Das Weihnachtswunder

Wie ein Schatten ihrer selbst saß Brigitte in ihrer armseligen Kammer. Ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Schrank, ein kleines Regal füllten das winzige Zimmer aus, das die junge Frau bewohnte. Daneben gab es noch eine dürftige Kochecke mit einem Mini-Spültisch.

Es war Heiliger Abend. Ihre Gedanken schweiften zehn Jahre zurück. Damals war sie hochschwanger auf dem Weg nach Hause gewesen. Unterwegs hatten die Wehen eingesetzt. In einem Hauseingang war ihre kleine Tochter zur Welt gekommen. Viel Blut hatte die damals Sechzehnjährige bei der Geburt verloren, zu viel. Als die Ambulanz, die von den Anwohnern gerufen worden war, eintraf, war Brigitte nicht mehr ansprechbar. Das Baby wurde von einer Passantin, die es schnell in ihren Schal gewickelt hatte, in die Kinderklinik gebracht. Da sie es einig hatte, drückte sie das Kind der ersten Schwester, die ihr über den Weg lief, in den Arm.

Die junge Frau nahm in einem anderen Krankenhaus den Kampf um ihr Leben auf. Wochenlang lag sie im Koma und als sie wieder zu sich kam, war die Erinnerung an ihre Identität wie weggeblasen. Aber sie fragte nach ihrem Kind. Elvira nannte sie die Kleine, obwohl sie nur vom Gefühl her sagen konnte, dass es sich um ein Mädchen handelt. Doch niemand wusste etwas über ein Neugeborenes. Die gerufenen Sanitäter hatten nur die schwer blutende Frau vorgefunden und hatten sich keine Gedanken darüber gemacht, wo das Baby geblieben sein könnte.

Es folgten Tage, Wochen, Monate und Jahre des Suchens. Den Vater ihres Kindes konnte sie ebenfalls nicht mehr ausfindig machen. Das Schicksal des Babys, dessen Herkunft im Dunkeln lag, war zwar damals durch alle Zeitungen gegangen, zu diesem Zeitpunkt aber war Brigitte so krank gewesen, dass sie nichts davon mitbekommen hatte. Eltern hatte sie keine mehr, die waren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Darum hatte auch niemand die junge Frau als vermisst gemeldet.
Entmutigt musste Brigitte irgendwann aufgeben, sonst wäre sie daran zerbrochen. Langsam begann sie ein neues Leben. Da sie ohne Papiere unterwegs gewesen war und sich weder an ihren Namen noch an ihre Anschrift erinnern konnte, musste sie akzeptieren, dass sie vor dem Nichts stand. Durch Vermittlung des Frauenhauses erhielt sie wenigstens einen neuen Ausweis und eine Anstellung in einem Supermarkt.
Als Verkäuferin verdiente sie so viel, dass es eben reichte. Die Sehnsucht nach ihrer kleinen Elvira führte sie oft in die Kirche. Sie zündete eine Kerze an und bat inbrünstig, Gott möge sie mit ihrem Kind vereinen. In den Nächten wälzte sie sich ruhelos in ihren Kissen und fragte sich, wie es ihrem Kind wohl jetzt gehe.

Von der nahen Kirche St. Michael riefen die Glocken an diesem Heiligen Abend alle Menschen zum Gottesdienst. Auch Brigitte folgte dem Ruf wie magisch angezogen. Sie betrat das festlich geschmückte Gotteshaus.

Die Kinder vom Kinderheim St. Elisabeth waren schon richtig aufgeregt. Seit Wochen hatten sie das Krippenspiel geübt, das sie am heutigen Tag im Haus des Herrn zeigen sollten. Beim letzten Glockenton zogen sie in das Gotteshaus ein.
Als nun die Vorführung begann, stellte Brigitte mit Tränen in den Augen fest, dass ihre Kleine am heutigen Tag zehn Jahre alt sein müsste. Aber wo war ihr Kind? Das Verlangen schnürte ihr die Brust zu.
Eben zogen Josef und Maria auf ihrer Herbergssuche die Stufen zum Altar hinauf. Der weite blaue Umhang umhüllte die zarte Gestalt des Mädchens. Als die Kapuze des Gewandes nach hinten rutschte, griff eine eiskalte Hand nach Brigittes Herz. Heiße Wellen durchliefen ihren Körper. Ihr Ebenbild stand dort vorne und bekam das Jesuskind in die Arme gelegt.
Schluchzend wankte die junge Mutter zum Altar. Der Pfarrer fing sie auf, sonst wäre sie zusammengebrochen. Natürlich erkannte er, ebenso wie alle anderen Gläubigen, die Ähnlichkeit zwischen dem Kind und der weinenden Frau.
Im Waisenhaus wusste man nur, dass das Findelkind in der Christnacht geboren worden war, und man hatte das Mädchen deshalb Christel genannt.
Mutter und Tochter lagen sich in den Armen und das Dankgebet der Menschen erfüllte das Gotteshaus.

Es war das schönste Weihnachtswunder, das die Stadt je erlebt hatte. Es musste Fügung sein, dass Brigitte in der Nähe von Heim und Kirche ihre neue Bleibe gefunden hatte und dass sie diesem Gottesdienst – wie magisch angezogen – beiwohnte.

Heidi Gotti

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