Erde stürzen.
Mit einigen Geschwistern zieht sie nun weiter und sieht unter sich eine riesengroße Stadt liegen. In den Straßen wälzt sich dichter Verkehr und auf Gehwegen, sowie Plätzen wimmelt es von Menschen. Über einer Kirche verweilt sie, denn eben beginnen die Glocken zu läuten. Das Tor öffnet sich und ein Brautpaar tritt ins Freie. Kinder streuen Blumen, eine Kapelle auf dem Platz vor dem Gebäude fängt zu spielen an. Das junge Paar wird umringt von vielen Personen und zu einem schnittigen knallroten Sportwagen mit offenem Verdeck geleitet. Kaum Platz genommen, setzt sich das Auto in Bewegung.
"Da muss ich mit", jauchzt die kleine Wolke und setzt sich in Bewegung. Die Fahrt geht in Richtung Autobahn. Dreispurig wälzen sich die Fahrzeuge, rechts die großen Brummis, in der Mitte die langsameren PKW's und links die schnellen. Unser Sportflitzer überholt hupend alle vor ihm fahrenden Fahrzeuge, die ins Hupkonzert mit einstimmen.
Aber was ist das? Einer der Lastwagen versucht gerade einen anderen zu überholen, der aber nicht nachgeben will. Elefantenrennen nennt man das, weiß die kleine Wolke. Da sie dem Brautpaar folgt, bemerkt sie nicht, dass es zu einem schweren Unfall kommt. Aus der Ferne vernimmt sie wohl noch die Sirenen der Polizei und des Krankenwagens, aber sie ist schon zu weit entfernt, um zu sehen was passiert ist.

Mittlerweile kreist das Wölkchen über einem Friedhof. War das Brautpaar weiß gekleidet, sind diese Menschen alle schwarz angezogen. Schnell geht die Reise weiter.
Ein See glänzt in der Sonne. Segel-, Ruder- und Motorboote tummeln sich auf dem Wasser. Menschen schwimmen und andere liegen am Ufer. Die kleine Wolke gerät vor die Sonne und erschrickt über die bösen Blicke der Sonnenhungrigen. Schnell gibt sie die Sicht frei und fliegt fort. Auf einer Weide jagen sich Pferde und die Kühe liegen wiederkäuend im Schatten eines großen Apfelbaumes. Am nahen Waldrand ist eine Familie beim Grillen. Mit dem Rauch steigt ein köstlicher Fleischgeruch in die Höhe. Die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, spielen Ball. Ihr treuer Freund, ein großer Schäferhund, springt bellend hinterher.
Vor lauter Freude tanzt die kleine Wolke mit ihren munteren Geschwister sorglos am Himmelszelt. Zu sorglos, denn auf einmal sind sie nicht mehr allein und werden von einer dicken schwarzen Gewitterfront geschluckt. Mitten drin steckt das kleine Wölkchen und ist nun nicht mehr weiß, sondern dunkel wie die anderen auch.
Und dann ist es soweit ... die kleine Wolke fällt in Millionen kleiner Tropfen als Regen zur Erde. Im Fallen denkt sie noch: "Wann werde ich wieder ein Wölkchen sein?" Traurig flüstert sie: "Ich wollte doch noch so viel sehen von der Welt". Aber sie ist zuversichtlich, dass sie eines Tages wieder als Wolke über den Himmel schweben wird.

Heidi Gotti

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