Das siebte Gebot

 
Kurz vor Kriegsende waren wir als Deutsche von den Tschechen aus unserer Heimatstadt Brünn nach Wien vertrieben worden. Im März 1946 kamen Großmutter, Mutti und ich, damals gerade mal fünf Jahre alt, mit Hilfe der Amerikaner von Österreich in eine kleine Ortschaft nach Baden-Württemberg. Nicht besonders erwünscht waren wir hier. Verständlich, mussten die Einheimischen doch mit uns teilen und Wohngelegenheiten zur Verfügung stellen. Die auf den Lebensmittelkarten erwähnten Nahrungsmittel gab es nur auf dem Papier und oft war der Hunger sehr groß. Man versorgte sich vorwiegend aus der Natur: Beeren, Pflanzen, Wurzeln und Pilzen.
 
Ich erinnere mich, dass wir wieder einmal an einem sehr warmen Septembertag 1946 im Wald unterwegs waren, um Pilze zu sammeln. Aber es gab noch mehr hungrige Mitmenschen und wir fanden nichts. Mein Magen knurrte bedrohlich und ich weinte.
Resolut meinte Großmutter: „Mir nach!“
Geschwind steuerte sie einen neben der zerstörten Bahnlinie liegenden Acker an.
Muttis Einwand: „Mutter, lass das!“, ignorierte Großi konsequent.
Schnell eilte die alte Frau zu einer etwas innen liegenden Kartoffelreihe und bückte sich. Schon hatte sie das bereits herbstlich gefärbte Blattwerk herausgezogen und wühlte mit den Händen im Erdreich. Gleich darauf flogen die ersten Früchte ins nahe Gras. Mit einer aufmunternden und drängenden Gebärde verlangte Großmutter, dass wir die Erdäpfel auflesen sollten. Noch ein zweiter Kartoffelstock musste daran glauben, damit wir wenigstens ein oder zwei Mahlzeiten davon zehren könnten, denn Onkel und Vati waren seit kurzem aus der Gefangenschaft zu uns gekommen. Anschließend steckte Großmutter das Kraut wieder in die Erde, damit man das Fehlen nicht sofort bemerken konnte.
Plötzlich hörten wir das Gerumpel eines Fahrzeugs und das Hü und Hott des Bauern. Wir rannten durch den nahen Wald. In den viel zu großen Gummistiefeln, richtige Schuhe gab es damals nicht, rutschte ich ständig aus und fiel oft hin. Hastig wurde ich von Mutti wieder hoch gezogen und weiter ging die Flucht, Großmutter mit der Beute vornweg, gefolgt von mir, während Mutti das Schlusslicht bildete.
Die Zweige des Unterholzes peitschten mir das Gesicht und die nackten Arme und Beine. Durch die Dornen der Brombeerruten war ich übersät mit roten und blutigen Striemen, die sofort stark zu schmerzen begannen.
Als wir weit genug entfernt waren, hielten wir heftig atmend an und versuchten zur Ruhe zu kommen. Der Himmel meinte es gut mit uns, denn wir fanden auch noch einige Pilze, mit denen wir das Diebesgut überdecken konnten.
 
Drei Jahre später im Kommunionsunterricht lehrte uns der Pfarrer die Zehn Gebote.
Beichten, liebe Kinder, hieß es, denn ihr dürft nur ohne Sünde vor den Herrn treten, um seinen Leib in Form der Hostie zu empfangen.
Aber der Gemeindepfarrer kannte uns alle bereits an der Stimme. Wie konnte ich da beichten?
 
Am Weißen Sonntag, Mutti hatte aus alten Sachen ein Kleidchen genäht und die Eltern sich das Geld für Kerze, Krönchen, Strumpfhose und Schuhe vom Mund abgespart, litt ich sehr. Mir war schwindlig und schlecht. Ich sah mich in der Hölle schmoren, denn unser Hirte hatte uns das im Falle einer nicht gebeichteten Sünde, bildhaft dargestellt.
 
Auch im späteren Religionsunterricht überlief mich jedes Mal beim Du sollst nicht stehlen ein kalter Schauer.
Selbst als junge Frau, mittlerweile der evangelischen Kirche beigetreten, dachte ich noch oft an die damalige Sünde. Wie dankbar bin ich, dass es in meinem  weiteren Leben, wenn auch oft Not herrschte, doch immer für das tägliche Brot reichte.

Heidi Gotti

Auch unter http://www.velkd.de/downloads/Unser_taeglich-Brot-Geschichte31_Schnell_1.pdf  zu lesen.

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