Verbotene Liebe

ALHAMBRA - prangte in großen, goldenen Buchstaben über dem Eingang des feudalen, im maurischen Stil erbauten Hotels, dessen Halle die junge Frau eben betreten hatte, um sich den Schlüssel an der Rezeption geben zu lassen.
In einem Preisausschreiben hatte Antje diesen Aufenthalt in Berlin gewonnen, den sie sich finanziell nie hätte leisten können.
Eigentlich wollte sie auf ihr Zimmer, denn sie war von den vielen neuen Eindrücken sehr müde. Aber irgendetwas zog sie magisch in die angrenzende Hotelbar.
Ein einziger Gast saß am Tresen und blickte traurig auf seinen Whisky, der direkt vor ihm stand. Trotz weit geöffneter Augen schien er das Getränk nicht wahrzunehmen.
Wie schön, dachte Antje, schwarzes Haar und blaue Augen.
Sie selbst kam sich, blond und grauäugig, sehr unscheinbar und gewöhnlich vor.
Die junge Frau wollte, nachdem sie Platz genommen hatte, einen Cocktail und entschied sich für eine BLOODY MARY.
Wieder ging ihr Blick zu dem jungen Mann auf dem Barhocker.
Er musste es gefühlt haben, denn plötzlich wandte er den Kopf und sah sie an.
Wie magisch durch ein unsichtbares Band angezogen und bevor ein Wort gefallen war, saßen die beiden Menschen nebeneinander.
Nach längerem Schweigen erfuhr Antje, dass Dirk Petersen, wie er sich vorgestellt hatte, beruflich in Berlin zu tun hatte. Erstaunt stellten beide fest, dass sie in Hamburg wohnten.
Nachdem Antje dem fremden Mann, entgegen ihres sonstigen Misstrauens, ihre Telefonnummer gegeben hatte, beschlossen sie, sich daheim erneut zu treffen.

Bald hatte Antje, die als Verkäuferin in einer Boutique arbeitete, der Alltag wieder eingeholt. Trotzdem spukte der gut aussehende Mann mit den schönen blauen Augen immer noch in ihren Gedanken herum. Vor allen Dingen nachts, wenn sie einsam im Bett lag, sehnte sie sich nach ihm und in ihren Träumen war er bereits als heißblütiger Liebhaber präsent.
Dieser Abend hatte ihr Leben irgendwie verändert.

Auch Dirk war im Krankenhaus als Chirurg mehr als ausgefüllt. Der kleine Rest Freizeit, gehörte seiner Frau und dem kleinen Sohn. Eigentlich hätte er ein schlechtes Gewissen haben müssen, denn was seine VERGNÜGUNGEN anbetraf, war er keineswegs prüde. Ob Alma, sein ihm angetrautes Weib, dem er die Treue geschworen hatte, das wohl wusste? Oft fragte er sich das, um das unangenehme Gefühl dann schnellstens wieder zu verdrängen. Es funktionierte alles hervorragend. Daheim sorgte die Putzfrau für Sauberkeit und der luxuriöse Bungalow mit dem attraktiven Pool zeugten von einem gewissen Wohlstand. Das Essen, von der Ehefrau zubereitet, schmeckte hervorragend und auch Gäste wurden immer ausgezeichnet bewirtet. Wenn eine Veranstaltung stattfand, stand seine Gattin, in einer standesgemäßen Garderobe mit dem passenden Schmuck, an seiner Seite und beteiligte sich dezent an der Konversation. Trotzdem waren sie sich seit einiger Zeit so fern und … wann hatten sie das letzte Mal miteinander geschlafen? Dirk konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sicher liebte er Alma noch, aber dieses berauschende Gefühl und das Verlangen waren längst verloren gegangen.

Als er eines Tages, auf dem Weg zur Arbeit, seinen Anzug in die Reinigung bringen wollte, fiel der Zettel mit Antjes Telefonnummer aus der Jackett-Tasche. Sofort sah er die sympathische und hübsche Frau vor sich. Um gleich von ihrer warmen Stimme verzaubert zu werden, wählte er spontan diese Ziffern. Das Kribbeln, das er bereits in Berlin verspürt hatte, breitete sich in seinen Lenden aus und ließ seine Stimme mehr als belegt klingen. Dass ihm, dem abgebrühten Schwerenöter, das passieren musste ...
Lange sinnierte er noch darüber nach.
Überrascht und auch glücklich, stimmte Antje einem Treffen zu, dem noch viele folgten.
Sie liebten sich von Tag zu Tag mehr, versanken ineinander und genossen einen Höhepunkt nach dem anderen.
Als Antje schwanger wurde schien alles perfekt.
Natürlich wollten sie heiraten und Dirk machte sich auf die Suche nach einer passenden Wohnung. Dass er sich von seiner Frau scheiden lassen würde, war doch mehr als selbstverständlich, denn dieses Mal war es etwas anderes, als diese Geplänkel mit den Schwestern in der Klinik. Es war eine tiefe Liebe entstanden und kaum getrennt, fieberte er einem erneuten Beisammensein entgegen. Trotzdem blieb ein schlechtes Gewissen und manchmal hatte der junge Mann riesige Angst, dieses neue, große Glück könne zerplatzen wie eine Seifenblase. Es war das Gefühl einer Bedrohung, das er sich nicht erklären konnte.
Hing das mit seiner Noch-Ehe zusammen? Er sollte es Alma schnellstens sagen. Aber in dieser Beziehung hatte den Aufschneider der Mut verlassen und er schob es von einem Tag auf den anderen. Es war für Antje bereits ein Schock gewesen, zu erfahren, dass er nicht frei war und ihr Blick war mehr als vorwurfsvoll gewesen. Ihre Tränen und dieses leise Leiden gruben sich fest in seine Seele ein.
Trotzdem befand sich auch Antje in einem Rausch der Emotionen. Wie liebte sie diesen Mann. Zärtlich dachte sie an das werdende Leben in ihrem Körper.

Dirk hatte das Standesamt aufgesucht, um sich zu erkundigen, wie das mit einer schnellen Scheidung und Heirat gehen würde. Heutzutage kein Problem, wurde ihm erklärt, wenn seine Partnerinnen damit einverstanden sein würden. Immer noch graute es Dirk davor, seiner Frau reinen Wein einschenken zu müssen.
Nach mehreren Besuchen bei der zuständigen Behörde, rief er eines Tages überraschend bei seiner zukünftigen Frau an.
Kühl klang seine Stimme: „Antje, bitte frag nicht und reg dich auch nicht auf. Aber ich kann dich nicht heiraten. Vergiss mich einfach!“
Eine eiskalte Hand griff nach Antjes Herzen, dass sie dachte, es würde augenblicklich stehen bleiben. Der Schreck fuhr in ihre Glieder und ließ sie kraftlos zu Boden sinken.
„Und“, fuhr Dirk geschäftsmäßig fort, „das Kind musst du wegmachen lassen. Geh zu Dr. Eckert in der Nemostraße 10. Ich werde dort Bescheid geben. Natürlich übernehme ich alle Kosten!“
Das war es! Ein Klick und die Verbindung war beendet.
Antje kam nicht mehr zu Wort.
Zitternd saß sie auf dem Teppich und versuchte ihr heftig schlagendes Herz zu mäßigen. Oft hatte sie von der Panik junger Väter gehört und gelesen, deren Angst, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Warum musste das ausgerechnet auch ihr passieren? Seltsam trotzdem, denn Dirk hatte doch bereits ein Kind … Oder hatte er sich letztendlich für Frau und Sohn entschieden? Nur – warum sollte sie das Baby abtreiben? Das verstand sie nun überhaupt nicht.
Er wird sich schon wieder beruhigen, dachte die werdende Mutter, liebevoll über ihren gerundeten Leib streichend.
Als kein weiterer Anruf folgte, versuchte sie ihrerseits, Verbindung aufzunehmen. Aber am Handy war nur die Mailbox zu erreichen und in der Klinik war Herr Dr. Petersen nicht zu sprechen.
Trotz erwachte in Antje.
Dann würde sie ihr Kind eben alleine aufziehen, beschloss sie bockig. Solle er doch zum Teufel gehen!
Mittlerweile bewegte sich die Kleine schon in ihrem Bauch. Dass es eine SIE würde, hatte Antje auf dem Ultraschall bewundern dürfen.
Bevor sie noch unbeweglicher würde, wollte die junge Frau sich an einem sonnigen Wochenende eine Radtour gönnen. Es brachte nichts, alleine und traurig daheim zu sitzen.
An der Alster entlang, führte die beschauliche Fahrt. Auf dem Fluss war ganz schön was los. Abgelenkt durch ein Ruderboot, in dem ein junges Paar sich eben küsste, kam Antje vom Weg ab und stürzte die Böschung hinunter ins Gebüsch.
Bewusstlos lag sie eine ganze Weile dort unten, über sich das Zweirad.
Zu sich gekommen, rief sie laut um Hilfe.
Ein älterer Mann fand die Verunglückte und telefonierte sofort nach Notarzt und Rettungswagen.
„Nein, nicht in diese Klinik“, schrie Antje in ihrer Panik, als sie den Namen des Krankenhauses vernahm, in dem ihr Verflossener arbeitete. Dirk wollte sie auf keinen Fall begegnen.
Die Ärzte konnten die Blutungen nicht mehr stoppen und Antje verlor ihr Kind.
Apathisch lag sie im Bett und auf die Frage, wen man verständigen solle, rastete sie fast aus, bei dem Gedanken, Dirk könne von ihrem Unglück erfahren.
Obwohl die junge Frau bald wieder auf den Beinen war und ihrer Arbeit nachging, glich sie einem Schatten ihrer selbst. Depressive Phasen folgten auf traurige Tage und sie fühlte sich müde und uralt.
Antje wusste, dass es so nicht weitergehen könne und beschloss einen Tapetenwechsel. Alles was an Dirk erinnerte, war in die Mülltonne gewandert. Aber was sollte sie mit dem Nachlass der vor einem Jahr verstorbenen Eltern machen?
Sie fing zu sortieren an und fand Liebesbriefe der beiden. Gefühle las sie aus den Zeilen, die ihr selbst nur zu bekannt waren. Zwischen rosa Briefpapier entdeckte sie gelbe Seiten in einer ihr unbekannten Handschrift. Sie bemerkte, dass sie an ihren Vater gerichtet waren und sie kamen von einer fremden Frau.
Fassungslos erfuhr Antje von der Geliebten ihres Erzeugers und deren Kind. Ob Mutter von dem Betrug erfahren hatte?
Irgendwo auf der Welt lebte also ihr Halbbruder! Neugierig musste sie Genaueres wissen. Als sie einen weiteren Brief entdeckte, konnte sie den Absender darauf entziffern.
SILKE PETERSEN!
Der Boden wurde Antje unter den Beinen weggezogen und in ihrem Kopf dröhnten tausend Presslufthammer. Immer lauter und lauter, bis ihr schwarz vor Augen wurde. Es war eine gnädige Ohnmacht! Als sie nach einiger Zeit wieder zu sich kam, ging es ihr so schlecht, dass sie niemanden sehen wollte.
Viele Tage, an denen sie sich im Geschäft krank gemeldet hatte, dauerte es, bis die junge Frau diese Neuigkeit verarbeitet hatte.
Deshalb also dieses Band, das sie sofort zu Dirk hingezogen hatte.
Sie musste sich Gewissheit verschaffen, die sie schwarz auf weiß im Rathaus der Stadt, im Geburtenregister erfuhr. Es bestand kein Zweifel mehr!
Spontan beschloss sie, ihren Halbbruder aufzusuchen.
Mit dem Taxi fuhr sie in die Klinik und rannte wie gehetzt den langen Flur entlang. Sie durfte nicht stehen bleiben, sonst würde ihr der Mut fehlen, das wusste sie. Als ihr schwindlig wurde, lehnte sie sich an die Wand und die Aufregung drohte ihr die Sinne zu rauben.
Die Worte einer Krankenschwester: „Geht es ihnen nicht gut?“, rissen sie aus diesem Zustand der Betäubung.
Zu einer Kollegin meinte die Schwester: „Hol’ Dr. Petersen!“
Bevor Antje noch protestieren konnte, war diese bereits weg.
Dann war ER da und Antjes Körper begann zu vibrieren. Starke Arme umfingen die junge Frau und Dirk führte seine ehemalige Geliebte in sein Zimmer. Dort saßen sich die beiden Menschen in der Sitzecke gegenüber.
Zwei Augenpaare blickten sich vertrauensvoll an.
Leise meinte Antje: „Ich weiß nun Bescheid. Warum …?!“
„Entschuldige“, erklärte Dirk traurig, „dass ich dich damals so im Stich ließ. Ich war zu geschockt, als ich diese Nachricht auf dem Standesamt erfuhr. Konnte das alles nicht glauben, wollte es auch nicht wahrhaben, fühlte mich so hilflos. Feige war ich, weil ich Angst hatte, in deiner Nähe schwach zu werden. Ich liebte dich mehr als mein Leben! Dann noch das Kind … Als Arzt weiß ich, dass es nicht sein darf! Was ist aus ihm geworden? Warum warst du nicht bei Dr. Eckert?“
„Es ist alles gut“, tröstete Antje traurig ihr Gegenüber. „Ich verlor das Baby durch einen Unfall, denn das Schicksal fügte es so. Sehr niedergeschlagen war ich damals, weil es doch das einzige Band zu dir, meiner großen und einzigen Liebe war. Und nun, da ich alles weiß, finde ich, dass es so sein musste. Wir haben ungewollt gesündigt und können froh sein, dass es so ausging.“
Die Geschwister hielten sich bei den Händen und wussten, dass sie beisammen bleiben würden, wenn auch auf eine andere Art als geplant.
Mit seiner Frau hatte Dirk ein langes Gespräch. Sie hatten Frieden miteinander geschlossen. Alma hatte ihm verziehen, vergessen würde sie diesen Vertrauensbruch nie.
Vielleicht könnte bei einem Neuanfang die verlorene Liebe wiederkehren, denn die Hoffnung stirbt zuletzt.

Heidi Gotti