Brüder Grimm

Die Brüder Grimm

Jakob Ludwig Karl Grimm wurde am 4.1.1785 in Hanau geboren,
sein Bruder Wilhelm Karl Grimm am 24.2.1786 am gleichen Ort.
Der Vater war Jurist. Die ersten Jahre ihrer Jugend lebten die Kinder in Steinau, besuchten dann das Lyzeum in Kassel. Seit 1829 bzw. 1839 waren sie Professoren in Kassel. Aufgrund ihrer Teilnahme am Protest der "Göttinger Sieben" wurden sie des Landes verwiesen. Seit etwa 1840 lebten beide in Berlin. Jakob Grimm starb am 20.9.1863 in Berlin,
sein Bruder am 16.12.1859 am gleichen Ort.

Allerleirauh

Der Hirt auf dem Kyffhäuser

Hänsel und Gretel

Märchen von der Unke

Die zwölf Brüder

Rumpelstilzchen

Simeliberg

Die sieben Schwaben

Rotkäppchen

Der Geist im Glas

Die Sterntaler

Rapunzel

Der Bärenhäuter

Die Gänsemagd

Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Die drei Federn

Frau Holle

Das Lämmchen und Fischchen

Der gläserne Sarg

Aschenputtel

Der Teufel und seine Großmutter

Die zertanzten Schuhe

Jorinde und Joringel

Das Wasser des Lebens

Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich

Die drei Faulen

Attalus, der Pferdeknecht, und Leo, der Küchenjunge

Die zwölf Jäger

Schneeweißchen und Rosenrot

Der alte Sultan

Die sechs Schwäne

Das tapfere Schneiderlein

Sechse kommen durch die ganze Welt

Der Fischer und seine Frau

Die Wichtelmänner

Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein

Der süße Brei

Das Mädchen ohne Hände

Der Jude im Dorn

Die kluge Gretel

Schneewittchen

Die weiße Schlange

Das Tränenkrüglein

Die goldene Gans

Brüderchen und Schwesterchen

Die Kornähren

Der treue Johannes

Fundevogel

Das Hirtenbüblein

Die Bremer Stadtmusikanten

Bruder Lustig

Strohhalm, Kohle und Bohne

Der Wolf und die sieben jungen Geißlein

Die drei Brüder

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren

Die sieben Raben

Daumesdick

Der Arme und der Reiche

Die drei Männlein im Walde

Hans im Glück

Der Frieder und das Catherlieschen

Die Spinnerin am Flachsfeld

Dornröschen

Der Meisterdieb

Die Rübe

Das Lumpengesindel

Die Eule

Der Gevatter Tod

Die vier kunstreichen Brüder

König Drosselbart

Der Fuchs und die Gänse

Tischlein deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack

Der Zaunkönig

Großvater und Enkel – Nach Grimm

Der Krautesel

Doktor Allwissend

Der Schneider im Himmel

Von dem Tode des Hühnchens

Der Wolf und der Fuchs

Muttergottesgläschen

Im Schlaraffenlande

Eine spaßhafte Geschichte von den Fröschen

Die Haselrute

Allerleirauh

Ein König hatte eine Frau mit goldenen Haaren.
Sie war so schön, dass sich ihresgleichen nicht auf Erden fand. Aber eines Tages wurde sie krank, und als sie fühlte, dass sie sterben musste, rief sie den König und sprach: "Wenn du dich nach meinem Tode wieder vermählen willst, so nimm keine Frau zur Gemahlin, die nicht ebenso schön ist wie ich und die nicht solch goldene Haare hat wie ich. Das musst du mir versprechen." Nachdem es ihr der König zugesagt hatte, schloss sie die Augen und starb.
Lange Zeit war der König nicht zu trösten und dachte nicht daran, eine zweite Frau zu nehmen. Endlich sprachen seine Räte: "Es geht nicht anders, der König muss sich wieder vermählen, damit wir eine Königin haben." Also wurden Boten weit und breit umhergeschickt, eine Braut zu suchen, die an Schönheit der verstorbenen Königin gleichkam. Es war aber keine in der ganzen Welt zu finden, und wenn man sie auch gefunden hätte, so gab es doch keine, die solch goldene Haare gehabt hätte. Daher kamen die Boten unverrichteter Sache wieder heim.
Nun hatte der König eine Tochter, die gerade so schön war wie ihre verstorbene Mutter und auch solch goldene Haare hatte. Als sie herangewachsen war, sah sie der König einmal an und erkannte, dass sie in allem seiner verstorbenen Gemahlin ähnlich war, und fühlte plötzlich eine heftige Liebe zu ihr: Da sprach er zu seinen Räten: "Ich will meine Tochter heiraten, denn sie ist das Ebenbild meiner verstorbenen Frau, sonst kann ich doch keine finden, die ihr gleicht."
Als die Räte das hörten, erschraken sie und sprachen: "Gott hat es verboten, dass der Vater seine Tochter heiratet. Aus solcher Sünde kann nichts Gutes entstehen, und das Reich wird dadurch ins Verderben gezogen." Noch mehr erschrak die Tochter des Königs, als sie den Entschluss ihres Vaters vernahm, doch hoffte sie, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
"Vater", sagte sie zu ihm, "ehe ich deinen Wunsch erfülle, muss ich erst drei Kleider haben, eines so golden wie die Sonne, eines so silbern wie der Mond und eines so glänzend wie die Sterne. Dazu verlange ich noch einen Mantel von tausenderlei Pelz und Rauwerk, und ein jedes Tier in deinem Reich muss ein Stück von seiner Haut dazugeben. "Im Innern ihres Herzens glaubte sie, dass das dem König unmöglich sei und sie ihn damit von seinen bösen Gedanken abbringen könne. Der König wurde aber nicht anderen Sinnes. Die geschicktesten Jungfrauen in seinem Reiche musste die drei Kleider weben, eines so golden wie die Sonne, eines so silbern wie der Mond und eines so glänzend wie die Sterne, und seine Jäger mussten alle Tiere im ganzen Reiche einfangen und ihnen ein Stück von ihrer Haut abziehen. Daraus wurde ein Mantel von tausenderlei Rauwerk gemacht. Endlich, als alles fertig war, ließ der König den Mantel holen, breitete ihn vor seiner Tochter aus und sprach: "Morgen soll die Hochzeit sein."
Als die Königstochter erkannte, dass keine Hoffnung mehr war, ihres Vaters Herz zu wenden, fasste sie den Entschluss, zu entfliehen. In der Nacht, während alles schlief, stand sie auf und nahm von ihren Kostbarkeiten dreierlei mit: einen goldenen Ring, ein goldenes Spinnrädchen und eine goldene Haspel. Die drei Kleider von Sonne, Mond und Sternen tat sie in eine Nussschale, zog den Rauwerkmantel an und machte sich Gesicht und Hände schwarz mit Ruß. Dann befahl sie sich Gott anheim und ging fort und ging die ganze Nacht, bis sie in einen großen Wald kam. Und weil sie müde war, setzte sie sich in einen hohlen Baum und schlief endlich ein.
Die Sonne ging auf, und sie schlief fort und schlief noch immer, als es schon hoher Tag war. Da trug es sich zu, dass gerade um diese Zeit der König des Landes, in das sie bei ihrer Flucht gekommen war, in diesem Walde jagte. Als seine Hunde zu dem Baum kamen, schnupperten sie, liefen ringsherum und bellten.
"Seht doch", sprach der König zu seinen Jägern, "was sich dort für ein Wild versteckt hat."
Die Jäger gehorchten dem Befehl, und als sie zurückkehrten, sprachen sie: "Herr König, in dem hohlen Baum liegt ein wunderliches Tier, wie wir noch nie eines gesehen haben. Es hat eine Haut wie von tausenderlei Pelz, doch liegt es und schläft."
"Seht zu, ob ihr's lebendig fangen könnt", befahl der König, "dann bindet es auf einem Wagen fest und bringt es mit."
Als die Jäger das Mädchen anfassten, erwachte es voll Schrecken und rief ihnen zu: "Erbarmt euch meiner und nehmt mich mit. Ich bin ein armes Kind, von Vater und Mutter verlassen."
Da sprachen sie: "Allerleirauh, du bist gut für die Küche. Komm nur mit, da kannst du die Asche zusammenkehren." Darauf setzten sie es auf einen Wagen und fuhren mit ihm ins königliche Schloss. Dort wiesen sie ihm ein Ställchen zu, das unter der Treppe lag und wo kein Tageslicht hinkam und sagten: "Rautierchen, hier kannst du wohnen und schlafen." Danach schickten sie es in die Küche, und dort trug es Holz und Wasser, schürte das Feuer, rupfte das Federvieh, kehrte die Asche und verrichtete alle schlechte Arbeit.
Lange Zeit lebte Allerleirauh recht und schlecht und ärmlich dahin. Einmal aber geschah es, dass man ein Fest im Schoss feierte. Da sprach es zum Koch: "Darf ich ein wenig hinaufgehen und zusehen? Ich will mich außen vor die Ture stellen." "Ja, geh nur hin", antwortete der Koch, "aber in einer halben Stunde musst du wieder hier sein und die Asche zusammenkehren." Sie nahm ihr Öllämpchen, ging in ihr Ställchen, zog den Pelzrock aus und wusch sich den Ruß vom Gesicht und von den Händen, so dass ihre ganze Schönheit wieder an den Tag kam. Dann öffnete sie die Nuss und holte das Kleid hervor, das golden war wie die Sonne. Danach ging sie hinauf zum Fest, und alle traten ihr aus dem Weg, denn niemand kannte sie, und wer sie sah, war der Meinung, das müsse eine Königstochter sein. Sogleich kam ihr der König entgegen, reichte ihr die Hand und tanzte mit ihr und dachte in seinem Herzen: "So schön haben meine Augen noch keine Frau gesehen." Als der Tanz zu Ende war, verneigte sich Allerleirauh, doch als sich der König umsah, war sie verschwunden, und niemand wusste wohin. Die Wächter, die vor dem Schlosse standen, wurden gerufen, aber keiner von ihnen hatte sie hinausgehen sehen.
Sie war in ihr Ställchen gelaufen, hatte geschwind ihr Kleid ausgezogen, Gesicht und Hände schwarz gemacht und den Pelzmantel umgetan und war wieder Allerleirauh, wie sie der Koch und die Diener kannten. Als sie in die Küche kam und die Asche zusammenkehren wollte, sprach der Koch: "Lass das gut sein bis morgen und koche mir lieber die Suppe für den König. Ich will auch einmal ein bisschen oben zugucken. Doch lass mir kein Haar in die Suppe fallen, sonst kriegst du in Zukunft nichts mehr zu essen." Darauf ging er fort, und Allerleirauh kochte die Suppe für den König. Als die Suppe fertig war, holte Allerleirauh den goldenen Ring, den sie von zu Hause mitgenommen hatte und legte ihn in die Schüssel, in der sie die Suppe anrichtete. Der König ließ sich die Suppe bringen, und sie schmeckte ihm so gut, dass er meinte, niemals eine bessere Suppe gegessen zu haben. Plötzlich sah er auf dem Grund der Schüssel den goldenen Ring und konnte nicht begreifen, wie er dorthin geraten war. Er befahl den Koch zu sich. Als der Koch den Befehl hörte, erschrak er sehr und sprach zu Allerleirauh: "Gewiss hast du ein Haar in die Suppe fallen lassen. Wenn dem so ist, erhältst du Schläge." Dann eilte er hinauf zum König. "Wer hat die Suppe gekocht?" fragte der König. "Ich", antwortete der Koch. Der König aber sprach: "Das ist nicht wahr, Bursche, denn die Suppe war auf andere Art und viel besser gekocht als sonst."
"Ich muss es gestehen", erwiderte der Koch, "dass ich sie nicht gekocht habe, sondern das Rauhtierchen."
Darauf entgegnete der König: "Geh und lass das Tierchen kommen."
Als Allerleirauh kam, fragte der König: "Wer bist du?"
"Ich bin ein armes Kind, das keinen Vater und keine Mutter mehr hat."
Da fragte er weiter: " Wozu bist du in meinem Schloss?"
Darauf antwortete das Mädchen: "Ich bin zu nichts gut, als dass mir die Stiefel um den Kopf geworfen werden." "Und wo hast du den Ring her, der in der Suppe war?", forschte der König.
"Von dem Ringe weiß ich nichts", erwiderte Allerleirauh.
Der König konnte also nichts erfahren und musste das Mädchen wieder fortschicken.
Nach einiger Zeit gab es wieder ein Fest, und wieder bat Allerleirauh den Koch um Erlaubnis, zusehen zu dürfen. "Geh hinauf, aber komme in einer halben Stunde wieder und koch dem König die Suppe, die er so gern isst", sagte der Koch. Da lief das Mädchen in sein Ställchen, wusch sich eilig und nahm aus der Nuss das Kleid, das so silbern war wie der Mond und zog es an. Dann ging es hinauf in den Saal und glich einer Königstochter. Der König trat ihr entgegen und freute sich, dass er sie wiedersah. Weil gerade der Tanz begann, so tanzten sie zusammen. Als aber der Tanz zu Ende war, verschwand sie wieder so schnell, dass der König nicht erraten konnte, wo sie hingegangen war. Sie war in ihr Ställchen geeilt, hatte sich wieder in das garstige Rauhtierchen verwandelt und ging darauf in die Küche, um des Königs Suppe zu kochen. Der Koch war inzwischen in den Saal gegangen, um dem Feste zuzuschauen. Allerleirauh holte das goldene Spinnrädchen und tat es in die Schüssel, in der sie die Suppe anrichtete. Danach wurde dem König die Suppe gebracht. Er aß sie, und sie schmeckte ihm so gut wie das vorige Mal. Wieder ließ er den Koch kommen, und er musste auch dieses Mal gestehen, dass Allerleirauh die Suppe gekocht habe. Zum zweiten Mal befahl er sie vor sich, aber wieder antwortete sie: "Ich bin zu nichts anderem gut, als dass mir die Stiefel an den Kopf geworfen werden", und fügte hinzu, dass sie von dem goldenen Spinnrädchen, das der König auf dem Grund der Schüssel gefunden hatte, gar nichts wisse.
Als der König zum dritten Mal ein Fest feiern ließ, ging es nicht anders zu als die beiden Male zuvor. Allerleirauh bat den Koch, er möge sie doch wieder in den Saal hinaufgehen lassen. "Du bist eine Hexe, Rauhtierchen", sagte der Koch, "und tust immer etwas in die Suppe, dass sie so gut wird und dem König besser schmeckt als die meine, doch weil du es bist, so will ich dich gehen lassen."
Allerleirauh zog danach das Kleid an, das wie die Sterne glänzte und betrat damit den Saal. Wieder tanzte der König mit der schönen Jungfrau und dachte, dass sie noch niemals so schön gewesen sei. Während er aber mit ihr tanzte, steckte er ihr, ohne dass sie es bemerkte, einen goldenen Ring an den Finger. Außerdem hatte er befohlen, dass der Tanz recht lange währen solle. Doch einmal ging auch dieser Tanz zu Ende. Er wollte sie an den Händen halten, aber sie riss sich los und sprang so geschwind unter die Leute, dass er sie aus den Augen verlor. So schnell sie konnte, lief sie in ihr Ställchen unter der Treppe; weil sie aber zu lange im Saal geblieben war, konnte sie ihr schönes Kleid nicht mehr ausziehen. Sie hüllte sich in den Mantel von Pelz, und in der Eile machte sie sich auch nicht ganz rußig, und gerade der Finger, an den ihr der König den goldenen Ring gesteckt hatte, blieb weiß. Allerleirauh lief nun in die Küche, kochte dem König eine Suppe und legte, als der Koch nach oben gegangen war, die kleine goldene Haspel in die Schüssel hinein. Als der König die Haspel fand, ließ er das Mädchen zu sich rufen. Da erblickte er den weißen Finger und bemerkte an ihm den Ring, den er dem Mädchen beim Tanze angesteckt hatte. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest, und als sich Allerleirauh losmachen und fort springen wollte, öffnete sich der Pelzmantel ein wenig, und das Sternenkleid schimmerte hervor. Da fasste der König den Mantel und zog ihn ihr von den Schultern. Mit einem Mal kamen ihre goldenen Haare hervor, und sie stand da in ihrer ganzen Schönheit und konnte sich nicht länger verbergen. Und als sie Ruß und Asche aus ihrem Gesicht gewischt hatte, war sie schöner als alle Frauen auf der Erde.
Darauf sprach der König: "Du sollst meine liebe Braut sein, und niemand mehr soll uns voneinander scheiden." Bald danach feierte der König Hochzeit mit Allerleirauh, und sie lebten von da an vergnügt und glücklich bis an ihren Tod.

Der Hirt auf dem Kyffhäuser

Etliche sprechen, dass bei Frankenhausen in Thüringen ein Berg liege, darin Kaiser Friedrich seine Wohnung habe und vielmal gesehen worden. Ein Schafhirt, der auf dem Berge hütete und die Sage gehört hatte, fing an, auf seiner Sackpfeife zu pfeifen, und als er meinte, er habe ein gutes Hofrecht gemacht, rief er überlaut: „Kaiser Friedrich, das sei dir geschenkt!“
Da soll sich der Kaiser dem Schäfer offenbart und zu ihm gesprochen haben: „Gott grüß´ dich, Männlein, wem zu Ehren hast du gepfiffen?“
„Dem Kaiser Friedrich“, antwortete der Schäfer.
Der Kaiser sprach weiter: „Hast du das getan, so komm mit mir, er soll dir darum lohnen.“
Der Hirt sagte: „Ich darf nicht von den Schafen gehen.“
Der Kaiser antwortete: „Folge mir nach, den Schafen soll kein Schaden geschehen.“
Der Hirt folgte ihm, und der Kaiser Friedrich nahm ihn bei der Hand und führte ihn nicht weit von den Schafen zu einem großen Loch in den Berg hinein. Sie kamen zu einer eisernen Tür, die alsbald aufging; nun zeigte sich ein schöner, großer Saal, darin waren viel Herren und tapfere Diener, die ihm Ehre erzeigten.
Nachfolgend erwies sich der Kaiser auch freundlich gegen ihn und fragte, was er für einen Lohn begehre, dass er ihm gepfiffen?
Der Hirt antwortete: „Keinen!“
Da sprach aber der Kaiser: „Geh hin und nimm von meinem güldenen Handfass den einen Fuß zum Lohn.“
Das tat der Schäfer, wie ihm befohlen ward, und wollte darauf von dannen scheiden, da zeigte ihm der Kaiser noch viel seltsame Waffen, Harnische, Schwerter und Büchsen und sprach, er sollte den Leuten sagen, dass er mit diesen Waffen das Heilige Grab gewinnen werde. Hierauf ließ er den Hirten hinaus gleiten, der nahm den Fuß mit, brachte ihn den andern Tag zu einem Goldschmied, der ihn für echtes Gold anerkannte und ihm abkaufte.

Hänsel und Gretel

Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, dem Hänsel und der Gretel. Einmal, als große Teuerung ins Land kam, reichte es auch nicht mehr für das tägliche Brot. Wie sich der Holzhauer nun abends im Bett Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: "Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?"
"Hör zu, Mann", antwortete die Frau, "morgen in aller Frühe wollen wir die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dichtesten ist. Dort zünden wir ein Feuer an, geben jedem noch ein Stück Brot und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los."
"Nein, Frau", sagte der Mann, "das tue ich nicht. Wie sollte ich es übers Herz bringen, meine Kinder im Wald allein zu lassen! Die wilden Tiere kämen bald und zerrissen sie."
„0 du Narr", erwiderte sie, "dann müssen wir alle Hungers sterben, du kannst die Bretter für die Särge gleich hobeln", und ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte.
Aber die beiden Kinder hatten vor Hunger nicht einschlafen können und hatten gehört, was die Frau, die ihre Stiefmutter war, zum Vater gesagt hatte.
Gretel weinte bitterlich. "Nun ist's um uns geschehen", sagte sie zu Hänsel.
"Still, Gretel", sagte er, "gräme dich nicht, ich will uns schon helfen."
Als die Alten eingeschlafen waren, stand er auf, zog sich an, öffnete die Türe und schlich sich hinaus. Da schien der Mond ganz hell, und die weißen Kieselsteine, die vor dem Haus lagen, glänzten wie Silbertaler. Hänsel bückte sich und steckte so viele in seine Tasche, als nur hinein wollten. Dann ging er wieder zurück, sprach zu Gretel: "Schlaf nur ruhig ein, liebe Schwester, Gott wird uns nicht verlassen", und legte sich auch zu Bett.
Noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam schon die Frau und weckte die beiden Kinder. "Steht auf, ihr Faulenzer", sagte sie, "wir wollen in den Wald gehen und Holz holen." Sie gab jedem ein Stückchen Brot und sprach: "Da habt ihr etwas für den Mittag, aber esst es nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts."
Danach machten sie sich alle auf den Weg in den Wald.
Als sie ein Weilchen gegangen waren, stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück. Das tat er immer wieder.
"Hänsel'" sprach der Vater, "was guckst du denn und bleibst zurück, vergiss nur deine Beine nicht."
"Ach Vater", sagte Hänsel, "ich sehe nach meinem weißen Kätzchen. Es sitzt oben auf dem Dach und will mir ade sagen."
Da erwiderte die Frau: "Narr, das ist dein Kätzchen nicht, es ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint." Hänsel hatte aber nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer wieder einen der blanken Kieselsteine aus seiner Tasche auf den Weg geworfen.
Als sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater: "Kinder, nun sammelt Holz. Ich will ein Feuer machen, damit ihr nicht friert."
Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, und als die Flamme recht hoch brannte, meinte die Frau: "Nun setzt euch ans Feuer und ruht euch aus. Wir schlagen inzwischen Holz. Wenn wir fertig sind, holen wir euch ab."
Hänsel und Gretel setzten sich ans Feuer. Als der Mittag kam, aß jedes sein Stückchen Brot. Und weil sie im Walde schlagen hörten, glaubten sie, der Vater sei in der Nähe. Es waren aber nicht die Schläge der Holzaxt; es war ein Ast, den der Vater an einen dürren Baum gebunden hatte und den der Wind hin und her schlug. Als sie lange so gesessen hatten, fielen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und als sie endlich erwachten, war es schon finstere Nacht.
"Wie sollen wir nun aus dem Wald kommen", klagte Gretel und fing zu weinen an.
Aber Hänsel tröstete sie. "Wart nur ein Weilchen", sagte er, "bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon finden."
Als der Mond heraufgestiegen war, nahm Hänsel die Schwester an der Hand, ging den Kieselsteinen nach, die wie Silbertaler schimmerten und ihnen den Weg zeigten. Die ganze Nacht stapften sie durch den Wald und kamen bei anbrechendem Tage wieder zu ihres Vaters Haus. Sie klopften an die Türe.
"Ihr bösen Kinder", schalt die Frau, als sie aufmachte und Hänsel und Gretel draußen stehen sah, "was habt ihr so lange im Wald geschlafen? Wir haben geglaubt, ihr wolltet gar nicht wiederkommen." Der Vater aber freute sich, denn es war ihm zu Herzen gegangen, dass er sie so allein zurückgelassen hatte.
Nicht lange danach herrschte die Not wieder in allen Ecken, und die Kinder hörten, wie die Stiefmutter des Nachts im Bette zu dem Vater sprach: "Wir haben noch einen halben Laib Brot. Die Kinder müssen fort, wir wollen sie tiefer in den Wald hineinführen, damit sie den Weg nicht wieder finden, sonst müssen auch wir Hungers sterben." Dem Mann fielen die Worte schwer aufs Herz, und er dachte: "Es wäre besser, du teiltest den letzten Bissen mit deinen Kindern." Aber die Frau hörte nicht auf ihn, schalt nur und machte ihm Vorwürfe. Und weil er das erste Mal nachgegeben hatte, so musste er das auch jetzt zum zweiten Mal tun.
Die Kinder waren noch wach gewesen und hatten das Gespräch mit angehört. Als die Alten schliefen, stand Hänsel wieder auf und wollte wie das vorige Mal hinaus, um Kieselsteine aufzulesen. Aber die böse Frau hatte die Tür verschlossen. Da tröstete er seine Schwester und sprach: "Weine nicht, Gretel, schlaf nur ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen."
Am frühen Morgen kam die Stiefmutter und holte die Kinder aus dem Bett. Jedes erhielt ein Stückchen Brot, es war aber noch kleiner als das letzte Mal. Auf dem Weg in den Wald zerbröckelte Hänsel sein Brot in der Tasche und warf dann immer ein Bröcklein auf die Erde.
" Hänsel, was stehst du und guckst dich um", sagte der Vater.
"Ich sehe nach meinem Täubchen", antwortete Hänsel, "es sitzt auf dem Dache und will mir ade sagen."
"Narr", erwiderte die Frau, "das ist nicht dein Täubchen, es ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint." Hänsel aber streute nach und nach alle Brotbröcklein auf den Weg.
Immer tiefer führte die Frau die Kinder in den Wald, wo sie ihrer Lebtage noch nicht gewesen waren. Wieder wurde ein Feuer angemacht, und die Mutter sagte: "Bleibt hier sitzen, Kinder, wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen. Wir gehen in den Wald und schlagen Holz. Wenn wir am Abend fertig sind, kommen wir und holen euch wieder." Am Mittag teilte Gretel ihr Brot mit Hänse! Dann schliefen sie ein, und der Abend verging, aber niemand kam zu den armen Kindern. Erst in der finsteren Nacht erwachten sie.
"Wart nur, Gretel, bis der Mond aufgeht", tröstete Hänsel sein Schwesterchen, "dann werden wir die Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe; sie zeigen uns den Weg nach Haus." Als der Mond heraufkam, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Brotbröslein mehr, denn die vielen tausend Vögel, die im Walde leben, hatten sie alle aufgepickt. "Den Weg werden wir schon finden", sagte Hänsel zu Gretel, aber sie fanden ihn nicht. Die ganze Nacht gingen sie und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen nicht aus dem Wald heraus und sie waren hungrig, denn sie hatten nichts als ein paar Beeren, die sie gefunden hatten. Weil sie so müde waren, dass sie die Füße nicht mehr tragen wollten, legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein.
Es war nun schon der dritte Morgen, dass sie ihres Vaters Haus verlassen hatten. Wieder fingen sie an durch den Wald zu stapfen, aber sie gerieten immer tiefer hinein. Wenn nicht bald Hilfe kam, so mussten sie verschmachten. Um die Mittagszeit sahen sie ein schönes, schneeweißes Vöglein auf einem Ast sitzen. Weil es so schön sang, blieben sie stehen und hörten ihm zu. Plötzlich breitete es seine Flügel und flog vor ihnen her. Sie gingen ihm nach, bis sie zu einem Häuschen gelangten, auf dessen Dach es sich niederließ. Als sie ganz nahe herangekommen waren, sahen sie, dass das kleine Haus aus Brot gebaut war und ein Dach aus Kuchen hatte. Die Fenster aber waren aus reinem Zucker.
"Da wollen wir uns dranmachen", sprach Hänsel, "und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück vom Dach essen; Gretel, du kannst vom Fenster nehmen, das schmeckt süß." Kaum hatten sie angefangen, es sich schmecken zu lassen, da hörten sie eine Stimme, die aus dem Häuschen kam:
"Knusper, knusper, Knäuschen,
Wer knuspert an meinem Häuschen?"

Darauf antworteten die Kinder:
"Der Wind, der Wind, Das himmlische Kind",
und aßen weiter, ohne sich irremachen zu lassen. Hänsel, dem das Kuchendach sehr gut schmeckte, riss sich noch ein großes Stück davon herunter, und Gretel stieß eine ganze runde Fensterscheibe heraus, um sich daran gütlich zu tun. Da ging auf einmal die Türe auf, und eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte, kam herausgehumpelt. Hänsel und Gretel erschraken so sehr, dass sie fallen ließen, was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopfe und sprach: "Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? Kommt nur herein und bleibt bei mir. Es geschieht euch kein Leid." Sie fasste die beiden an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Alsbald trug sie gutes Essen auf - Milch und Pfannkuchen mit Zucker bestreut und Apfel und Nüsse.
Dann deckte sie zwei schöne, weiße Betten auf, und Hänsel und Gretel legten sich hinein und es kam ihnen vor, als ob sie im Himmel wären.
Die Alte aber war eine böse Hexe, die Kindern auflauerte. Sie hatte sich nur so freundlich gestellt und das Brothaus gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn sie ein Kind in ihre Gewalt bekam, tötete sie es, kochte und aß es, und das war dann ein ganz besonderer Festtag für sie. Als Hänsel und Gretel in ihre Nähe gekommen waren, hatte sie boshaft gelacht und dabei gedacht: "Die beiden habe ich, die sollen mir nicht wieder entwischen", denn Hexen haben zwar rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben auch eine feine Witterung wie die Tiere und merken, wenn Menschen in der Nähe sind.
Ganz früh am Morgen, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie schon auf. Als sie beide mit vollen roten Backen ruhen sah, murmelte sie vor sich hin: "Das wird ein guter Bissen werden." Dann packte sie Hänsel mit ihren dürren Händen, zerrte ihn hinaus zu einem kleinen Stall und sperrte ihn hinter einer Gittertüre ein. Er mochte schreien, wie er wollte, es half ihm nichts. Darauf ging sie zu Gretel, rüttelte sie wach und rief: "Steh auf, du Faulenzerin, trag Wasser herbei und koch deinem Bruder etwas Gutes. Er sitzt draußen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, will ich ihn essen. "
Gretel fing bitterlich zu weinen an, aber sie musste tun, was die böse Hexe verlangte.
Von jetzt an erhielt der arme Hänsel das beste Essen, aber Gretel bekam nur Krebsschalen. Jeden Morgen humpelte die Alte hinaus zum Stall und rief:
"Hänsel, streck deinen Finger heraus, damit ich spüre, ob du bald fett bist." Aber Hänsel streckte ihr immer nur ein Knöchlein hin, und die Alte konnte das mit ihren trüben Augen nicht sehen und glaubte, es sei Hänsels Finger und verwunderte sich, dass er gar nicht fett werden wollte.
Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, überkam sie die Ungeduld. "He da, Gretel", rief sie dem Mädchen zu, "ich will nicht länger warten. Trag Wasser herbei. Hänsel mag fett sein oder mager, morgen will ich ihn kochen."
"Lieber Gott, hilf uns doch", rief Gretel aus, "hätten uns nur die wilden Tiere getötet, so wären wir wenigstens zusammen gestorben."
"Spar dein Geplärr", schimpfte die Alte, "es hilft dir nichts."
Früh am Morgen musste Gretel hinaus, um den Kessel mit Wasser aufzuhängen und Feuer anzuzünden. "Erst wollen wir backen", knurrte die Alte, "ich habe den Backofen schon geheizt und den Teig geknetet." Sie stieß die arme Gretel zum Backofen hin, aus dem schon die Flammen schlugen. "Kriech ein Stück hinein", sagte die Hexe, "und sieh zu, ob richtig eingeheizt ist, damit wir das Brot einschießen können." Wenn Gretel hineingekrochen war, wollte sie den Ofen zumachen, denn Gretel sollte darin braten, und dann wollte sie auch das Mädchen verspeisen. Aber Gretel merkte, was die Hexe im Sinn hatte. " Ich weiß nicht, wie ich's machen soll", sagte sie, "wie komme ich da nur hinein?"
"Dumme Gans", schrie die Alte, "die Öffnung ist groß genug, siehst du wohl, ich könnte selbst hinein", humpelte heran und steckte den Kopf in den Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoß, dass sie weit hinein fuhr, schlug die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da fing die Hexe zu heulen an, aber Gretel lief fort, und die gottlose Alte musste jämmerlich verbrennen.
Schnurstracks lief Gretel zu Hänsel, öffnete den Stall und rief: "Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist tot!" Wie ein Vogel aus dem Käfig sprang Hänsel aus dem Stall und fiel Gretel vor Freude um den Hals. Weil sich beide nun nicht mehr zu fürchten brauchten, gingen sie in das Haus der Hexe. In allen Ecken standen Kästen mit Perlen und Edelsteinen. "Die sind doch besser als blanke Kiesel", sagte Hänsel und steckte in seine Taschen hinein, was hinein wollte, und auch Gretel sagte: "Ich will auch etwas mit nach Haus bringen" und füllte sich ihre Schürze voll. Endlich sprach Hänsel: "Jetzt wollen wir fort, damit wir aus dem Hexenwald herauskommen."
Als sie ein paar Stunden gegangen waren, gelangten sie an ein großes Wasser. "Wir können nicht hinüber", sprach Hänsel, "ich sehe keinen Steg und keine Brücke."
"Aber da schwimmt eine weiße Ente", erwiderte Gretel, "wenn ich sie bitte, hilft sie uns sicher hinüber."
Da rief sie:
"Entchen, Entchen,
Da steht Gretel und Hänsel.
Kein Steg und keine Brücke,
Nimm uns auf deinen weißen Rücken."

Da kam das Entchen heran, und Hänsel setzte sich darauf und bat Gretel, dass sie sich zu ihm setze.
"Nein", antwortete Gretel, "es wird dem Entchen zu schwer, es soll uns nacheinander hinüberbringen." Als die beiden glücklich drüben waren und sie weitergingen, kam ihnen der Wald immer bekannter und immer bekannter vor, und endlich erblickten sie von weitem ihres Vaters Haus. Da fingen sie zu laufen an, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte; die böse Stiefmutter aber war gestorben. Gretel schüttelte ihre Schürze aus, dass die Perlen und Edelsteine nur so in der Stube herum sprangen, und Hänsel warf eine Handvoll nach der andern dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen.

Märchen von der Unke

Es war einmal ein kleines Kind, dem gab seine Mutter jeden Nachmittag ein Schüsselchen mit Milch und Weckbroten, und das Kind setzte sich damit hinaus in den Hof. Wenn es anfing zu essen, so kam die Hausunke aus der Mauerritze hervorgekrochen, senkte ihr Köpfchen in die Milch und aß mit. Das Kind hatte seine Freude daran, und wenn es mit seinem Schüsselchen dasaß und die Unke kam nicht gleich herbei, so rief es ihr zu:

„Unke, Unke, komm geschwind,
komm herbei, du kleines Ding!
Sollst dein Bröckchen haben.
An der Milch dich laben.!

Da kam die Unke gelaufen und ließ es sich gut schmecken. Sie zeigte sich auch dankbar, denn sie brachte dem Kind aus ihrem heimlichen Schatz allerlei schöne Dinge, glänzende Steine, Perlen und goldene Spielsachen. Die Unke trank aber nur Milch und ließ die Brocken liegen. Da nahm das Kind einmal sein Löffelchen, schlug ihr damit sanft auf den Kopf und sagte: „Ding, iß auch Brocken!“ Die Mutter, die in der Küche stand, hörte, dass das King mit jemand sprach, und als sie sah, dass es mit seinem Löffelchen nach einer Unke schlug, so lief sie mit einem Scheit Holz heraus und tötete das gute Tier.
Von der Zeit an ging eine Veränderung mit dem Kinde vor. Es war solange die Unke mit ihm gegessen hatte, groß und stark geworden, jetzt aber verlor es seine schönen roten Backen und magerte ab. Nicht lange, so fing in der Nacht der Totenvogel an zu schreien, und Rotkehlchen sammelte Zweiglein und Blätter zu einem Totenkranz, und bald hernach lag das Kind auf der Bahre.

Die zwölf Brüder

Es waren einmal ein König und eine Königin; sie lebten in Frieden miteinander und hatten zwölf Kinder. Aber das waren Knaben. Nun sprach der König zu seiner Frau: "Wenn das dreizehnte Kind, das du zur Welt bringst, ein Mädchen ist, so sollen die zwölf Knaben sterben, damit es zu großem Reichtum kommt und ihm das Königreich allein zufällt." Er ließ auch zwölf Särge machen, die schon mit Hobelspänen angefüllt waren. Und in jedem lag das Totenkissen. Darnach ließ er sie in eine verschlossene Kammer bringen, gab der Königin den Schlüssel dazu und gebot ihr, niemand etwas davon zu sagen. Den ganzen Tag saß die Königin nun und trauerte, so dass ihr kleinster Sohn, der immer bei ihr war und den sie nach der Bibel Benjamin genannt hatte, zu ihr sprach: "Liebe Mutter, warum bist du so traurig?" "Ich darf dir's nicht sagen, liebstes Kind", antwortete sie. Aber er ließ ihr keine Ruhe, bis sie die Stube aufschloss und ihm die zwölf, schon mit Hobelspänen gefüllten Totenladen zeigte. Darauf sprach sie: "Diese Särge, mein liebes Kind, hat dein Vater für dich und deine elf Brüder machen lassen, denn wenn ihr ein Schwesterchen bekommt, sollt ihr alle getötet und darin begraben werden."
Während sie das sprach, weinte sie; ihr jüngster Sohn aber tröstete sie und sprach: "Weine nicht, liebe Mutter, wir wollen uns schon helfen und werden fortgehen."
Da sagte sie: "Geh mit deinen elf Brüdern hinaus in den Wald, und einer setzte sich immer auf den höchsten Baum, der zu finden ist. Er halte Wacht und schaue nach dem Turm unseres Schlosses. Kommt ein Brüderchen zur Welt, so will ich eine weiße Fahne aufstecken, und dann dürft ihr wiederkommen. Wird es aber eine Tochter sein, so will ich eine rote Fahne aufstecken, und dann flieht fort, so schnell ihr könnt, und der liebe Gott behüte euch. Jede Nacht will ich aufstehen und für euch beten, im Winter, dass ihr euch an einem Feuer wärmen könnt und im Sommer, dass ihr nicht in der Hitze schmachtet."
Nachdem sie ihre Söhne gesegnet hatte, gingen sie hinaus in den Wald. Einer um den anderen übernahm die Wacht, saß auf dem höchsten Baume und spähte nach dem Turm. Als elf Tage herum waren und die Reihe an den jüngsten kam, sah er, wie eine Fahne zu wehen begann. Es war aber nicht die weiße, sondern die rote Blutfahne, die verkündigte, dass sie alle sterben sollten. Als die Brüder das hörten, wurden sie zornig und sprachen: "Sollen wir um eines Mädchens willen den Tod erleiden? Wir schwören, dass wir uns rächen wollen. Wo immer wir ein Mädchen finden, soll es des Todes sein."
Sie gingen tiefer in den Wald hinein und mittendrin, wo er am dunkelsten war, fanden sie ein kleines, leeres Haus. Das Haus aber war verzaubert, ohne dass sie es wussten. Da sprachen sie: "Hier wollen wir wohnen, und du, Benjamin, als jüngster und schwächster, sollst im Haus bleiben und haushalten. Wir andern wollen hinausgehen und Nahrung suchen."
Nun zogen sie in den Wald, schossen Hasen, Rehe und Vögel und brachten ihre Beute Benjamin, der sie ihnen zurechtmachen musste, damit sie ihren Hunger stillen konnten. So lebten sie zehn Jahre zusammen in dem Häuschen, und die Zeit wurde ihnen nicht zu lang.
Inzwischen war das Mädchen, das die Königin geboren hatte, herangewachsen, war guten, reinen Herzens und schön von Angesicht und trug auf der Stirne einen goldenen Stern. Einmal, als im Schlosse große Wäsche war, sah es darunter zwölf Mannshemden und fragte seine Mutter, wem denn die Hemden gehörten, für den König seien sie doch viel zu klein. Da antwortete die Mutter schweren Herzens: "Liebes Kind, die Hemden gehörten deinen zwölf Brüdern."
"Und wo sind meine zwölf Brüder?", fragte das Mädchen, "ich habe noch nie etwas von ihnen gehört."
"Das weiß Gott, wo sie sind", erwiderte die Königin, "sie irren in der Welt herum."
Sie nahm das Mädchen bei der Hand, schloss ihm dann die Kammer auf und zeigte ihm die zwölf Särge darin mit den Hobelspänen und den Totenkissen. "Diese Särge", sprach sie, "waren für deine Brüder bestimmt, aber meine Söhne sind heimlich fortgegangen, ehe du geboren wurdest." Dann erzählte sie, wie sich alles zugetragen.
"Liebe Mutter", sagte das Mädchen, "weine nicht länger, ich will gehen und meine Brüder suchen."
Das Mädchen nahm nun die zwölf Hemden und ging fort und geradezu hinein in den großen Wald. Den ganzen Tag ging es, und am Abend kam es zu dem verzauberten kleinen Haus. Da trat es hinein und fand einen Knaben.
"Wo kommst du her und wo willst du hin?", fragte er und staunte darüber, dass es so schön war, königliche Kleider trug und einen Stern auf der Stirn hatte.
"Ich bin eine Königstochter", antwortete das Mädchen, "und suche meine zwölf Brüder und will gehen, so weit der Himmel blau ist, bis ich sie finde." Es zeigte ihm auch die zwölf Hemden, die ihnen gehörten. Da erkannte Benjamin, dass es seine Schwester war und sprach: "Ich bin Benjamin, dein jüngster Bruder." Vor Freude fing das Mädchen zu weinen an und Benjamin auch, und sie küssten und herzten einander aus großer Liebe. Darauf aber sprach er: "Liebe Schwester, wir Brüder haben verabredet, dass jedes Mädchen, das uns begegnet, sterben soll, weil wir eines Mädchens wegen verstoßen wurden."
Da sagte sie: "Ich will gerne sterben, wenn ich damit meine zwölf Brüder erlösen kann."
"Nein", antwortete er, "du sollst nicht sterben; ich will dich verstecken, bis unsere Brüder kommen, dann will ich schon einig mit ihnen werden."
Als es Nacht wurde, kamen die anderen von der Jagd, und als sie am Tische saßen und aßen, fragten sie: "Was gibt’s Neues?"
"Wisst ihr nichts?", antwortete Benjamin.
"Nein", sagten sie.
Da fuhr er fort: "Ihr seid im Walde gewesen, und ich bin daheimgeblieben und weiß doch mehr als ihr."
,,So erzähle uns davon", riefen sie.
"Wenn ihr mir versprecht", antwortete er, "dass das erste Mädchen, das uns begegnet, nicht von euch getötet wird!" ,,]a", sagten sie, "das soll Gnade finden, erzähle uns nur, was du weißt."
Da sprach er: "Unsere Schwester ist da", holte die Königstochter aus dem Versteck hervor in ihren königlichen Kleidern und mit dem Stern auf der Stirne. Vor Freude fielen sie ihr um den Hals, küssten sie und hatten sie von Herzen lieb.
Nun blieb sie bei Benjamin und half ihm bei der Arbeit. Die andern aber zogen in den Wald, jagten Hasen, Rehe und Vögel, damit sie zu essen hatten, und die Schwester und Benjamin sorgten, dass alles zubereitet wurde. Sie suchte das Holz zum Kochen und die Kräuter zum Gemüse, stellte die Töpfe aufs Feuer, dass die Mahlzeit immer fertig war, wenn die elf Brüder kamen. Auch sonst hielt sie Ordnung im Haus, deckte die Betten hübsch weiß und rein, und die Brüder waren immer zufrieden mit ihr und sie lebten in großer Eintracht.
Einmal hatten sie sich alle zusammengesetzt, aßen und tranken und waren voller Freude. Es war aber ein Gärtchen vor dem verzauberten Haus; in diesem Gärtchen standen zwölf Lilien. Nun wollte das Mädchen seinen Brüdern eine Freude bereiten und brach die zwölf Blumen ab, um sie ihnen zu schenken. Als sie aber die Blumen gebrochen hatte, verwandelten sich ihre zwölf Brüder in zwölf Raben, die über den Wald flogen, und auch das Haus mit dem Garten war plötzlich verschwunden. Da war nun das arme Mädchen allein in dem wilden Wald, und als es sich umsah, stand eine alte Frau neben ihm. "Mein Kind, was hast du angefangen?" sagte sie. "Warum hast du die zwölf weißen Blumen nicht stehenlassen, es waren deine Brüder. Auf immer sind sie nun in Raben verwandelt."
Weinend fragte das Mädchen: "Gibt es denn kein Mittel, sie zu erlösen?"
"Nein", erwiderte die Alte, "es gibt keines auf der ganzen Welt außer einem, das ist aber von solcher Art, dass du sie damit nicht befreien wirst. Sieben Jahre musst du stumm sein, darfst nicht sprechen und nicht lachen. Sprichst du aber ein einziges Wort, und es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Brüder werden von diesem einen Wort getötet."
Da dachte das Mädchen: "Ich weiß gewiss, dass ich meine Brüder erlöse." Es suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf und spann und sprach nicht und lachte nicht.
Nun trug es sich zu, dass ein König in dem wilden Walde jagte. Der König hatte einen großen Windhund, der lief zu dem Baum, auf dem das Mädchen saß, sprang um ihn herum und bellte hinauf. Da kam der König herbei und sah das Mädchen mit dem goldenen Stern auf der Stirne und war so entzückt über ihre Schönheit, dass er sie fragte, ob sie seine Gemahlin werden wolle. Sie antwortete nicht, nickte aber ein wenig mit dem Kopfe. Da stieg er selbst auf den Baum, holte sie herab, setzte sie auf sein Pferd und führte sie heim. Mit großer Pracht wurde die Hochzeit gefeiert, aber die Braut sprach nicht und lachte nicht. Als sie ein paar Jahre miteinander gelebt hatten, fing die böse Mutter des Königs an, die junge Königin zu verleumden und sprach zum König: "Das Mädchen, das du mitgebracht hast, ist ein gemeines Bettelweib. Wer weiß, welch gottlose Streiche sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht sprechen kann, so könnte sie doch einmal lachen. Aber wer nicht lacht, der hat ein böses Gewissen." Erst wollte der König nicht daran glauben, aber die Alte trieb es so lange und beschuldigte sie so vieler böser Dinge, dass sich der König endlich überreden ließ, sie vor ein Gericht zu stellen. Das Gericht aber verurteilte sie zum Tode. Darauf wurde im Schlosshof ein großes Feuer angezündet, denn sie sollte verbrannt werden. Weinend stand der König oben am Fenster, weil er sie noch immer lieb hatte. Als sie schon an den Pfahl festgebunden war und das Feuer an ihren Kleidern mit roten Zungen leckte, war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren vorüber. Da ließ sich in der Luft ein Geschwirr hören; zwölf Raben kamen hergeflogen und senkten sich nieder. Als sie die Erde berührten, verwandelten sie sich in zwölf Jünglinge. Es waren die zwölf Brüder, die sie erlöst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, löschten die Flammen und machten ihre Schwester frei. Jetzt aber, da sie den Mund auftun und reden durfte, erzählte sie dem König, weshalb sie stumm sein musste und niemals lachen durfte. Als der König hörte, dass sie unschuldig war, freute er sich von Herzen darüber, und sie lebten nun alle zusammen einträchtig bis zu ihrem Tode. Die böse alte Königin aber wurde vor das Gericht gestellt und darauf in ein Fass gesteckt, das mit siedendem Öl und giftigen Schlangen angefüllt war. So musste sie eines schlimmen Todes sterben.

Rumpelstilzchen

Ein armer Müller hatte eine wunderschöne Tochter.
Einmal traf es sich, dass ihn der König des Landes ansprach. Weil der Müller nicht nur mit der Schönheit seiner Tochter groß tun wollte, sagte er zu ihm: "Sie ist nicht nur schön, sie kann auch Stroh zu Gold verspinnen."
"Das ist eine Kunst, die mir wohl gefällt", antwortete der König, "wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen ins Schloss, da will ich sie auf die Probe stellen."
Als man ihm das Mädchen gebracht hatte, führte er es in eine Kammer, die voller Stroh lag, gab ihm ein Spinnrad und sagte: "Jetzt mach dich an die Arbeit. Wenn du dieses Stroh bis zum Morgen nicht zu Gold versponnen hast, so musst du sterben."
Darauf verschloss er die Kammer und ließ sie allein. Da saß nun die arme, schöne Müllerstochter und wusste sich keinen Rat. Sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold verspinnen konnte. So groß wurde ihre Angst, dass sie zu weinen anfing. Auf einmal ging die Türe auf, und ein kleines Männchen trat herein.
"Guten Abend, Jungfer Müllerin", sprach das Männchen, "warum weint sie denn so sehr?"
"Ach", antwortete das Mädchen, "ich soll Stroh zu Gold spinnen und verstehe das nicht."
"Was gibst du mir, wenn ich's für dich tue?", erwiderte das Männchen.
"Mein Halsband", sagte das Mädchen. Das Männchen nahm das Halsband, setzte sich vor das Spinnrad, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war die Spule voll. Dann steckte es eine andere auf und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war auch die zweite voll. So ging es fort bis zum Morgen, dann war alles Stroh versponnen und alle Spulen voller Gold. Schon bei Sonnenaufgang kam der König. Als er das Gold erblickte, erstaunte er und freute sich darüber, aber sein Herz wurde ob des Goldes nur noch gieriger. Er ließ die Müllerstochter in eine andere Kammer bringen, die noch viel größer war als die erste und von unten bis oben voller Stroh. "Wenn dir dein Leben lieb ist", sagte er, "so spinne das Stroh zu Gold in dieser Nacht."
Das Mädchen wusste sich nicht zu helfen und weinte. Abermals ging die Türe auf, und das kleine Männchen erschien und sprach: "Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold verspinne."
"Meinen Fingerring", antwortete das Mädchen. Das Männchen nahm den Ring, fing wieder mit dem Rad zu schnurren an und hatte bis zum Morgen alles Stroh zu glänzendem Gold gesponnen. Bei diesem Anblick freute sich der König über die Maßen, weil er aber noch mehr Gold haben wollte, ließ er die Müllerstochter in eine noch größere Kammer voller Stroh bringen und sprach: "Gelingt dir's, dieses Stroh heute Nacht zu Gold zu verspinnen, so sollst du meine Gemahlin werden."
"Wenn's auch eine Müllerstochter ist", dachte er, "eine reichere Frau finde ich in der ganzen Welt nicht mehr."
Als das Mädchen allein war und sich wieder nicht zu helfen wusste, erschien das Männlein zum dritten Mal.
"Was gibst du mir", sprach es, "wenn ich dir auch dieses Mal das Stroh verspinne?"
"Ich habe nichts mehr, das ich dir dafür geben könnte", antwortete das Mädchen.
"So versprich mir, wenn du Königin wirst, dein erstes Kind."
"Wer weiß, wie das noch weitergehen wird", dachte die Müllerstochter und wusste sich in ihrer Not nicht anders zu helfen, als dem Männlein zu versprechen, was es verlangte. Sogleich setzte sich das Männchen nieder und spann das Stroh zu Gold. Als am Morgen der König kam und alles fand, wie er es gewünscht hatte, nahm er die schöne Müllerstochter zur Frau und machte sie zur Königin.
Über ein Jahr brachte sie ein schönes Kind zur Welt und dachte gar nicht mehr an das Männchen.
Eines Tages aber trat es ganz unverhofft in ihr Gemach und sagte: "Königin, nun gib mir, was du mir vor einem Jahr versprochen hast."
Die Königin erschrak. "Lass mir mein Kind", sagte sie und bot dem Männchen alle Reichtümer des Landes, aber das Männlein sprach: "Nein, Frau Königin, nein, etwas Lebendiges ist mir lieber als alle Schätze der Welt."
Da fing die Königin zu jammern und zu weinen an, dass das Männlein Mitleid mit ihr bekam.
"Hör zu, Königin", sagte er zu ihr, "drei Tage will ich dir Zeit lassen, wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten."
Die ganze Nacht über besann sich die Königin auf alle Namen, die sie jemals gehört hatte. Sie schickte auch Boten über Land, die sich weit und breit erkundigen sollten, was es sonst noch für Namen gebe in der Welt. Am anderen Tage erschien das Männlein. Alsbald fing sie an mit Kaspar, Melchior und Balthasar und sagte alle Namen, die sie wusste, der Reihe nach her, aber bei jedem erwiderte das Männlein munter und vergnügt: "So heiß ich nicht, Frau Königin, so wurd ich nicht genannt."
Am zweiten Tag ließ sie in der Nachbarschaft herumfragen, wie die Leute dort genannt würden, und zählte dem Männlein, als es erschien, die ungewöhnlichsten und seltsamsten Namen auf. "Heißt du vielleicht Rippenbiest oder Hammelswade oder Schnürbein?" fragte sie es.
Aber das Männlein antwortete munter und vergnügt: "So heiß ich nicht, Frau Königin, so wurd ich nicht genannt!" Am dritten Tage kamen die Boten wieder zurück und erzählten, dass sie keine neuen Namen hätten finden können.
Schon Wollte die Königin verzagen, als noch ein Bote erschien.
"Frau Königin", sagte er, "als ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, da sah ich ein kleines Haus und vor dem Haus brannte ein Feuer und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männlein, hüpfte auf einem Bein und schrie:
„Heut back ich, morgen brau ich,
übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
ach, wie gut, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß!“

Wie froh wurde da die Königin, als sie den Namen hörte! Bald darauf trat das Männlein ein. "Nun, Frau Königin", fragte es,,, wie heiß ich?"
"Du heißest Kunz", sagte sie.
"Nein, Frau Königin", erwiderte das Männlein vergnügt und munter.
"Heißest du Heinz?"
"Nein", antwortete das Männlein, "so heiß ich nicht, Frau Königin, so wurd ich nicht genannt."
"Heißt du etwa Rumpelstilzchen?"
"Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt!“, schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis in den Leib hinein fuhr. Dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit bei den Händen und riss sich selbst mitten entzwei.

Simeliberg

Es waren zwei Brüder, einer war reich, der andere arm. Der Reiche aber gab dem Armen nichts, und er musste sich vom Kornhandel kümmerlich ernähren; da ging es ihm oft so schlecht, dass er für seine Frau und Kinder kein Brot hatte. Einmal fuhr er mit seinem Karren durch den Wald, da erblickte er zur Seite einen großen kahlen Berg, und weil er den noch nie gesehen hatte, hielt er still und betrachtete ihn mit Verwunderung. Wie er so stand, sah er zwölf wilde große Männer daherkommen; weil er nun glaubte, das wären Räuber, schob er seinen Karren ins Gebüsch und stieg auf einen Baum und wartete, was da geschehen würde. Die zwölf Männer gingen aber vor den Berg und riefen: „Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf.“ Alsbald tat sich der kahle Berg in der Mitte voneinander, und die zwölfe gingen hinein, und wie sie drin waren, schloss er sich zu. Über eine kleine Weile aber tat er sich wieder auf, und die Männer kamen heraus und trugen schwere Säcke auf den Rücken, und wie sie alle wieder am Tageslicht waren, sprachen sie: „Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich zu.“
Da fuhr der Berg zusammen, und war kein Eingang mehr an ihm zu sehen, und die Zwölfe gingen fort. Als sie ihm nun ganz aus den Augen waren, stieg der Arme vom Baum herunter, und war neugierig was wohl im Berge heimliches verborgen wäre. Also ging er davor und sprach: „Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf“, und der Berg tat sich auch vor ihm auf. Da trat er hinein, und der ganze Berg war eine Höhle voll Silber und Gold, und hinten lagen große Haufen Perlen und blitzende Edelsteine, wie Korn aufgeschüttet. Der Arme wusste gar nicht, was er anfangen sollte, und ob er sich etwas von den Schätzen nehmen dürfte; endlich füllte er sich die Taschen mit Gold, die Perlen und Edelsteine aber ließ er liegen. Als er wiederum herauskam, sprach er gleichfalls: „Berg Semsi, Berg Semsi, tu dich zu“, da schloss sich der Berg, und er fuhr mit seinem Karren nach Haus. Nun rauchte er nicht mehr zu sorgen und konnte mit seinem Golde für Frau und Kinder Brot und Wein dazu kaufen, lebte fröhlich und redlich, gab den Armen und tat jedermann Gutes. Als aber das Geld zu Ende war, ging er zu seinem Bruder, lieh einen Scheffel und holte sich von neuem; doch rührte er von den großen Schätzen nichts an. Wie er sich zum dritten Mal etwas holen wollte, borgte er bei seinem Bruder abermals den Scheffel. Der Reiche aber war schon lange neidisch über sein Vermögen und den schönen Haushalt, den er sich eingerichtet hatte, und konnte nicht begreifen, woher der Reichtum käme und was sein Bruder mit dem Scheffel anfinge. Da dachte er eine List aus und bestrich den Boden mit Pech, und wie er das Maß zurückbekam, so war ein Goldstück darin hängen geblieben. Alsbald ging er zu seinem Bruder und fragte ihn: “Was hast du mit dem Scheffel gemessen?“
„Korn und Gerste“, sage der andere. Da zeigte er ihm das Goldstück und drohte ihm, wenn er nicht die Wahrheit sagte, so wollt er ihn beim Gericht verklagen. Er erzählte ihm nun alles, wie es zugegangen war. Der Reiche aber ließ gleich einen Wagen anspannen, fuhr hinaus, wollte die Gelegenheit besser benutzen und ganz andere Schätze mitbringen. Wie er vor den Berg kam, rief er: „Beg Semsi, Berg Semsi, tu dich auf.“
Der Berg tat sich auf und er ging hinein. Da lagen die Reichtümer alle vor ihm, und er wusste lange nicht, wozu er am ersten greifen sollte; endlich lud er Edelsteine auf, so viel ertragen konnte. Er wollte seine Last hinaustragen, weil aber Herz und Sinn ganz voll von den Schätzen waren, hatte er darüber den Namen des Berges vergessen und rief: „Berg Simeli, Berg Simeli, tu dich auf.“ Aber das war der reche Name nicht, und der Berg regte sieh nicht und blieb verschlossen. Da ward ihm angst, aber je länger er nachsann, desto mehr verwirrten sich seine Gedanken, und halfen ihm alle Schätze nichts mehr. Am Abend tat sich der Berg auf und die zwölf Räuber kamen herein, und als sie ihn sahen, lachten sie und riefen: „Vogel, haben wir dich endlich, meinst du, wir hätten’s nicht gemerkt, dass du zwei Mal hereingekommen bist, aber wir konnten dich nicht fangen und zum dritten Mal sollst du nicht wieder heraus.“
Da rief er: „Ich war’s nicht, mein Bruder war’s, aber er mochte bitten um sein Leben und sagen was er wollte, sie schlugen ihm das Haupt ab.

Die sieben Schwaben

Einmal waren sieben Schwaben beisammen. Der erste war der Herr Schulz, der zweite der Jackli, der dritte der Marli, der vierte der Jergli, der fünfte der Michal, der sechste der Hans, die siebente der Veitli. Die hatten alle sieben sich vorgenommen, die Welt zu durchziehen, Abenteuer zu suchen und große Taten zu vollbringen. Damit sie aber auch mit bewaffneter Hand und sicher gingen, sahen sie's für gut an, dass sie sich zwar nur einen einzigen, aber recht starken und langen Spieß machen ließen. Diesen Spieß fassten sie alle sieben zusammen an. Vorn ging der Kühnste und Männlichste, das musste der Herr Schulz sein, und dann folgten die andern nach der Reihe, und der Veitli war der Letzte.
Nun geschah es, als sie im Heumonat eines Tages einen weiten Weg gegangen waren, auch noch ein gut Stück bis in das Dorf hatten, wo sie über Nacht bleiben mussten, dass in der Dämmerung auf einer Wiese ein großer Rosskäfer oder eine Hornisse nicht weit von ihnen hinter einer Staude vorbei flog und feindlich brummelte. Der Herr Schulz erschrak, dass er fast den Spieß hätte fallen lassen und ihm der Angstschweiß am ganzen Leibe ausbrach. "Horcht, horcht!" rief er seinen Gesellen zu; "Gott, ich höre eine Trommel!"
Der Jackli, der hinter ihm den Spieß hielt und dem, ich weiß nicht, was für ein Geruch in die Nase kam, sprach: "Etwas ist ohne Zweifel vorhanden; denn ich rieche schon das Pulver!" Bei diesen Worten hub der Herr Schulz an, die Flucht zu ergreifen, und sprang im Hui, über einen Zaun. Weil er aber gerade auf die Zinken eines Rechens sprang, der vom Heumachen da liegengeblieben war, so fuhr ihm der Stiel ins Gesicht und gab ihm einen ungewaschenen Schlag. ,,0 wei, 0 wei!", schrie der Herr Schulz, "nimm mich gefangen! Ich ergeb' mich, ich ergeb' mich!"
Die andern sechs hüpften auch alle einer über den andern herzu und schrien: "Ergibst du dich, so ergeb' ich mich auch!" Als aber doch kein Feind kam, der sie binden und wegführen wollte, merkten sie endlich, dass sie betrogen waren. Damit nun die Geschichte nicht unter die Leute käme und sie nicht genarrt und verspottet würden, verschwuren sie sich untereinander, so lange davon stillzuschweigen, bis einer unverhofft das Maul auftäte.
Hierauf zogen sie weiter. Das zweite Abenteuer, das sie zu bestehen hatten, war aber noch unvergleichlich gefährlicher als das erste. Nach etlichen Tagen führte sie ihr Weg durch ein Brachfeld; da saß ein Hase in der Sonne und schlief, streckte die Ohren in die Höhe und hatte die großen, gläsernen Augen starr offen stehen. Da erschraken sie bei dem Anblick des grausamen und wilden Tieres insgesamt und hielten Rat, was zu tun am wenigsten gefährlich wäre. Denn wenn sie fliehen wollten, so war zu befürchten, das Ungeheuer setzte ihnen nach und verschlänge sie alle mit Haut und Haar. Also sprachen sie: "Wir müssen einen großen und gefährlichen Kampf bestehen! Frisch gewagt ist halb gewonnen!" und fassten alle sieben den Spieß an, der Herr Schulz vorn und der Veitli hinten. Der Herr Schulz wollte den Spieß noch immer anhalten; der Veitli hinten war aber ganz mutig geworden, wollte losbrechen und rief: "Stoß zu! Stoß zu!"
Der Hans aber tadelte ihn: "Du hast gut schwätzen, weil du der Letzte bist."
Michal rief: "Es wird doch nicht etwa der Teufel sein?"
"Oder gar des Teufels Großmutter?", meinte Jergli voller Sorge.
Da hatte der Marli einen guten Gedanken und sagte: "Geh du voran, Veitli! Ich will gern statt deiner dort hinten stehen!"
Der Veitli hörte aber nicht darauf, und der Jackli bekräftigte: "Nein, nein, Herr Schulz muss vorangehen! Ihm allein gebührt diese Ehre!" So fasste sich denn der Herr Schulz ein Herz und sprach feierlich:
"Wohlauf denn in den Kampf, ihr tapferen Leute!" Da gingen sie insgesamt auf den Drachen los. Der Herr Schulz segnete sich und rief Gott um Beistand an. Als aber das alles nicht helfen wollte und er dem Feind immer näherkam, schrie er in großer Angst: "Hau! Hurlehau! Hau! Hauhau !" Davon erwachte der Has, erschrak und sprang eilig davon. Als ihn der Herr Schulz so feldflüchtig sah, da rief er voll Freude: "Ei, seht doch, was ist das? Das Ungeheuer ist ja ein Hase!"
Der Schwabenbund suchte aber weiter Abenteuer und kam an die Mosel, ein stilles und tiefes Wasser, darüber nicht viel Brücken sind, sondern man muss sich in Schiffen überfahren lassen. Weil die sieben Schwaben dessen unkundig waren, riefen sie einem Manne zu, der jenseits des Wassers seine Arbeit vollbrachte, wie man doch hinüberkommen könnte. Der Mann verstand wegen der Weite und wegen ihrer Sprache nicht, was sie wollten, und fragte auf sein Trierisch: "Wat? Wat?"
Da meinte der Herr Schulz, er spräche nicht anders als: "Wate, wate durchs Wasser!" und hub an, weil er der Vorderste war, sich auf den Weg zu machen und in die Mosel hineinzugehen. Nicht lange, so versank er in dem Schlamm und in den antreibenden tiefen Wellen; seinen Hut aber jagte der Wind hinüber an das jenseitige Ufer, und ein Frosch setzte sich dabei und quakte: "Wat, wat, wat!"
Die sechs andern hörten das drüben und sprachen: "Unser Gesell, der Herr Schulz, ruft uns! Kann er hinüberwaten, warum wir nicht auch?" Sie sprangen darum eilig alle zusammen in das Wasser und ertranken, also dass ein Frosch ihrer sechs ums Leben brachte und niemand von dem Schwabenbund wieder nach Haus kam.

Rotkäppchen

Es war einmal eine kleine, süße Dirn. Jedermann, der sie nur sah, hatte sie lieb, am allerliebsten aber ihre Großmutter. Sie wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde schenken solle. Einmal gab sie ihm ein Käppchen aus rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand und es nichts mehr anderes tragen wollte, nannte man es nur noch das Rotkäppchen.
Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: "Hier hast du ein Stück Kuchen, Rotkäppchen, und eine Flasche Wein. Geh zur Großmutter hinaus, sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich zeitig auf, bevor es heiß wird. Und gehe nicht vom Weg ab, sonst zerbricht das Glas und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, vergiss nicht, Guten Morgen zu sagen."
"Ich werde schon alles recht machen", erwiderte Rotkäppchen und gab der Mutter die Hand. Die Großmutter aber wohnte draußen im Walde, eine halbe Wegstunde vom Dorf. Als nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Das Mädchen wusste nicht, welch ein böses Tier der Wolf war, und fürchtete sich nicht vor ihm. "Guten Tag, Rotkäppchen", sagte er, "wo hinaus so früh?"
"Zur Großmutter", antwortete das Kind. ,,Was trägst du unter der Schürze?"
"Kuchen und Wein, damit sich die kranke Großmutter daran stärken kann."
"Und wo wohnt deine Großmutter?"
"Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald; unter den drei großen Eichbäumen steht ihr Haus", erwiderte das Rotkäppche.
Der Wolf dachte bei sich: "Das junge, zarte Ding ist ein hübscher Bissen für dich. Er wird dir noch besser schmecken als die Alte. Du musst es listig anfangen, damit du beide fängst." Eine Weile ging er neben Rotkäppchen her, dann sagte er: "Sieh einmal die schönen Blumen, Rotkäppchen. Warum schaust du dich nicht um? Du hörst wohl gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen, und tust gerade, als ob du zur Schule müsstest." Als das Mädchen sah wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume tanzten und überall viel schöne Blumen standen, dachte es: "Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, wird sie sich freuen. Es ist so früh am Tag, dass ich noch rechtzeitig ankomme." Da lief es in den Wald hinein und pflückte Blumen und geriet immer tiefer in den Wald. Der Wolf aber ging geradewegs zu der Großmutter Haus und klopfte an die Türe.
"Wer ist draußen?", hörte er rufen. "Rotkäppchen mit Kuchen und Wein, mach auf", erwiderte er.
"Drück nur auf die Klinke", rief die Großmutter, "ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen."
Der Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf, und ohne ein Wort zu sagen, lief er zum Bett der Großmutter und verschluckte sie mit Haut und Haaren. Dann zog er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und machte die Vorhänge zu.
Rotkäppchen hatte inzwischen nach Blumen gesucht.
Als es soviel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein. Es machte sich auf den Weg zu ihr. Als es die Türe offenstehen sah und in die Stube trat, kam es ihm gar seltsam darin vor.
"Wie ängstlich ist mir's heut zumute", dachte es, "ich war doch sonst so gerne bei der Großmutter." Es rief: "Guten Morgen", erhielt aber keine Antwort. Dann ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Die Großmutter lag darin, hatte die Haube tief ins Gesicht gezogen und sah recht wunderlich aus.
"Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren?"
"Dass ich dich besser hören kann."
"Ei, Großmutter, was hast du für große Augen?"
"Dass ich dich besser sehen kann."
"Ei, Großmutter, was hast du für große Hände?"
"Dass ich dich besser packen kann."
"Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?"
"Dass ich dich besser fressen kann!"
Kaum hatte der Wolf dies gesprochen, so machte er einen Satz aus dem Bett und verschlang das arme Rotkäppchen. Danach legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und schnarchte laut. Gerade ging der Jäger am Haus vorbei und dachte: "Wie die alte Frau schnarcht. Ich muss doch sehen, ob ihr etwas fehlt." Er trat in die Stube und sah, dass der Wolf im Bette lag. "Find ich dich hier, du alter Sünder", sagte er, "dich hab ich schon lange gesucht." Er spannte sein Gewehr, aber da fiel ihm ein, der Wolf könne die Großmutter gefressen haben. Deshalb schoss er nicht, sondern nahm eine Schere und begann, dem schnarchenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Kaum hatte er ein paar Schnitte getan, da sah er ein rotes Käppchen leuchten und nach ein paar weiteren Schnitten sprang das Mädchen heraus und rief: "Wie war's doch so dunkel in des Wolfes Bauch!" Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Geschwind holte Rotkäppchen große Steine. Damit füllten sie dem Wolf den Leib. Als er aufwachte und fort springen wollte, waren die Steine so schwer, dass er sich zu Tode fiel. Da waren alle drei froh und vergnügt. Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim. Rotkäppchen aber dachte: "Dein Lebtag wirst du nicht wieder vom Weg abgehen und in den Wald laufen, wenn dir's die Mutter verboten hat."

Der Geist im Glas

Es war einmal ein armer Holzhacker, der arbeitete vom Morgen bis in die späte Nacht. Als er sich endlich etwas Geld zusammen gespart hatte, sprach er zu seinem Jungen: „Du bist mein einziges Kind, ich will das Geld, das ich mit saurem Schweiß erworben habe, zu deinem Unterricht anwenden; lernst du etwas Rechtschaffenes, so kannst du mich im Alter ernähren, wenn meine Glieder steif geworden sind, und ich daheim sitzen muss.“
Da ging der Junge auf eine hohe Schule und lernte fleißig, so dass ihn seine Lehrer rühmten, und blieb eine Zeitlang dort. Als er ein paar Schulen durchgelernt hatte, doch aber noch nicht in allem vollkommen war, so war das bisschen Armut, das der Vater erworben hatte, draufgegangen und er musste wieder zu ihm heimkehren.
„Ach“, sprach der Vater betrübt: „Ich kann dir nichts mehr geben und kann in der teuern Zeit auch keinen Heller mehr verdienen, als das tägliche Brot.“
„Lieber Vater“, antwortete der Sohn, „macht Euch darüber keine Gedanken, wenn’s Gottes Wille also ist, so wird’s zu meinem Besten ausschlagen, ich will mich schon drein schicken.“
Als der Vater hinaus in den Wald wollte, um etwas Malterholz (Am Zuhauen und Aufrichten) zu verdienen, so sprach der Sohn: „Ich will mit Euch gehen und Euch helfen.“
„Ja, mein Sohn“, sagte der Vater, „das sollte dir beschwerlich ankommen, du bist an harte Arbeit nicht gewöhnt, du hältst das nicht aus; ich habe auch nur eine Axt und kein Geld übrig, um noch eine zu kaufen.“
„Geht nur zum Nachbar“, antwortete der Sohn, „der leiht Euch seine Axt so lange, bis ich mir selbst eine verdient habe.“
Da borgte er Vater beim Nachbarn eine Axt, und am andern Morgen, bei Anbruch des Tages, gingen sie zusammen hinaus in den Wald. Der Sohn half dem Vater und war ganz munter und frisch dabei. Als nun die Sonne über ihnen stand, sprach der Vater: „Wir wollen rasten und Mittag halten, hernach geht’s noch einmal so gut.“
Der Sohn nahm sein Brot in die Hand und sprach: „Ruht Euch nur aus, Vater, ich bin nicht müde, ich will in dem Wald ein wenig auf- und abgehen und Vogelnester suchen. “O du Geck“, sprach der Vater, „was willst du da herumlaufen, hernach bist du müde und kannst den Arm nicht mehr aufheben; bleib hier und setze dich zu mir.“
Der Sohn aber ging in den Wald, aß sein Brot, war ganz fröhlich und sah in die grünen Zweige hinein, ob er etwa ein Nest entdeckte. So ging er hin und her, bis er endlich zu einer großen gefährlichen Eiche kam, die gewiss schon viele hundert Jahre alt war und die keine fünf Menschen umspannt hätten. Er blieb stehen und sah ihn an und dachte: „Es muss doch mancher Vogel sein Nest hinein gebaut haben. Da deuchte ihn auf einmal, als höre er eine Stimme. Er horchte und vernahm, wie es mit so einem recht dumpfen Ton rief: „Lass mich heraus, lass mich heraus.“ ER sah sich rings um, konnte aber nichts entdecken, doch da war ihm, als ob die Stimme unten aus der Erde hervorkäme.
Da rief er: „Wo bist du?“
Die Stimme antwortete: „Ich stecke da unten bei den Eichwurzeln. Lass mich heraus, lass mich heraus.“
Der Schüler fing an, unter dem Baum aufzuräumen und bei den Wurzeln zu suchen, bis er endlich in einer kleinen Höhlung eine Glasflasche entdeckte. Er hob sie in die Höhe und hielt sie gegen das Licht, da sah er ein Ding, gleich einem Frosch gestaltet, das sprang darin auf und nieder. „Lass mich heraus, lass mich heraus!“, rief’s von neuem, und der Schüler, der an nichts Böses dachte, nahm den Pfropfen von der Flasche ab. Alsbald stieg ein Geist heraus und fing an zu wachsen und wuchs so schnell, dass er in wenigen Augenblicken als ein entsetzlicher Kerl, so groß wie der halbe Baum, vor dem Schüler stand.
„Weißt du“, rief er mit fürchterlicher Stimme, „was dein Lohn dafür ist, dass du mich herausgelassen hast?“
„Nein“, antwortete der Schüler ohne Furcht, „wie soll ich das wissen?“
„So will ich dir’s sagen“, rief der Geist, „den Hals muss ich dir dafür brechen.“
„Das hättest du mir früher sagen sollen“, antwortete der Schüler, „so hätte ich dich stecken lassen; mein Kopf aber soll vor dir wohl feststehen, da müssen mehr Leute gefragt werden.“
„Mehr Leute hin, mehr Leute her“, rief der Geist, „deinen verdienten Lohn, den sollst du haben. Denkst du, ich wäre aus Gnade da so lange Zeit eingeschlossen worden, nein, es war zu meiner Strafe; ich bin der großmächtige Merkurius, wer mich los lässt, dem muss ich den Hals brechen.“
„Sachte“, antwortete der Schüler, „so geschwind geht das nicht, erst muss ich auch wissen, dass du wirklich in der kleinen Flasche gesessen hast und dass du der rechte eist bist kannst du auch wieder hinein, so will ich’s glauben, und dann magst du mit mir anfangen, was du willst.“
Der Geist sprach voll Hochmut: „Das ist eine geringe Kunst“, zog sich zusammen und machte sich so dünn und klein, wie er anfangs gewesen war, also, dass er durch dieselbe Öffnung und durch den Hals der Flasche wieder hinein kroch. Kaum aber war er darin, so drückte der Schüler den abgezogenen Pfropfen wieder auf und warf die Flasche unter die Eichwurzeln an ihren alten Platz und der Geist war betrogen.
Nun wollte der Schüler zu seinem Vater zurückgehen, aber der Geist rief ganz kläglich: „Ach lass mich doch heraus, lass mich doch heraus!“
„Nein“, antwortete der Schüler, „zum zweiten Mal nicht wer mir einmal nach dem Leben gestrebt hat, den lass ich nicht los, wenn ich ihn wieder eingefangen habe.“
„Wenn du mich freimachst“, rief der Geist, „so will ich dir so viel geben, dass du dein Lebtag genug hast.“
„Nein“, antwortete der Schüler, „du würdest mich betrügen, wie das erste Mal.“
„Du verscherzest dein Glück“, sprach der Geist, „ich will dir nichts tun, sondern dich reich belohnen.“
Der Schüler dachte: „Ich will’s wagen, vielleicht hält er Wort, und anhaben soll er mir doch nichts.“
Da nahm er den Pfropfen ab, und der eist stieg wie das vorige Mal heraus, dröhnte sich auseinander und ward groß wie ein Riese.
„Nun sollst du deinen Lohn haben“, sprach er und rechte dem Schüler einen kleinen Lappen, ganz wie ein Pflaster, und sagte: „Wenn du mit dem einen Ende eine Wunde bestreichst, so heilt sie, und wenn du mit dem andern Stahl und Eisen bestreichst, so wird es in Silber verwandelt.“
„Das muss ich erst versuchen, sprach der Schüler, ging an einen Baum, ritzte die Rinde mit seiner Axt und bestrich sie mit dem einen Ende des Pflasters. Alsbald schloss sie sich wieder zusammen und war geheilt.
„Nun, es hat seine Richtigkeit“, sprach er zum Geist, „jetzt können wir uns trennen.“
Der Geist dankte ihm für seine Erlösung und der Schüler dankte dem Geist für sein Geschenk und ging zurück zu seinem Vater.
„Wo bist du herumgelaufen?“, sprach der Vater, „warum hast du die Arbeit vergessen? Ich habe es ja gleich gesagt, dass du nichts zustande bringen würdest.“
„Gebt Euch zufrieden, Vater, ich will’s nachholen.“
„Ja, nachholen“, sprach der Vater zornig, „das hat keine Art.“
„Habt acht, Vater, den Baum da will ich gleich umhauen, dass er krachen soll.“
Da nahm er sein Pflaster, bestrich die Axt damit und tat einen gewaltigen Hieb; aber weil das Eisen in Silber verwandelt war, so legte sich die Schneide um.
„Ei, Vater, seht einmal, was habt Ihr mir für eine schlechte Axt gegeben, die ist ganz schief geworden.“
Da erschrak der Vater und sprach: „Ach, was hast du gemacht! Nun muss ich die Axt bezahlen und weiß nicht womit; das ist der Nutzen, den ich von deiner Arbeit habe.“
„Werdet nicht bös“, antwortete der Sohn, „die Axt will ich schon bezahlen.“
„Oh, du Dummbart“, rief der Vater, „wovon willst du sie bezahlen? Du hast nichts, als was ich dir gebe, das sind Studentenkniffe, die dir im Kopf stecken, aber vom Holzhacken hast du keinen Verstand.“
Über ein Weilchen sprach der Schüler: „Vater, ich kann doch nichts mehr arbeiten, wir wollen lieber Feierabend machen.“
„Ei, was“, antwortete er, „meinst du, ich wollte die Hände in den Schoß legen wie du? Ich muss noch schaffen, du kannst dich aber heim packen.“
„Vater, ich bin zum ersten Mal hier in dem Wald, ich weiß den Weg nicht allein, geht doch mit mir.“
Weil sich der Zorn gelegt hatte, so ließ der Vater sich endlich bereden und ging mit ihm heim.
Da sprach er zum Sohn: „Geh und verkauf die verschändete Axt und sieh zu, was du dafür kriegst; das übrige muss ich verdienen, um sie dem Nachbar zu bezahlen.“
Der Sohn nahm die Axt und trug sie in die Stadt zu einem Goldschmied, der probierte sie, legte sie auf die Waage und sprach: „Sie ist vierhundert Taler wert, so viel habe ich nicht bar.“
Der Schüler sprach: „Gebt mir, was Ihr habt, das übrige will ich Euch borgen.“
Der Goldschmied gab ihm dreihundert Taler und blieb ihm einhundert schuldig. Darauf ging der Schüler heim und sprach: „Vater, ich habe Geld, geht und fragt, was der Nachbar für die Axt haben will.“
„Das weiß ich schon“, antwortete der Alte, „einen Taler, sechs Groschen.“
„So gebt ihm zwei Taler zwölf Groschen, das ist das Doppelte und ist genug; seht Ihr, ich habe Geld im Überfluss“, und gab dem Vater einhundert Taler und sprach: „Es soll Euch niemals fehlen, lebt nach Eurer Bequemlichkeit.“
„Mein Gott“, sprach der Alte, „wie bist du zu dem Reichtum gekommen?“
Da erzählte er ihm, wie alles zugegangen wäre und wie er im Vertrauen auf sein Glück einen so reichen Fang getan hätte. Mit dem übrigen Geld aber zog er wieder hin auf die Hohe Schule und lernte weiter, und weil er mit seinem Pflaster alle Wunden heilen konnte, ward er der berühmteste Doktor der ganzen Welt.

Die Sterntaler

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem waren Vater und Mutter gestorben. Und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen. Und endlich hatte es gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand. Das hatten ihm gute Menschen geschenkt. Das Mädchen war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld.
Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig!“ Das Mädchen reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: „Gott segne dir’s!“ und ging weiter.
Da kam ein Kind, das jammerte uns sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe; schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann!“ Da tat das Mädchen seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror. Da gab es ihm seins und ging noch weiter.
Da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden. Da kam noch ein Kind und bat um ein Hemdlein. Und das fromme Mädchen dachte: Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand. Du kannst wohl dein Hemd weggeben. Es zog sein Hemdchen aus und gab es auch noch hin. Und wie es stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Taler. Und ob es gleich sein Hemdlein weggeben, so hatte es ein neues an; das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.


Rapunzel

Lange Zeit, aber vergeblich, hatten sich ein Mann und eine Frau ein Kind gewünscht. Endlich aber glaubte die Frau, der liebe Gott werde ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand. Er war aber von einer hohen Mauer umgeben und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin gehörte, die große Macht besaß und von aller Welt gefürchtet wurde. Eines Tages stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab. Sie erblickte ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war. So frisch und grün sahen sie aus, dass sie die größte Lust empfand, von den Rapunzeln zu essen. Und jeden Tag nahm das Verlangen zu, und da sie wusste, dass sie keine davon bekommen konnte, so magerte sie ab und sah blass und elend aus. Da erschrak der Mann und fragte: "Was fehlt dir, liebe Frau?"
"Ach", antwortete sie, "wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserem Haus zu essen bekomme, so sterbe ich."
Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: "Eh du deine Frau sterben lässt, holst du ihr von den Rapunzeln, mag es kosten, was es wolle."
In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sogleich bereitete sie sich Salat daraus und aß ihn voller Begierde. Die Rapunzeln hatten ihr aber so gut geschmeckt, so gut, dass sie am anderen Tage noch dreimal so viel Lust darauf bekam. Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. In der Abenddämmerung machte er sich also wieder hinab. Als er aber die Mauer hinabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen.
"Wie kannst du es wagen", sprach sie mit zornigem Blick, "in meinen Garten zu steigen und mir wie ein Dieb meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen."
"Ach", erwiderte er, "lasst Gnade vor Recht ergehen. Ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen. Meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und empfindet jetzt so große Lust danach, dass sie stürbe, wenn sie nicht davon zu essen erhielte."
Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: "Verhält es sich so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, so viel du willst. Allein, ich stelle dir eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will es umsorgen wie eine Mutter."
In der Angst sagte der Mann alles zu, und als die Frau ein Kind bekam, erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Rapunzel wurde das schönste Kind unter der Sonne.
Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und keine Treppe und keine Türe hatte. Nur ganz oben war ein kleines Fenster ausgelassen. Wenn die Zauberin hineinwollte, so rief sie von unten: "Rapunzel, Rapunzel, lass mir dein Haar herunter!"
Rapunzel hatte lange, prächtige Haare, fein wie gesponnenes Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.
Einmal trug es sich zu, dass des Königs Sohn am Turm vorüber kam. Da hörte er einen so lieblichen Gesang, dass er stillhielt und horchte. Es war Rapunzel, die sich in ihrer Einsamkeit die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Vergeblich suchte der Königssohn nach einer Türe im Turm. Es war keine zu finden. So ritt er heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr ans Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging und lauschte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, dass eine Zauberin sich nahte und hörte, wie sie hinauf rief:
"Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!" Rapunzel ließ die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf.
„Ist das die Leiter", dachte des Königs Sohn, "auf der man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen!" Am folgenden Tag, als es anfing, dunkel zu werden, ging er zum Turm und rief: "Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!" Sogleich fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.
Als ein Mann zu ihr hereinkam, erschrak Rapunzel gewaltig, doch der Königssohn fing an, ganz freundlich mit ihr zu reden, und erzählte ihr, dass ihr Gesang so sehr sein Herz bewegt habe, dass es ihm keine Ruhe gelassen und er es selbst habe sehen müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Manne nehmen wolle, und als sie sah, dass er jung und schön war, da dachte sie: "Er wird mich lieber haben als die alte Frau Muhme", sagte ja und legte ihre Hand in die seine. "Ich will gerne mit dir gehen", sprach sie, "aber ich weiß nicht, wie ich hinunter kommen kann. Wenn du kommst, so bring jedes Mal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten. Und wenn sie fertig ist, so steige ich hinunter, und du nimmst mich auf dein Pferd."
Sie verabredeten, dass er bis dahin alle Abende zu ihr kommen solle, denn bei Tag kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal Rapunzel zu ihr sprach: "Sagt mir doch, Frau Muhme, wie kommt es nur, dass ihr viel schwerer heraufzuziehen seid als der junge Königssohn? Er ist immer in einem Augenblick bei mir."
"Du verwünschtes Kind", rief die Zauberin, "was muss ich von dir hören! Ich dachte, ich hätte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich doch betrogen!" In ihrem Zorne packte sie Rapunzel bei ihren schönen Haaren, wand sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Schere mit der Rechten und, ritsch, ratsch, waren sie abgeschnitten, und die schönen Flechten lagen auf dem Boden. So grausam war sie, dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei verbannte, wo sie in großem Jammer und Elend leben musste.
Am gleichen Tage aber, an dem sie Rapunzel verstoßen hatte, machte die Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest. Als der Königssohn kam und rief: "Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter", ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf aber oben fand er nicht die liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen, giftigen Blicken ansah. "Du willst dir wohl deine Liebste holen", rief sie höhnisch, "aber der schöne Vogel sitzt nicht mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird auch dir die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken." Außer sich vor Schmerzen und in der Verzweiflung sprang der Königssohn vom Turm hinab. Er kam mit dem Leben davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er blind im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren und jammerte und weinte über die verlorene Rapunzel. Einige Jahre wanderte er so im Elend umher. Endlich aber geriet er in die Wüstenei, wo Rapunzel kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie dünkte ihm bekannt. Da ging er darauf zu, und wie er nahe war, erkannte ihn Rapunzel, fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei ihrer Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie vordem. Er führte sie in sein Reich, wo er mit großer Freude empfangen wurde, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.

Der Bärenhäuter

Es war einmal ein junger Kerl, der ließ sich als Soldat anwerben, hielt sich tapfer und war immer der Vorderste, wenn es blaue Bohnen regnete. Solange der Krieg dauerte, ging alles gut; aber als Friede geschlossen war, erhielt er seinen Abschied, und der Hauptmann sagte, er könnte gehen, wohin er wollte. Seine Eltern waren tot, und er hatte keine Heimat mehr; da ging er zu seinen Brüdern und bat, sie möchten ihm so lange Unterhalt geben, bis der Krieg wieder anfinge. Die Brüder aber waren hartherzig und sagten: "Was sollen wir mit dir? Wir können dich nicht brauchen! Sieh zu, wie du dich durchschlägst!"
Der Soldat hatte nichts übrig als sein Gewehr, das nahm er auf die Schulter und wollte in die Welt gehen. Er kam auf eine große Heide, auf der nichts zu sehen war als ein Ring von Bäumen; darunter setzte er sich ganz traurig nieder und sann über sein Schicksal nach. "Ich habe kein Geld", dachte er; "ich habe nichts gelernt als das Kriegshandwerk, und jetzt, weil Friede geschlossen ist, brauchen sie mich nicht mehr; ich sehe voraus, ich muss verhungern!"
Auf einmal hörte er ein Brausen, und als er sich umblickte, stand ein unbekannter Mann vor ihm, der einen grünen Rock trug, recht stattlich aussah, aber einen garstigen Pferdefuß hatte.
"Ich weiß schon, was dir fehlt!", sagte der Mann. "Geld und Gut sollst du haben, so viel du mit aller Gewalt durchbringen' kannst; aber ich muss zuvor wissen, ob du dich nicht fürchtest, damit ich mein Geld nicht umsonst ausgebe."
"Ein Soldat und Furcht, wie passt das zusammen?", antwortete er. "Du kannst mich auf die Probe stellen!"
"Wohlan", antwortete der Mann, "schau hinter dich!"
Der Soldat kehrte sich um und sah einen großen Bären, der brummend auf ihn zutrabte. "Oho", rief der Soldat, "dich will ich an der Nase kitzeln, dass dir die Lust zum Brummen vergehen soll!", legte an und schoss den Bären auf die Schnauze, dass er zusammenfiel und sich nicht mehr regte.
"Ich sehe wohl", sagte der Fremde, "dass dir's an Mut nicht fehlt; aber es ist noch eine Bedingung dabei, die musst du erfüllen!"
"Wenn mir's an meiner Seligkeit nicht schadet", antwortete der Soldat, der wohl merkte, wen er vor sich hatte; "sonst lass ich mich auf nichts ein!"
"Das wirst du selbst sehen", antwortete der Grünrock. "Du darfst in den nächsten sieben Jahren dich nicht waschen, dir Bart und Haare nicht kämmen, die Nägel nicht schneiden und kein Vaterunser beten. Dann will ich dir einen Rock und einen Mantel geben, die musst du in dieser Zeit tragen. Stirbst du in diesen sieben Jahren, so bist du mein; bleibst du aber leben, so bist du frei und bist reich dazu für dein Lebtag."
Der Soldat dachte an die große Not, in der er sich befand, und da er so oft in den Tod gegangen war, wollte er es auch jetzt wagen und willigte ein. Der Teufel zog den grünen Rock aus, reichte ihn dem Soldaten hin und sagte: "Wenn du den Rock an deinem Leibe hast und in die Tasche greifst, so wirst du die Hand immer voll Geld haben!" Dann zog er dem Bären die Haut ab und sagte: "Das soll dein Mantel sein und auch dein Bett; denn darauf musst du schlafen und darfst in kein anderes Bett kommen. Und dieser Tracht wegen sollst du Bärenhäuter heißen." Hierauf verschwand der Teufel.
Der Soldat zog den Rock an, griff gleich in die Tasche und fand, dass die Sache ihre Richtigkeit hatte. Dann hängte er die Bärenhaut um, ging in die Welt, war guter Dinge und unterließ nichts, was ihm wohl und dem Gelde wehe tat. Im ersten Jahr ging es noch leidlich; aber im zweiten sah er schon aus wie ein Ungeheuer. Das Haar bedeckte ihm fast das ganze Gesicht, sein Bart glich einem Stück groben Filztuches, seine Finger hatten Krallen, und sein Gesicht war so mit Schmutz bedeckt, dass, wenn man Kresse hineingesät hätte, sie aufgegangen wäre. Wer ihn sah, lief davon; weil er aber allerorten den Armen Geld gab, damit sie für ihn beteten, dass er in den sieben Jahren nicht stürbe, und weil er alles gut bezahlte, so erhielt er doch immer noch Herberge.
Im vierten Jahre kam er in ein Wirtshaus, da wollte ihn der Wirt nicht aufnehmen und wollte ihm nicht einmal einen Platz im Stall anweisen, weil er fürchtete, seine Pferde würden scheu werden. Doch als der Bärenhäuter in die Tasche griff und eine Handvoll Dukaten herausholte, so ließ der Wirt sich erweichen und gab ihm eine Stube im Hintergebäude; doch musste er versprechen, sich nicht sehen zu lassen, damit sein Haus nicht in bösen Ruf käme.
Als der Bärenhäuter abends allein saß und von Herzen wünschte, dass die sieben Jahre herum wären, so hörte er in einem Nebenzimmer ein lautes Jammern. Er hatte ein mitleidiges Herz, öffnete die Tür und erblickte einen alten Mann, der heftig weinte und die Hände über, dem Kopf zusammenschlug. Der Bärenhäuter trat näher; aber der Mann sprang auf und wollte entfliehen. Endlich, als er eine menschliche Stimme vernahm, ließ er sich bewegen, und durch freundliches Zureden brachte es der Bärenhäuter dahin, dass er ihm die Ursache seines Kummers offenbarte. Sein Vermögen war nach und nach geschwunden, er und seine Töchter mussten darben, und er war so arm, dass er den Wirt nicht einmal bezahlen konnte und darum ins Gefängnis gesetzt werden sollte.
"Wenn Ihr weiter keine Sorge habt", sagte der Bärenhäuter, "Geld habe ich genug!" Er ließ den Wirt herbeikommen, bezahlte ihn und steckte dem Unglücklichen noch einen Beutel voll Gold in die Tasche.
Als der alte Mann sich aus seinen Sorgen erlöst sah, wusste er nicht, womit er sich dankbar beweisen sollte. "Komm mit mir!" sprach er zu ihm. "Meine Töchter sind Wunder von Schönheit; wähle dir eine davon zur Frau! Wenn sie hört; was du für mich getan hast, so wird sie sich nicht weigern. Du siehst freilich ein wenig seltsam aus; aber sie wird dich schon wieder in Ordnung bringen." Dem Bärenhäuter gefiel das wohl und er ging mit.
Als ihn die älteste Tochter erblickte, entsetzte sie sich so gewaltig vor seinem Antlitz, dass sie aufschrie und davonlief; Die zweite blieb zwar stehen und betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen; dann aber sprach. sie: "Wie kann ich einen Mann nehmen", der keine menschliche Gestalt mehr hat? Da gefiel mir der rasierte Bär noch besser, der einmal hier zu sehen war und sich für einen Menschen ausgab; der hatte doch einen Husarenpelz an und weiße Handschuhe! Wenn er nur hässlich wäre, so könnte ich mich an ihn gewöhnen."
Die jüngste Tochter aber sprach: "Lieber Vater, das muss ein guter, Mann sein, der Euch aus der Not geholfen hat! Habt Ihr ihm dafür eine Braut versprochen, so muss Euer Wort gehalten werden."
Es war schade, dass das Gesicht des Bärenhäuters von Schmutz und Haaren bedeckt war, sonst hätte man sehen können, wie ihm das Herz im Leibe lachte, als er diese Wort hörte. Er nahm einen Ring von seinem Finger, brach ihn entzwei und gab ihr die eine Hälfte; die andere behielt er für sich. In ihre Hälfte aber schrieb er seinen Namen, und in seine Hälfte schrieb er ihren Namen und bat sie, ihr Stück gut aufzuheben. Hierauf nahm er Abschied und sprach: "Ich muss noch drei Jahre wandern; komm' ich aber nicht wieder, so bist du frei, weil ich dann tot bin. Bitte aber Gott, dass er mir das Leben erhält!"
Die arme Braut kleidete sich ganz schwarz, und wenn sie an ihren Bräutigam dachte, so kamen ihr die Tränen in die Augen. Von ihren Schwestern ward ihr nichts als Hohn und Spott zuteil.
"Nimm dich in acht", sprach die älteste; "wenn du ihm die Hand reichst, so schlägt er dir mit der Tatze darauf!"
"Hüte dich", sagte die zweite; "die Bären lieben die Süßigkeit, und wenn du ihm gefällst, so frisst er dich auf!"
"Du musst nur immer seinen Willen tun", hub die älteste wieder an, "sonst fängt er an zu brummen!" Und die zweite fuhr fort; "Aber die Hochzeit wird lustig sein; Bären, die tanzen gut!"
Die Braut jedoch schwieg still und ließ sich nicht irremachen.
Der Bärenhäuter aber zog in der Welt umher, von einem Ort zum andern, tat Gutes, wo er konnte, und gab den Armen reichlich, damit sie für ihn beteten.
Endlich, als der letzte Tag der sieben Jahre anbrach, ging er wieder hinaus auf die Heide und setzte sich unter den Ring von Bäumen. Nicht lange, so sauste der Wind, und der Teufel stand vor ihm und blickte ihn verdrießlich an; dann warf er ihm den alten Rock hin und verlangte seinen grünen zurück.
"Soweit sind wir noch nicht", antwortete der Bärenhäuter; "erst sollst du mich reinigen!" Der Teufel mochte wollen oder nicht, er musste Wasser holen, den Bärenhäuter abwaschen, ihm die Haare kämmen und die Nägel schneiden. Hierauf sah er wie ein tapferer Kriegsmann aus und war viel schöner als je vorher.
Als der Teufel glücklich abgezogen war, so war es dem Bärenhäuter ganz leicht ums Herz. Er ging in die Stadt, tat einen prächtigen Sammetrock an, setzte sich in einen Wagen mit vier Schimmeln bespannt und fuhr zu dem Haus seiner Braut. Niemand erkannte ihn. Der Vater hielt ihn für einen vornehmen Feldobersten und führte ihn in das Zimmer, wo seine Töchter saßen. Er musste sich zwischen den beiden ältesten niederlassen. Sie schenkten ihm Wein ein, legten ihm die besten Bissen vor und meinten, sie hätten keinen schönern Mann auf der Welt gesehen. Die Braut aber saß in schwarzem Kleide ihm gegenüber, schlug die Augen nicht auf und sprach kein Wort. Als er endlich den Vater fragte, ob er ihm eine seiner Töchter zur Frau geben wollte, so sprangen die beiden ältesten auf, liefen in ihre Kammer und wollten prächtige Kleider anziehen; denn eine jede bildete sich ein, sie wäre die Auserwählte.
Sobald der Fremde mit seiner Braut allein war, holte er den halben Ring hervor und warf ihn in einen Becher mit Wein, den er ihr über den Tisch reichte. Sie nahm ihn an; aber als sie getrunken hatte und den halben Ring auf dem Grund liegen fand, so schlug ihr das Herz. Sie holte die andere Hälfte, die sie an einem Band um den Hals trug, hielt sie daran, und es zeigte sich, dass beide Teile vollkommen zueinander passten.
Da sprach er: "Ich bin dein verlobter Bräutigam, den du als Bärenhäuter gesehen hast; aber durch Gottes Gnade habe ich meine menschliche Gestalt wiedererhalten und bin wieder rein geworden." Er ging auf sie zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss.
Indem kamen die beiden Schwestern in vollem Putz herein, und als sie sahen, dass der schöne Mann der Jüngsten zuteil geworden war, und hörten, dass das der Bärenhäuter war, liefen sie voll Zorn und Wut hinaus; die eine ersäufte sich im Brunnen, die andere erhängte sich an einem Baum. Am Abend klopfte jemand an der Tür, und als der Bräutigam öffnete, so war's der Teufel im grünen Rock, der sprach: "Siehst du, nun habe ich zwei Seelen für deine eine!"

Die Gänsemagd

Es lebte einmal in alter Zeit eine Königin. Ihr Gemahl war schon viele Jahre tot, und sie hatte niemand mehr in der Welt als eine schöne Tochter. Diese Prinzessin war an einen Königssohn versprochen, dessen Reich erst nach vielen Wegstunden zu erreichen war. Als die Zeit kam, da die Prinzessin vermählt werden sollte, packte ihre Mutter viel köstliches Gerät und Geschmeide ein, Gold und Silber, Becher und Kleinodien, alles also, was zu einem königlichen Brautschatz gehört. Auch gab sie ihr eine Kammerfrau mit. Sie sollte die Braut zum Königssohn bringen. Jede erhielt ein Pferd, und das Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen. Zur Abschiedsstunde begab sich die alte Königin in das Schlafgemach, nahm ein Messerchen und schnitt sich damit in einen Finger, dass er blutete. Sie hielt ein weiß Tüchlein darunter und ließ drei Tropfen Blut hineinfallen. Dann gab sie ihrer Tochter das Tüchlein und sprach: "Liebes Kind, verwahre das Tüchlein gut und erinnere dich der Blutstropfen, wenn du in Not gerätst." Darauf setzten sich die Königstochter und die Kammerfrau auf ihre Pferde und ritten fort. Sie waren noch kaum eine Stunde unterwegs, da empfand die Königstochter heißen Durst und sprach zu ihrer Kammerfrau: "Steig ab und schöpfe mir etwas Wasser aus dem Bach. Ich möchte trinken."
"Wenn ihr Durst habt, antwortete die Kammerfrau, "so steigt selbst vom Pferd und geht zum Bach. Ich mag nicht eure Magd sein."
Da stieg die Königstochter vom Pferd, ging zum Bach und trank, ohne dass ihr die Kammerfrau den goldenen Becher dazu gereicht hätte, den sie von der Königin auf die Reise mitbekommen hatte. "Ach Gott!", sprach die Prinzessin dabei traurig.
Da antworteten die drei Blutstropfen: "Wenn das deine Mutter wüsste, das Herz im Leibe müsst ihr zerspringen." Die Königsbraut war so demütig, dass sie nichts darauf entgegnete und wieder zu Pferde stieg. So ritten sie etliche Meilen weiter, aber es war so heiß an diesem Tag, dass sie bald wieder großen Durst verspürte. Als sie an einen Fluss gelangten, bat sie wiederum die Kammerfrau: "Steig ab und gib mir aus meinem goldenen Becher zu trinken", denn sie hatte deren erste böse Worte längst vergessen.
Die Kammerfrau aber antwortete noch hochmütiger: "Steigt ab, wenn ihr trinken wollt, ich bin nicht eure Magd." Da stieg die Königstochter vom Pferd, beugte sich über das Wasser und weinte. "Ach Gott!" sprach sie voll Trauer, und die Blutstropfen antworteten wieder: "Wenn das deine Mutter wüsste, das Herz im Leibe würde ihr zerspringen." Als die Königstochter trank, fiel ihr das Tüchlein mit den Blutstropfen ins Wasser, ohne dass sie dessen gewahr wurde. Die Kammerfrau aber hatte es gesehen und freute sich darüber, denn jetzt wusste sie, dass sie Gewalt über die Königstochter hatte. Ohne die Blutstropfen war die Prinzessin machtlos. Als sie wieder auf ihr Pferd steigen wollte, sagte die Kammerfrau: "Setz dich auf meinen Gaul; Falada gehört von jetzt an mir."
Dann zwang sie die Prinzessin, die königlichen Kleider auszuziehen und ihre anzulegen. Außerdem musste sie schwören, dass sie am Hofe des Königssohns kein Wort von dem erzählen werde, was sich zugetragen hatte. Weil die Kammerfrau drohte, die Königstochter umzubringen, versprach diese ängstlich, den Willen der Bösen zu befolgen. Aber Falada hatte alles mitangesehen und -gehört und bewahrte alles wohl in seinem Gedächtnis.
Die Kammerfrau ritt nun auf Falada und die wahre Braut auf dem schlechteren Ross, und so zogen sie weiter, bis sie am Hofe des Königssohns eintrafen. Große Freude herrschte über ihre Ankunft; der Königssohn ging ihnen entgegen, hob die Kammerfrau Vom Pferde und hielt sie für seine Gemahlin. Sie wurde die Treppe hinaufgeführt zu den königlichen Gemächern. Die richtige Königstochter aber musste unten stehenbleiben. Zufällig stand der alte König am Fenster und sah die Prinzessin im Hofe stehen. Darauf fragte er die Kammerfrau, wen sie da als Begleiterin mitgebracht habe, denn es war ihm aufgefallen, wie zart und fein und schön das Mädchen drunten im Hofe war.
"Die hab ich mir unterwegs aufgelesen", erwiderte die falsche Braut, "gebt der Magd eine Arbeit zu verrichten, dass sie nicht müßig steht."
Der alte König hatte jedoch keine Arbeit für sie und sagte deshalb: "Schwere Arbeit habe ich keine, aber da habe ich einen kleinen Jungen, der mir die Gänse hütet. Er heißt Kürdchen, und ihm mag sie helfen."
Bald darauf sprach die falsche Braut zum jungen König: „Liebster Gemahl, tut mir einen Gefallen, lasst den Schinder rufen; er soll dem Pferd, worauf ich hergeritten kam, den Kopf abschlagen, denn es hat mich unterwegs geärgert.“
In Wahrheit fürchtete sie, das Pferd könne von dem erzählen, was es gesehen hatte. Der junge König ließ also den Henker rufen, und der treue Falada sollte sterben. Das kam nun auch der richtigen Königstochter zu Ohren, und sie versprach dem Henker heimlich ein Stück Geld, wenn er ihr einen kleinen Dienst erweisen wolle. Die Stadt hatte nämlich ein großes, dunkles Tor, durch das sie morgens und abends mit Kürdchen und den Gänsen gehen musste. "Nagelt Faladas Kopf unter das Tor", bat sie den Henker. Nachdem ihr der Schindersknecht versprochen hatte, so zu verfahren, hieb er Faladas Kopf mit dem Schwerte ab und nagelte ihn danach unter das finstere Tor.
Frühmorgens, als sie die Gänse durch das Tor trieb, sprach die Königstochter im Vorübergehen:
,,0 du Falada, da du hangest."

Da antwortete der Kopf:
„0 du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüsste,
ihr Herz tät ihr zerspringen."

Schweigend zog sie hinaus aufs Feld. Dort setzte sie sich nieder, machte ihre Haare auf, die in der Sonne glänzten wie reines Gold, und Kürdchen freute sich daran und wollte ihr ein paar ausreißen.
Da sprach sie:
"Wehe, wehe Windchen!
Nimm Kürdchen sein Hütchen und lass'n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt und wieder aufgesatzt."

Da kam ein so starker Wind, dass es Kürdchens Hut über die Felder wehte und er ihm nachlaufen musste. Bis er wieder zurück war, hatte sie ihre Haare gekämmt und wieder aufgesteckt, so dass er keins davon erwischen konnte. Kürdchen war darüber böse und sprach nicht mit ihr, und so hüteten sie die Gänse, bis es Abend wurde. Darauf zogen sie wieder zur Stadt zurück.
Am andern Morgen, als sie wieder durch das finstere Tor hinauszogen, sprach das Mädchen:
,,0 du Falada, da du hangest."

Darauf antwortete Falada:
,,0 du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüsste,
das Herz tät ihr zerspringen."

Draußen setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing an, ihr Haar zu kämmen, und Kürdchen lief hinzu und wollte einige erhaschen. Aber wieder wie beim ersten Mal bat sie den Wind, ihr beizustehen und wieder trieb der Wind sein Spiel mit Kürdchens Hut. Als der Junge zurückkam, hatte sie ihre Haare gekämmt und aufgesteckt, und er konnte keines davon erwischen. So hüteten sie die Gänse, bis es Abend wurde. Als sie aber heimgekommen waren, ging Kürdchen zu dem alten König und sagte: "Mit dem Mädchen will ich nicht länger Gänse hüten."
"Warum denn nicht?", fragte der alte König.
"Ei, ei", erwiderte Kürdchen, "morgens, wenn wir mit den Gänsen durch das finstere Tor die Stadt verlassen, redet sie den Gaulskopf an, der dort angenagelt ist und sagt:
,0 du Falada, da du hangest.'

Und dann antwortet der Kopf:
,0 du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüsste,
das Herz tät ihr zerspringen."

Auch was auf der Gänsewiese geschah, erzählte Kürdchen und dass er seinem Hut im Winde nachlaufen müsse. Darauf befahl ihm der alte König, am nächsten Tage wieder mit dem Mädchen die Gänse hinauszutreiben. Er selbst aber versteckte sich hinter dem finsteren Tor und hörte, wie das Mädchen mit dem Kopf des Pferdes sprach. Dann schlich er den beiden nach aufs Feld und versteckte sich hinter einem Busch auf der Wiese. Gar bald sah er, wie die Gänsemagd ihre Haare los flocht und dass sie in der Sonne glänzten wie reines Gold. Und er sah auch, wie Kürdchen nach ihren Haaren greifen wollte und wie ein Windstoß heranfuhr und Kürdchens Hut entführte, während sie ihre goldenen Haare kämmte und wieder aufsteckte. Unbemerkt eilte er zur Stadt zurück. Am Abend aber ließ er die Gänsemagd zu sich rufen und fragte sie, warum sie denn so handle.
"Das darf ich euch nicht sagen, Herr König", erwiderte sie, "und darf auch keinem Menschen mein Leid klagen, denn so habe ich einst geschworen, weil ich sonst mein Leben verloren hätte."
Er drang jedoch in sie, konnte aber nichts aus ihr herausbringen. Da sprach er: "Wenn du mir nichts sagen willst, so klag dem eisernen Ofen da dein Leid", und verließ sie.
Weinend kroch sie in den eisernen Ofen, da sie sich nun ganz verlassen glaubte und klagte: "Da sitze ich nun von
aller Welt ausgestoßen und bin doch eine Königstochter. Eine falsche Kammerfrau hat mich dazu gezwungen, meine königlichen Kleider abzulegen, und hat mir auch meinen Bräutigam gestohlen, und ich muss als Gänsemagd gemeine Dienste tun. Wenn da meine Mutter wüsste, das Herz im Leib müsst ihr zerspringen."
Der alte König stand außen an der Ofenröhre und hörte alles, was sie sprach. Da kam er wieder herein hieß sie aus dem Ofen kriechen und befahl, dass man ihr königliche Kleider bringe. Danach rief er seinen Sohn herbei und bedeutete ihm, dass er die falsche Braut erwählt habe, die wahre stehe hier. Darüber war der junge König herzensfroh, als er ihre Schönheit erblickte und sie so voller Demut sah. Jetzt wurde ein großes Mahl gerichtet, zu dem der König a1le Verwandten und Bekannten und guten Freunde bat. Oben an der Tafel saß der Bräutigam. Auf die eine Seite musste sich die richtige Königstochter setzen und die Kammerfrau auf die andere. Aber die Kammerfrau war so verblendet in ihrem Hochmut, dass sie die richtige Königstochter, die nun in schönen Kleidern an der Tafel saß, gar nicht mehr erkannte. Als sie alle gegessen und getrunken hatten und guten Mutes waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Rätsel auf. "Was ist eine solche wer“, fragte er sie, "die ihre wahre Herrin verleumdet und ihren wirklichen Herrn betrogen hat?"
Da antwortete die falsche Braut:: "Ein solches Weib verdient nichts anderes, als dass sie splitternackt in ein Fass gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist. Davor sollen zwei Pferde gespannt werden, die das Weib durch die Gassen der Stadt zu Tode schleifen."
"So hast du dein eigenes Urteil gesprochen", erwiderte der alte König", denn du hast so gehandelt."
Als das Urteil vollzogen war, vermählte sich der junge König mit der richtigen Königstochter, und beide herrschten von nun an im Reich des alten Königs und waren zufrieden und glücklich
.

Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Ein Vater hatte zwei Söhne. Der eine davon, der ältere, war klug und geschickt und wusste sich in alles wohl zu fügen, der jüngere aber war dumm und konnte nichts begreifen und lernen. Wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: "Mit dem wird der Vater noch seine liebe Not haben!" Wenn nun etwas zu tun war, so musste das der ältere verrichten. Hieß ihn aber der Vater zu später Stunde oder gar mitten in der Nacht etwas holen und ging der Weg dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er: "Nein, Vater, nein, dahin gehe ich nicht, es gruselt mir!", denn er fürchtete sich. "Ach, es gruselt mir!", sprach auch des Abends gar mancher, wenn beim Feuer Geschichten erzählt wurden, dass einem die Haut schauderte. Der jüngere der beiden Brüder aber saß in einer Ecke, hörte sich das mit an und konnte nicht begreifen, was dieses Wort bedeuten sollte. "Immer sagen sie, es gruselt, es gruselt mir! Mir gruselt's nicht. Das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe!"
Nun geschah es, dass der Vater einmal zu ihm sprach: "Hör, du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, du musst auch endlich etwas lernen, damit du dir dein Brot selbst verdienst. Sieh nur, wie sich dein Bruder abmüht, aber an dir ist Hopfen und Malz verloren."
"Ei, Vater", antwortete der Einfältige, "ich will gerne etwas lernen. Ja, wenn's nur anginge, so wollte ich lernen, dass mir's gruselte, denn davon verstehe ich noch gar nichts." Als das der ältere hörte, lachte er und dachte: "Du lieber Gott, welch ein Dummbart ist doch mein Bruder, aus dem wird sein Lebtag nichts, denn was ein Häkchen werden will, muss sich beizeiten krümmen."
Der Vater aber seufzte: "Das Gruseln willst du also lernen. Du wirst es schon noch erfahren, aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen."
Bald danach kam der Küster zu Besuch ins Haus.
Dem klagte der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen sei, er wisse nichts und lerne nichts. "Denkt Euch", sagte er, "als ich ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wolle, hat er verlangt, das Gruseln zu lernen."
"Wenn's weiter nichts ist", antwortete der Küster, "so kann er das bei mir lernen. Tut ihn nur zu mir, ich werde ihn schon abhobeln."
Der Vater war es zufrieden, weil er dachte, der Junge werde so ein wenig zugestutzt.
Also nahm ihn der Küster zu sich ins Haus, und er musste nun Tag für Tag die Kirchenglocken läuten. Nach einiger Zeit weckte er ihn einmal um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, auf den Kirchturm steigen und läuten. "Du sollst schon lernen, was das Gruseln ist", dachte er und ging heimlich voraus. Als der Junge oben war, sich umdrehte und das Glockenseil fassen wollte, sah er auf der Treppe, dem Schalloch gegenüber, eine weiße Gestalt stehen. "Wer da?", rief er, aber die Gestalt antwortete nicht und regte und bewegte sich auch nicht. "Gib Antwort", rief der Junge, "oder mach, dass du fort kommst, du hast hier in der Nacht nichts zu schaffen." Der Küster aber blieb unbeweglich stehen, damit ihn der Junge für ein Gespenst halten solle.
Zum zweiten Mal rief der Junge: "Was willst du hier? Sprich, wenn du ein ehrlicher Kerl bist, oder ich werfe dich die Treppe hinab." So schlimm wird das nicht gemeint sein, dachte der Küster, gab keinen Laut von sich und stand da, als ob er aus Stein gemeißelt wäre. Da rief ihn der Junge zum dritten Male an, und als auch das vergeblich gewesen war, nahm er einen Anlauf und stieß das Gespenst die Treppe hinab, dass es zehn Stufen hinunterfiel und in einer Ecke liegen blieb. Darauf läutete er die Glocke, ging heim und legte sich, ohne ein Wort zu sagen, ins Bett und schlief ein.
Lange wartete die Küstersfrau auf ihren Mann, aber er wollte und wollte nicht kommen. Da packte sie die Angst. Sie weckte den Jungen und fragte: "Weißt du nicht, wo mein Mann geblieben ist?"
"Nein", antwortete der Junge. "Aber er ist doch vor dir auf den Turm gestiegen!"
"So", gähnte der Junge, "da hat einer dem Schalloch gegenüber auf der Treppe gestanden, aber weil er mir auf meine Fragen keine Antwort gegeben und auch nicht weggehen wollte, so habe ich ihn für einen Spitzbuben gehalten und ihn die Treppe hinuntergestoßen. Geht nur hin, Frau, so werdet Ihr sehen, ob er's gewesen ist. Mir sollte es leidtun."
Geschwind machte sich die Frau zum Turm auf und fand auch ihren Mann, der jammernd in einer Ecke lag und ein Bein gebrochen hatte. Sie trug ihn ins Haus und lief danach laut jammernd zu dem Vater des Tölpels. "Euer Junge", rief sie, "hat ein großes Unglück angerichtet. Meinen Mann hat er die Treppe hinuntergeworfen, dass er ein Bein gebrochen hat. Schafft mir den Taugenichts so schnell als möglich aus dem Hause."
Darüber erschrak der Vater, eilte ins Haus des Küsters und schalt den Jungen aus. "Was sind das für gottlose Streiche", rief er, "die muss dir der Böse eingegeben haben."
"Vater", erwiderte der Junge, "hört mich an, denn ich bin unschuldig. Es stand da einer in der Nacht wie ein Kerl, der Böses im Sinne hat. Ich wusste nicht, wer's war und habe ihn dreimal ermahnt, ein Wort zu reden oder fortzugehen."
"Ach", jammerte der Vater, "mit dir erlebe ich nur Unglück, geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr ansehen."
"Gerne, Vater, recht gerne", antwortete er, "wartet nur, bis es Tag ist, dann will ich mich auf den Weg machen und das Gruseln lernen. Das ist doch eine Kunst, die mich ernähren kann."
"Lerne du nur, was du willst", entgegnete der Vater, "mir ist alles einerlei. Da hast du fünfzig Taler, damit zieh in die weite Welt. Sage aber keinem Menschen, wo du herkommst und wer dein Vater ist, denn ich muss mich deiner schämen."
"Wenn Ihr nicht mehr von mir verlangt", erwiderte der Schlingel, "dann will ich tun, wie Ihr es haben wollt."
Als der Tag heraufkam, steckte der Junge die fünfzig Taler in die Tasche, schritt hinaus zur großen Landstraße und sprach immer vor sich hin: "Wenn mir's nur gruselte, wenn mir's nur gruselte!" Da näherte sich ein Mann. Als er das Gespräch hörte, das der Junge mit sich selber führte, blieb er erst verwundert stehen und gesellte sich ihm dann wortlos zu. Kaum aber waren sie so weit, dass man den Galgen sehen konnte, da sagte er zu ihm: "Siehst du, mein Junge, dort ist der Baum, wo sieben mit des Seilers Tochter Hochzeit gehalten haben und jetzt das Fliegen lernen. Setz dich darunter und warte, bis die Nacht kommt, so wirst du schon das Gruseln lernen."
"Wenn's weiter nichts ist", antwortete der Tölpel, "das ist leicht getan. Lerne ich aber so geschwind das Gruseln, so sollst du morgen früh meine fünfzig Taler haben." Da ging der Junge zu dem Galgen, setzte sich darunter und wartete, bis es dunkel wurde. Weil ihn aber fror, machte er schließlich ein Feuer an. So verstrich Stunde um Stunde. Um Mitternacht ging der Wind so kalt, dass er trotz des Feuers nicht warm werden wollte. Und als der Wind die Gehenkten gegeneinanderstieß, dass sie sich hin- und herbewegten, da dachte er: "Du frierst unten beim Feuer, wie mögen die da oben erst frieren und zappeln!" Weil er ein mitleidiges Herz hatte, legte er die Leiter an den Galgen, stieg hinauf, knüpfte einen nach dem andern los und holte sie alle sieben herab. Darauf schürte er das Feuer, blies es an und setzte sie rings herum, dass sie sich wärmen sollten. Aber sie saßen da und regten sich nicht, auch nicht, als das Feuer ihre Kleider ergriff. Da sprach er ärgerlich: "Nehmt euch in acht, sonst häng' ich euch wieder hinauf."
Die Toten aber hörten nichts, schwiegen fort und ließen ihre Lumpen weiter brennen. Da wurde er böse: "Wenn ihr nicht achtgeben wollt", rief er, "so kann ich euch auch nicht helfen. Mit euch verbrennen will ich nicht." Er zerrte sie zur Leiter, stieg mit ihnen hinauf und hängte sie der Reihe nach wieder an den Galgen. Darauf setzte er sich wieder an das Feuer und schlief endlich ein.
Am anderen Morgen kam der Mann zu ihm und wollte die fünfzig Taler haben. "jetzt weißt du wohl, was das Gruseln ist, nicht wahr?", fragte er.
"Nein", antwortete der Junge, "woher sollte ich's denn wissen? Die da droben haben das Maul nicht aufgetan und waren so dumm, dass sie die paar alten Lappen, die sie am Leibe haben, brennen ließen, als ich sie gestern in der kalten Nacht ans Feuer setzte."
Da erkannte der Mann, dass er die fünfzig Taler nicht erben werde, ging ärgerlich fort und sprach: "So einer ist mir noch nicht vorgekommen."
Auch der Junge zog weiter auf seinem Weg und fing dabei wieder an, vor sich hinzureden: "Ach, wenn mir's nur gruselte, ach, wenn mir's nur gruselte!"
Das hörte ein Fuhrmann, der Peitsche knallend hinter ihm kam. "Wer bist du denn?" fragte er.
"Ich weiß nicht", erwiderte der Junge.
"Aber wo du her bist, wirst du doch wissen?"
"Ich weiß nicht", entgegnete der Tölpel.
"Wer ist dein Vater?"
"Das darf ich nicht sagen, aber ich wollte, dass mir's gruselte, doch niemand kann mich's lehren."
"Lass dein albernes Geschwätz", sagte der Fuhrmann, "geh lieber mit mir. Ich will sehen, dass ich dich irgendwo unterbringe."
Des Abends gelangten die beiden zu einem Wirtshaus, wo sie übernachten wollten. Da sprach der Junge, als sie in die Stube traten, ganz laut: "Wenn mir's nur gruselte, wenn mir's nur gruselte!"
Der Wirt, der das hörte, lachte darüber und sagte: "Freund, wenn's dich danach gelüstet, sollst du hier eine Gelegenheit finden."
"Um Gottes willen", sagte die Wirtin, "schweig lieber still. So mancher Vorwitzige hat schon das Leben verloren. Es wäre ein Jammer, wenn so schöne Augen das Tageslicht nicht wieder erblicken sollten."
Der Junge aber erklärte: "Ich will's einmal lernen, das Gruseln, deshalb bin ich ja ausgezogen. Lehrt mich also, wo ich's lernen kann und wenn's noch so schwer wäre." Er ließ dem Wirt keine Ruhe, bis dieser erzählte, nicht weit vom Wirtshaus stehe ein verwünschtes Schloss, wo einer wohl das Gruseln lernen könne, wenn er nur drei Nächte darin zubringen und wachen wolle. Der König habe dem, der solches wage, seine Tochter zur Frau versprochen; die sei die schönste Jungfrau auf der weiten Erde. "Im Schlosse stecken auch große Schätze, die einen Armen reich genug machen können, aber sie sind von bösen Geistern bewacht", sagte er. "Schon viele sind wohl hinein-, aber noch keiner ist wieder lebendig aus dem Schloss herausgekommen!"
Am anderen Morgen ging der Junge zum König und sprach: "Wenn's erlaubt ist, Herr König, so will ich wohl drei Nächte in dem verwünschten Schlosse wachen."
Der König sah ihn an, und weil er Gefallen an dem Jungen fand, erwiderte er: "Geh also hinein und weil du's bist, darfst du dir noch dreierlei ausbitten, aber es müssen leblose Dinge sein, die du mit ins Schloss nehmen kannst."
Da antwortete er: "So bitte ich um ein Feuer, eine Drehbank und eine Schnitzbank mit einem Messer."
Dies alles ließ der König bei Tage ins Schloss hinauf schaffen. Als die Nacht anbrach, schritt auch der Junge hinauf in die verwünschte Burg. In einer Kammer entfachte er ein helles Feuer, stellte die Schnitzbank mit dem Messer daneben und setzte sich auf die Drehbank. "Ach, wenn mir's nur gruselte!" sprach er, "aber hier werde ich's wohl auch nicht lernen." Stunde um Stunde verstrich. Gegen Mitternacht wollte er das Feuer schüren; als er aber in die Flammen blies, schrie es plötzlich aus einer Ecke: "Au, miau, miau! Uns friert, uns friert!"
"Was", rief er, "euch Narren friert's? Kommt zu mir ans Feuer und wärmt euch!" Kaum hatte er das gesprochen, da nahten sich zwei große schwarze Katzen in einem gewaltigen Sprung, setzten sich ihm zu beiden Seiten und blickten ihn wild aus feurigen Augen an. Nach einer Weile knurrten sie: "Kamerad, wollen wir nicht Karten spielen?"
"Warum nicht!" antwortete er, "aber zeigt erst einmal eure Pfoten." Fauchend streckten sie die Krallen her. "Ei", sagte er, "was habt ihr doch für lange Nägel! Wartet, die muss ich euch erst schneiden." Damit packte er sie beim Kragen, hob sie auf die Schnitzbank und schraubte ihnen die Pfoten fest. "Euch habe ich auf die Finger gesehen", dachte er, "da vergeht mir die Lust zum Kartenspiel", schlug sie tot und warf sie aus dem Fenster hinaus in ein tiefes Wasser. Als er aber die zwei zum Schweigen gebracht hatte, und sich wieder ans Feuer setzen wollte, kamen aus allen Ecken und Enden schwarze Katzen und schwarze Hunde an glühenden Ketten, so dass er sich kaum mehr vor ihnen schützen konnte. Sie schrien gräulich, traten auf das Feuer, zerrten das Holz auseinander und wollten die Glut verlöschen. Eine Weile sah er sich das ruhig an, als es ihm aber zu arg wurde, griff er nach seinem Schnitzmesser und rief: " Fort mit euch, elendes Gesindel", und schlug auf sie ein. Ein Teil der Katzen und Hunde entfloh, die anderen schlug er tot und warf sie aus dem Fenster ins Wasser. Dann entfachte er erneut sein Feuer und wärmte sich daran. Wie er so dasaß, wollten ihm die Augen nicht länger offenbleiben, und er bekam Lust zu schlafen. Er blickte sich um und gewahrte in einer Zimmerecke ein großes Bett. "Das ist mir eben recht", sprach er und legte sich hinein. Kaum aber hatte er die Augen zugetan, da fing das Bett an, mit ihm im ganzen Schloss herumzufahren. "Recht so", rief er, "nur immer zu so, aber schneller, schneller!" Das Bett rollte fort, als wären sechs Pferde vorgespannt; über Schwellen und Treppen ging es, auf und ab, und auf einmal - hopp, hopp! - warf es um, dass das unterste zu oberst zu liegen kam und dass der ganze Plunder von Decken und Kissen wie ein Berg auf ihm lag. Er kroch darunter hervor. "Nun mag fahren, wer Lust dazu hat", dachte er, schritt zu dem Gemach zurück, legte sich an sein Feuer und schlief, bis es Tag war.
Früh am Morgen kam der König, und als er ihn auf der Erde liegen sah, glaubte er, die Geister und Gespenster des Schlosses hätten ihn umgebracht. "Es ist doch schade um den jungen, schönen Menschen", seufzte er laut.
Das hörte der Junge, richtete sich auf und sprach: "So weit ist's noch nicht, Herr König!" Da verwunderte sich der König, freute sich aber über die Maßen und fragte ihn, wie es ihm ergangen sei.
"Recht gut", antwortete der Junge, "eine Nacht ist herum und die zwei anderen werden auch herumgehen." Als er zum Wirt kam, machte der große Augen. "Ich dachte nicht", sprach der Mann, "dass ich dich lebendig wiedersehen würde. Hast du nun gelernt, was das Gruseln ist?"
"Nein", sagte der Tölpel, "es ist alles vergeblich. Wenn mir's nur einer sagen könnte!"
In der zweiten Nacht stieg er abermals hinauf in das verwünschte Schloss, setzte sich ans Feuer und fing wieder an, sein altes Lied zu singen: "Wenn mir's nur gruselte, wenn mir's nur gruselte!" Plötzlich um Mitternacht lärmte und polterte es. Auf einmal aber war es still. Endlich schoss ein halber Mensch den Schornstein herab und fiel vor ihm mit lautem Getöse nieder. "He da!" rief er, "noch ein halber gehört dazu, das ist zu wenig." Da ging das Lärmen und Toben von neuem an. Es heulte und zischte und johlte, und dabei fiel auch die andere Hälfte herab. "Warte", sprach er, "ich will dir erst das Feuer ein wenig anblasen." Als er das getan hatte und sich umsah, waren die beiden Menschenstücke zusammengefahren und saß ein gräulicher Mensch auf seinem Platz. "So haben wir nicht gewettet", rief der Junge, "die Bank ist mein." Der grässliche Kerl verwehrte ihm den Sitz, aber der Junge drängte ihn gewaltsam weg und setzte sich wieder auf seinen Platz. Da fielen noch einige solcher Ungetüme herab, holten neun Totenknochen und zwei Totenköpfe und fingen an, Kegel zu spielen. Endlich sagte einer: "Wenn du Geld hast, kannst du mittun."
"Geld genug", antwortete er, "aber eure Kugeln sind nicht richtig rund." Er setzte die Totenköpfe auf die Drehbank und drehte sie rund. ,,So, jetzt werden sie besser rollen", sprach er, "heida! Nun wird's lustig." Nicht lange danach schlug es zwölf, und mit einem Mal war der Geisterspuk vor seinen Augen verschwunden. Da legte er sich nieder und schlief bis in den Tag hinein.
Am anderen Morgen nahte sich der König. "Wie ist dir's dieses Mal ergangen", fragte er.
"Ei was", erwiderte der Junge, "ich habe gekegelt und ein paar lumpige Heller verloren."
"Und wie war es mit dem Gruseln?"
"Das habe ich wieder nicht gelernt. Lustig war's. Ja, wenn ich nur wüsste, was Gruseln ist!"
In der dritten Nacht setzte er sich wieder auf seine Bank. "Wenn es mir nur gruselte!" dachte er verdrießlich. Um Mitternacht kamen sechs große Männer und brachten eine Totenlade, und da sprach er: "Das ist gewiss mein Vetterchen, das erst vor ein paar Tagen gestorben ist", winkte mit dem Finger und rief: "Komm, Vetterchen, komm!" Wortlos stellten die Männer den Sarg zur Erde. Da nahm er den Deckel ab. Ein toter Mann lag im Sarg. Mit der Hand fuhr er ihm über das Gesicht. Es war kalt wie Eis. "Dich muss ich ein bisschen wärmen", dachte er, ging ans Feuer, wärmte seine Hand und legte sie ihm aufs Gesicht. Aber der Tote blieb kalt. Da nahm er ihn heraus aus dem Sarg, setzte sich vor die Glut, legte ihn quer über den Schoß und rieb ihm die Arme, damit das Blut wieder in Bewegung gerate. Als aber auch das nichts helfen wollte, trug er ihn ins Bett, deckte ihn zu und legte sich neben ihn. über eine Weile wurde der Tote warm und begann, sich zu regen. Da sprach der Junge: "Siehst du, Vetterchen, hätt' ich dich nicht gewärmt, wer weiß, was aus dir geworden wäre!"
Der Tote aber rief mit schrecklicher Stimme: "Dafür will ich dich erwürgen!"
"Was", sagte der Junge, "ist das dein Dank? Gleich sollst du wieder in den Sarg!" hob ihn hoch aus dem Bett, trug ihn zum Sarg zurück und schlug den Deckel über ihm zu. Da kamen die sechs Männer und trugen den Leichnam wieder fort. "Es will mir nicht gruseln", jammerte er, "hier lerne ich's mein Lebtag nicht."
Plötzlich trat ein Mann herein, der war größer als alle anderen, ein alter Mensch mit einem langen, weißen Bart. "Du jämmerlicher Wicht", rief der Riese, "nun sollst du lernen, was das Gruseln ist, denn du musst sterben."
"Nicht so schnell", antwortete der Junge unerschrocken, "soll ich sterben, so muss ich wohl auch dabei sein."
"Dich will ich schon packen", grollte der Unhold.
"Sachte, sachte, so stark wie du bin ich auch und wohl noch stärker."
"Das wollen wir sehen", entgegnete der Alte, "bist du stärker als ich, so will ich dich ziehen lassen." Durch dunkle Gänge führte er ihn zu einem Schmiedefeuer, ergriff eine Axt und schlug einen Amboss mit einem Schlag in die Erde.
"Das kann ich noch besser", höhnte der Junge und ging zu einem zweiten Amboss. Der Unhold stellte sich neben ihn. Lang hing sein weißer Bart herab. Da fasste der Junge die Axt, spaltete den Amboss auf einen Hieb und klemmte den Bart des Alten mit hinein. "Nun habe ich dich, jetzt ist das Sterben an dir", rief er, dann fasste er eine Eisenstange und schlug auf den Riesen ein, bis der gräuliche Kerl um Gnade bat und ihm große Reichtümer zu schenken versprach. Der Junge zog die Axt heraus und der Alte führte ihn durch die Gänge zurück in einen Keller. Drei Kästen voll Gold lagen darin. "Der eine", sagte er, soll den Armen gehören, der andere dem König, der dritte aber sei dein." Mit einem Male dröhnten zwölf dumpfe Glockenschläge. Da war der Riese verschwunden, und der Junge stand im Finstern. "Ich werde mir doch heraushelfen können", dachte er, tappte herum und fand den Weg in die Kammer zurück, wo sein Feuer noch lustig brannte.
An anderen Morgen kam der König und sagte: "Nun wirst du gelernt haben, was Gruseln ist."
"Nein", erwiderte der Junge, "mein toter Vetter war da und ein bärtiger Mann ist gekommen, der hat mir in einem Keller viel Gold gezeigt, aber was Gruseln ist, hat mich keiner gelehrt."
"Immerhin hast du das Schloss erlöst und sollst meine Tochter zur Gemahlin haben", erwiderte der König.
"Das ist alles recht und gut", antwortete der Junge darauf, "aber wenn ich jetzt auch dein Schwiegersohn bin, dann weiß ich immer noch nicht, was Gruseln ist."
Das Gold wurde aus dem Keller heraufgebracht und die Hochzeit gefeiert. Aber so vergnügt der Mann der Königstochter war, so wusste er doch nichts anderes zu sagen als immer nur: ,,Wenn mir' s doch gruselte, wenn mir's doch gruselte."
Das verdross die Königstochter sehr und sie klagte ihr Leid ihrem Kammermädchen.
Das Kammermädchen aber sprach: "Ich will Hilfe schaffen, das Gruseln soll er schon lernen." Sie ging hinaus zum Bach, der durch den Garten floss und holte sich einen Eimer voll Gründlinge. Nachts, als der junge König schlief, musste ihm seine Gemahlin die Decke wegziehen und den vollen Eimer über ihn ausschütten, dass die kleinen Fische um ihn herumzappelten. Da wachte er auf und rief: "Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist!"

Die drei Federn

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne, davon waren zwei klug und gescheit, aber der dritte sprach nicht viel, war einfältig und hieß nur der Dummling. Als der König alt und schwach ward und an sein Ende dachte, wusste er nicht, welcher von seinen Söhnen nach ihm das Reich erben sollte. Da sprach e zu ihnen: „Zieht aus und wer mir den feinsten Teppich bringt, der soll nach meinem Tod König sein.“ Und damit es keinen Streit unter ihnen gab, führte er sie vor sein Schloss, blies drei Federn in die Luft und sprach: „Wie die fliegen, so sollt ihr ziehen.“ Die eine Feder flog nach Osten, die andere nach Westen, die dritte flog aber geradeaus, und flog nicht weit, sondern fiel bald zur Erde. Nun ging der eine Bruder rechts, der andere ging links, und sie lachten den Dummling aus, der bei der dritten Feder da, wo sie niedergefallen war, bleiben musste.
Der Dummling setzte sich nieder und war traurig. Da bemerkte er auf einmal, dass neben der Feder eine Falltüre lag. Er hob sie in die Höhe, fand eine Treppe und stieg hinab. Da kam er vor eine andere Türe, klopfte an und hörte, wie es inwendig rief:

„Jungfer grün und klein;
Hutzelbein,
Hutzelbeins Hündchen,
Hutzel hin und her,
lass geschwind sehen, wer draußen wär.“

Die Türe tat sich auf, und er sah eine große, dicke Itsche (Kröte) sitzen und rings um sie her eine Menge kleiner Itschen. Die dicke Itsche fragte, was sein Begehren wäre. Er antwortete: „Ich hätte gerne den schönsten und feinsten Teppich.“
Da rief sie eine junge und sprach:

„Jungfer grün und klein,
Hutzelbein,
Hutzelbeins Hündechen,
Hutzel hin und her,
bring mir die große Schachtel her.“

Die junge Itsche holte die Schachtel und die dicke Itsche machte sie auf und gab dem Dummling einen Teppich heraus, so schön und so fein, wie oben auf der Erde keiner konnte gewoben werden. Da dankte er ihr und stieg wieder hinauf.
Die beiden andern ahtten aber ihren jüngsten Bruder für so albern gehalten, dass sie glaubten, er würde gar nichts finden und aufbringen.
„Was sollen wir uns mit Suchen groß Mühe geben“, sprachen sie, nahmen dem ersten besten Schäfersweib, das ihnen begegnete die groben Tücher vom Leib und trugen sie dem König heim.
Zu derselben Zeit kam auch der Dummling zurück und brachte seinen schönen Teppich, und als der König den sah, erstaunte er und sprach: „Wenn es dem Recht nach gehen soll, so gehört dem jüngsten das Königreich.“
Aber die zwei andern ließen dem Vater keine Ruhe und sagten, unmöglich könnte der Dummling, dem es in allen Dingen an Verstand fehlte, König werden und baten ihn, er möchte eine neue Bedingung machen. Da sagte der Vater: „Der soll das Reich erben, der mir den schönsten Ring bringt“, führte die drei Brüder hinaus und blies drei Federn in die Luft, denen sie nachgehen sollten. Die zwei ältesten zogen wieder nach Osten und Westen, und für den Dummling flog die Feder geradeaus und fiel neben der Erdtüre nieder. Da stieg er wieder hinab zu der dicken Itsche und sagte ihr, dass er den schönsten Ring brauche. Sie ließ sich gleich ihre große Schachtel holen und gab ihm daraus einen Ring, der glänzte von Edelsteinen und war so schön, dass ihn kein Goldschmied auf der Erde hätte machen können.
Die zwei ältesten lachten über den Dummling der einen goldenen Ring suchen wollte, gaben sich gar keine Mühe, sondern schlugen einem alten Wagenring die Nägel aus und brachten ihn dem König. Als aber der Dummling seinen goldenen Ring vorzeigte, so sprach der Vater abermals: „Ihm gehört das Reich.“
Die zwei ältesten ließen nicht ab, den König zu quälen, bis er noch eine dritte Bedingung machte und den Ausspruch tat, der sollte das Reich haben, der die schönste Frau heimbrächte. Die drei Federn blies er nochmals in die Luft, und sie flogen wie die vorigen Male.
Da ging der Dummling ohne weiteres hinab zu der dicken Itsche und sprach: „Ich soll die schönste Frau heimbringen.“
„Ei“, antwortete die Itsche, „die schönste Frau! Die ist nicht gleich zur Hand, aber du sollst sie doch haben.“ Sie gab ihm eine ausgehöhlte gelbe Rübe mit sechs Mäuschen bespannt. Da sprach der Dummling traurig: „Was soll ich damit anfangen?“
Die Itsche antwortete: „setze nur eine von meinen kleinen Itschen hinein.“
Da griff er aufs Geratewohl eine aus dem Kreis und setzte sie in die gelbe Kutsche, aber kaum saß sie darin, so ward sie zu einem wunderschönen Fräulein, die Rübe zur Kutsche, und die sechs Mäuschen zu Pferden. Da küsste er sie, jagte mit den Pferden davon und brachte sie zu dem König. Seine Brüder kamen nach, die hatten sich gar keine Mühe gegeben, eine schöne Frau zu suchen, sondern die ersten besten Bauernweiber mitgenommen. Als der König sie erblickte, sprach er: „Dem jüngsten gehört das Reich nach meinem Tod.“
Aber die zwei ältesten betäubten die Ohren des Königs aufs neue mit ihrem Geschrei: „Wir können’s nicht zugeben, dass der Dummling König wird“, und verlangten, der sollte den Vorzug haben, dessen Frau durch einen Ring springen könnte, der da mitten in dem Saal hing. Sie dachten, die Bauernweiber können das wohl, die sind stark genug, aber das zarte Fräulein springt sich tot. Der alte König gab auch das zu. Da sprangen die zwei Bauernweiber, sprangen durch den Ring, waren aber so plump, dass sie fielen und ihre groben Arme und Beine entzweibrachen. Darauf sprang das schöne Fräulein, das der Dummling mitgebracht hatte, und sprang so leicht hindurch wie ein Reh, und aller Widerspruch musste aufhören. Also erhielt er die Krone und hat lange in Weisheit geherrscht.

Frau Holle

Eine Witwe hatte zwei Töchter. Die eine war schön und fleißig, die andere aber hässlich und faul. Die Frau hatte die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber als die andere, die alle Arbeit im Hause verrichten musste. Täglich musste das arme Mädchen am Brunnen sitzen und so viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang. Einmal trug es sich zu, dass die Spule ganz blutig war. Es bückte sich damit in den Brunnen, um sie abzuwaschen. Aber die Spule sprang ihm aus der Hand und fiel ins Wasser hinab. Weinend lief es zur Stiefmutter und erzählte das Missgeschick. "Hast du die Spule hinunterfallen lassen", schalt die Frau unbarmherzig, "so hol sie auch wieder herauf." Das Mädchen kehrte zum Brunnen zurück und wusste nicht, was es beginnen solle. In seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung. Wie es erwachte und wieder zu sich kam, lag es auf einer schönen Wiese, wo viele tausend Blumen im Sonnenschein standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der voller Brote war.
"Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich", rief das Brot, "ich bin schon längst ausgebacken."
Es trat hinzu und holte mit dem Brotschieber alle Laibe heraus.
Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der voller Apfel hing und ihm zurief:
"Ach, schüttel mich, schüttel mich; wir Apfel sind alle miteinander reif." Da schüttelte es den Baum, dass die Apfel niederfielen, als regnete es. Danach, als es alle zusammengehäuft hatte, ging es weiter.
Endlich kam es zu einem kleinen Haus, aus dem eine alte Frau herausschaute. Weil sie aber große Zähne hatte, wurde ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief: " Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir. Wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich verrichtest, so soll dir's gut gehen. Du musst nur achtgeben, dass du mein Bett gut machst, es fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt. Ich bin die Frau Holle."
Weil die Alte ihm so gut zusprach, fasste sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Es schüttelte ihr das Bett auf, dass die Federn wie Schneeflocken umher flogen. Dafür hatte es auch ein gutes Leben bei ihr und erhielt kein böses Wort.
Als es aber eine Zeitlang bei der Frau Holle gewesen war, wurde es traurig und wusste anfangs selbst nicht, was ihm fehle. Endlich aber merkte es, dass es Heimweh hatte, obgleich es ihm hier vieltausendmal besser erging als zu Haus.
"Wenn es mir auch noch so gut hier geht", sagte es zu der alten Frau, "so kann ich doch nicht länger bleiben, ich muss wieder zu den meinen."
"Das gefällt mir, dass du wieder nach Hause verlangst", erwiderte die Frau Holle, "und weil du mir so treu gedient hast, will ich dich selbst zurückbringen." Sie nahm das Mädchen bei der Hand und führte es zu einem großen Tor. Als das Mädchen gerade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so dass es über und über davon bedeckt war. "Das sollst du haben", sprach die Frau Holle, "weil du so fleißig gewesen bist", und gab ihm auch die Spule wieder, die in den Brunnen hinabgefallen war.
Darauf wurde das Tor verschlossen, und das Mädchen fand sich wieder oben in der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus.
Als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief:
"Kikeriki,
unsere goldene Jungfrau ist wieder hie."
Das Mädchen ging hinein zur Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt vor ihr stand, wurde es von ihr und der Schwester gut aufgenommen. Es erzählte alles, was ihm begegnet war. Kaum hatte die Mutter gehört, wie es zu dem großen Reichtum gekommen war, da wollte sie auch der hässlichen und faulen Tochter dasselbe Glück verschaffen. Sie musste sich an den Brunnen setzen und spinnen. Damit ihre Spule blutig werde, stach sie sich in den Finger und stieß sich die Hand in eine Dornhecke. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein. Wie ihre Schwester kam sie zu der schönen Wiese und ging auf ihr weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder:
"Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich; ich bin schon längst ausgebacken."
Die Faule aber antwortete: "Ich habe keine Lust, mich schmutzig zu machen", und ging fort.
Bald kam sie zu dem Apfelbaum.
"Ach, schüttel mich, schüttel mich!" rief er ihr zu, "wir Apfel sind alle miteinander reif."
"Du kommst mir gerade recht", erwiderte sie, "da könnte mir einer auf den Kopf fallen", und ging weiter.
Als sie vor das Haus der Frau Holle kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und begab sich gleich in ihren Dienst. Am ersten Tage war sie fleißig und folgte der Frau Holle, denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken werde. Am zweiten Tage aber fing sie schon zu faulenzen an und am dritten noch mehr und wollte morgens gar nicht mehr aufstehen. Sie machte auch der Frau Holle das Bett nicht, wie sich's gehörte, und schüttelte es nicht, dass die Federn flogen. So wurde Frau Holle ihrer bald müde und sagte ihr den Dienst auf. Die Faule war das wohl zufrieden und glaubte, nun werde der Goldregen kommen. Frau Holle führte sie auch zu dem Tor, als sie aber darunter stand, wurde statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech ausgeschüttet. "Das ist zur Belohnung deiner Dienste", sagte die Frau Holle und schloss das Tor. Ganz mit Pech bedeckt, kehrte die Faule heim. Als sie der Hahn auf dem Brunnen sah, rief er:
"Kikeriki,
unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie."
Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte nicht abgehen, solange sie lebte.

Das Lämmchen und Fischchen

Es war einmal ein Brüderchen und Schwesterchen, die hatten sich herzlich lieb. Ihre rechte Mutter war aber tot, und sie hatten eine Stiefmutter, die war ihnen nicht gut und tat ihnen heimlich alles Leid an. Es trug sich zu, dass die zwei mit andern Kindern auf einer Wiese vor dem Haus spielten, und an der Wiese war ein Teich, der ging bis an die eine Seite vom Haus.
Die Kinder liefen da herum, kriegten sich und spielten Abzählens:

„Eneke, Beneke, lat mi liewen,
will di ock min Vügelken giewen.
Vügelken sall mi Strau söken,
Strau will ick den Köseken giewen,
Köseken sall mie Melk giewen,
Melk will ick den Bäcker giewen,
Bäcker sall mie ‚n Rocken backen,
Rocken will ick den Kätken giewen,
Kätken soll mie Müse fangen,
Müse will ick in ‚n Rauck hangen
Un will sie anschnien.“

Dabei standen sie in einem Kreis, und auf welchen nun das Wort „anschnien“ fiel, der musste fortlaufen und die anderen liefen ihm nach und fingen ihn. Wie sie so fröhlich dahin sprangen, sah’s die Stiefmutter vom Fenster mit an und ärgerte sich. Weil sie aber Hexenkünste verstand, so verwünschte sie beide, das Brüderchen in einen Fisch und das Schwesterchen in ein Lamm. Da schwamm das Fischchen im Teich hin und her, und war traurig, das Lämmchen ging auf der Wiese hin und her, und war traurig und fraß nicht und rührte kein Hälmchen an. So ging es eine lange Zweit hin, da kamen fremde Gäste auf das Schloss. Die falsche Stiefmutter dachte: „Jetzt ist die Gelegenheit gut“, rief den Koch und sprach zu ihm: „Geh und hol das Lamm von der Wiese und schlacht’s, wir haben sonst nichts für die Gäste.“ Da ging der Koch hin und holte das Lämmchen und führte es in die Küche und band ihm die Füßchen, das litt es geduldig. Wie er nun sein Messer herausgezogen hatte und auf der Schwelle wetzte, um es abzustechen, sah es, wie ein Fischlein in dem Wasser vor dem Gossenstein hin und her schwamm und zu ihm heraufblickte. Das war aber das Brüderchen, denn als das Fischchen gesehen hatte wie der Koch das Lämmchen fortführte, war es im Teich mitgeschwommen bis zum Haus.

Da rief das Lämmchen hinab:

„Ach Brüderchen im tiefen See,
wie tut mir doch mein Herz so weh!
Der Koch der wetzt das Messer,
will mir mein Herz durchstechen.“

Das Fischchen antwortete:

„Ach Schwesterchen in der Höh,
wie tut mir doch mein Herz so weh!
In dieser tiefen See!“

Wie der Koch hörte, dass das Lämmchen sprechen konnte und so traurige Worte zum Fischchen hinab rief, erschrak er und dachte es müsste kein natürliches Lämmchen sein, sondern wäre von der bösen Frau im Haus verwünscht.
Da sprach er: „Sei ruhig, ich will dich nicht schlachten“, nahm ein anderes Tier und bereitete das für die Gäste, und brachte das Lämmchen zu einer guten Bäuerin, der erzählte er alles, was er gesehen und gehört hatte. Die Bäuerin war aber gerade die Amme von dem Schwesterchen gewesen, vermutete gleich wer’s sein würde und ging mit ihm zu einer weisen Frau. Da sprach die Frau einen Segen über das Lämmchen und Fischchen, wovon sie ihre menschliche Gestalt wieder bekamen, und danach führte sie beide in einen großen Wald in ein kleines Häuschen, wo sie einsam, aber zufrieden und glücklich lebten.

Der gläserne Sarg

Sage niemand, dass ein armer Schneider es nicht weit bringen und nicht zu hohen Ehren gelangen könne, es ist weiter gar nichts nötig, als dass er an die rechte Schmiede kommt und, was die Hauptsache ist, dass es ihm glückt.
Ein solches artiges und behändes Schneiderbürschchen ging einmal seiner Wanderschaft nach und kam in einen großen Wald, und weil es den Weg nicht wusste, verirrte es sich. Die Nacht brach ein, und es blieb ihm nichts übrig, als in dieser schauerlichen Einsamkeit ein Lager zu suchen. Auf dem weichen Moose hätte er freilich ein gutes Bett gefunden, allein die Furcht vor den wilden Tieren ließ ihm da keine Ruhe, und er musste sich endlich entschließen, auf einem Baum zu übernachten. Er suchte eine hohe Eiche, stieg bis in den Gipfel hinauf und dankte Gott, dass er sein Bügeleisen bei sich trug, weil ihn sonst der Wind, der über die Gipfel der Bäume wehte, weggeführt hätte.
Nachdem er einige Stunden in der Finsternis, nicht ohne Zittern und Zagen, zugebracht hatte, erblickte er in geringer Entfernung den Schein eines Lichtes; und weil er dachte, dass da eine menschliche Wohnung sein möchte, wo er sich besser befinden würde als auf den Ästen eines Baumes, so stieg er vorsichtig herab und ging dem Lichte nach. Es leitete ihn zu einem kleinen Häuschen, das aus Rohr und Binsen geflochten war. Er klopfte mutig an, die Türe öffnete sich, und bei dem Scheine des heraus fallenden Lichtes, sah er ein altes, eisgraues Männchen, das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid an hatte.
„Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?, fragte es mit einer schnarrenden Stimme.
„Ich bin ein armer Schneider“, antwortete er, „den die Nacht hier in der Wildnis überfallen hat, und bitte Euch inständig, mich bis morgen in Eurer Hütte aufzunehmen.“
„Geh deiner Wege“, erwiderte der Alte mit mürrischem Tone, „mit Landstreichern will ich nichts zu schaffen haben; suche dir anderwärts ein Unterkommen. “Nach diesen Worten wollte er wieder in sein Haus schlüpfen, aber der Schneider hielt ihn am Rockzipfel fest und bat, so beweglich, dass der Alte, der so böse nicht war, als er sich anstellte, endlich erweicht ward und ihn mit in seine Hütte nahm, wo er ihm zu essen gab und dann in einem Winkel ein ganz gutes Nachtlager anwies.
Der müde Schneider brauchte keines Einwiegens, sondern schlief sanft bis an den Morgen, würde auch noch nicht an das Aufsehen gedacht haben, wenn er nicht von einem lauten Lärm wäre aufgeschreckt worden. Ein heftiges Schreien und Brüllen drang durch die dünnen Wände des Hauses.
Der Schneider, den ein unerwarteter Mut überkam, sprang auf, zog in der Hast seine Kleider an und eilte hinaus. Da erblickte er nahe bei dem Häuschen einen großen, schwarzen Stier und einen schönen H8irsch, die in dem heftigsten Kampfe begriffen waren. Sie gingen mit so großer Wut aufeinander los, dass von ihrem Getrampel der Boden erzitterte, und die Luft von ihrem Geschrei erdröhnte. Es war lange ungewiss, welcher von beiden den Sieg davontragen würde; endlich stieß der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig getötet ward.
Der Schneider, welcher dem Kampfe mit Erstaunen zugesehen hatte, stand noch unbeweglich da, als der Hirsch in vollen Sprüngen auf ihn zueilte und ihn, ehe er entfliehen konnte, mit seinem großen Geweihe geradezu aufgabelte. Er konnte sich nicht lange besinnen, denn es ging schnellen Laufes fort über Stock und Stein, Berg und Tal, Wiese und Wald. Er hielt sich mit beiden Händen an die Enden des Geweihes fest und überließ sich seinem Schicksal. Es kam ihm aber nicht anders vor, als flöge er davon. Endlich hielt der Hirsch vor einer Felsenwand still und ließ den Schneider sanft herabfallen. Der Schneider, mehr tot als lebendig, bedurfte längerer Zeit, um wieder zur Besinnung zu kommen. Als er sich einigermaßen erholt hatte, stieß der Hirsch, der neben ihm stehen geblieben war, sein Geweih mit solcher Gewalt gegen eine in dem Felsen befindliche Türe, dass sie aufsprang. Feuerflammen schlugen heraus, auf welche ein großer Dampf folgte, der den Hirsch seinen Augen entzog. Der Schneider wusste nicht, was er tun und wohin er sich wenden sollte, um aus dieser Einöde wieder unter Menschen zu gelangen. Indem er also unschlüssig stand, töne eine Stimme aus dem Felsen, die ihm zurief: „Tritt ohne Furcht herein, dir soll kein Leid widerfahren.“
Er zauderte zwar, doch von einer heimlichen Gewalt angetrieben, gehorchte er der Stimme und gelangte durch die eiserne Tür in einen großen, geräumigen Saal, dessen Decke, Wände und Boden aus glänzend geschliffenen Quadratsteinen bestanden, auf deren jedem ihm unbekannte Zeichen eingehauen waren. Er betrachtete alles voll Bewunderung, und war eben im Begriff, wieder herauszugehen, als er abermals die Stimme vernahm, welche ihm sagte: „Tritt auf den Stein, der in der Mitte des Saales liegt, und dein wartet großes Glück.“
Sein Mut war schon so weit gewachsen, dass er dem Befehle Folge leistete. Der Stein begann unter seinen Füßen nachzugeben und sank langsam in die Tiefe hinab. Als er wieder fest stand, und der Schneider sich umsah, befand er sich in einem Saale, der an Umfang dem vorigen gleich war. Hier aber gab es mehr zu betrachten und zu bewundern. In die Wände waren Vertiefungen eingehauen, in welchen Gefäße von durchsichtigem Glase standen, die mit farbigem Spiritus oder mit einem bläulichen Rauche angefüllt waren. Auf dem Boden des Saales standen, einander gegenüber, zwei große, gläserne Kasten, die sogleich seine Neugierde reizten. Indem er zu dem einen trat, erblickte er darin ein schönes Gebäude, einem Schlosse ähnlich, von Wirtschaftsgebäuden, Ställen und Scheuern und einer Menge anderer artigen Sachen umgeben. Alles war klein, aber überaus sorgfältig und zierlich gearbeitet, und schien von einer kunstreichen Hand mit der höchsten Genauigkeit ausgeschnitzt zu sein.
Er würde seine Augen von der Betrachtung dieser Seltenheiten noch nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie forderte ihn auf, sich umzukehren und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen. Wie stieg seine Verwunderung, als er darin ein Mädchen von größter Schönheit erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange, blonde Haare wie in einen kostbaren Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe und ein Band, das der Atem hin und her bewegte, ließen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen aufschlug und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr.
„Gerechter Himmel!“, rief sie, „meine Befreiung naht! Geschwind, geschwind, hilf mir aus meinem Gefängnis; wen du den Riegel an diesem gläsernen Sarg weg schiebst, so bin ich erlöst!“
Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, als bald hob sie den Glasdeckel in die Höhe, stieg heraus und eilte in die Ecke des Saales, wo sie sich in einen weiten Mantel verhüllte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hieß den jungen Mann herangehen, und nachdem sie einen freundlichen Kuss auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie: „Mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt und meinen Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du bist der vom Himmel bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen Gütern überhäuft, in ungestörter Freud dein Leben zubringen. Sitz nieder und höre die Erzählung meines Schicksals.
Ich bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben, als ich noch in zarter Jugend war und empfahlen mich in ihrem letzten Wissen meinem älteren Bruder, bei dem ich auferzogen wurde. Wir liebten uns so zärtlich und waren so übereinstimmend in unserer Denkungsart und unsern Neigungen, dass wir beide den Entschluss fassten, uns niemals zu verheiraten, sondern bis an das Ende unseres Lebens beisammen zu bleiben.
In unserem Hause war an Gesellschaft nie Mangel: Nachbarn und Freunde besuchten uns häufig, und wir übten gegen alle die Gastfreundschaft in vollem Maße. So geschah es auch eines Abends, dass ein Fremder in unser Schloss geritten kam und, unter dem Vorgeben, den nächsten Ort nicht mehr erreichen zu können, um ein Nachtlager bat. Wir gewährten seine Bitte mit zuvorkommender Höflichkeit, und er unterhielt uns während des Abendessens mit seinem Gespräche und eingemischten Erzählungen und das anmutigste. Mein Bruder hatte ein so großes Wohlgefallen an ihm, dass er ihn bat, ein paar Tage bei uns zu verweilen, wozu er nach einigem Weigern einwilligte. Wir standen erst spät in der Nacht vom Tische auf, dem Fremden wurde ein Zimmer angewiesen, und ich eilte, ermüdet, wie ich war, meine Glieder in die weichen Federn zu senken. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, so weckten mich die Töne einer zarten und lieblichen Musik. Da ich nicht begreifen konnte, woher sie kamen, so wollte ich mein im Nebenzimmer schlafendes Kammermädchen rufen, allein zu meinem Erstaunen fand ich, dass mir, als lastete ein Alp auf meiner Brust von einer unbekannten Gewalt die Sprache benommen und ich unvermögend war, den geringsten Laut von mir zu geben. Indem sah ich bei dem Schein de4r Nachtlampe den Fremden in mein durch zwei Türen fest verschlossenes Zimmer eintreten. Er näherte sich mir und sagte, dass er durch Zauberkräfte, die ihm zu Gebote ständen, die liebliche Musik habe ertönen lassen, um mich aufzuwecken, und dringe jetzt selbst durch alle Schlösser, in der Absicht, mir Herz und Hand anzubieten. Mein Widerwille aber gegen seine Zauberkünste war so groß, dass ich ihn keiner Antwort würdigte. Er blieb eine Zeitlang stehen, wahrscheinlich in der Absicht, einen günstigen Entschluss zu erwarten, als ich aber fortfuhr, zu schweigen, erklärte er zornig, dass er sich rächen und Mittel finden werde, meinen Hochmut zu bestrafen, worauf er das Zimmer wieder verließ. Ich brachte die Nacht in höchster Unruhe zu und schlummerte erst gegen Morgen ein. Als ich erwacht war, eilte ich zu meinem Bruder, um ihn von dem, was vorgefallen war, zu benachrichtigen, allein ich fand ihn nicht in seinem Zimmer, und der Bediente sagte mir, dass er bei anbrechendem Tage mit dem Fremden auf die Jagd geritten sei.
Mir ahnte gleich nichts Gutes.
Ich kleidete mich schnell an, ließ meinen Leibzelter satteln und ritt, nur von einem Diener begleitet, in vollem Jagen nach dem Walde. Der Diener stürzte mit dem Pferde und konnte mir, da das Pferd den Fuß gebrochen hatte, nicht folgen. Ich setzte, ohne mich aufzuhalten, meinen Weg fort, und in wenigen Minuten sah ich den Fremden mit einem schönen Hirsch, den er an der Leine führte, auf mich zukommen. Ich fragte ihn, wo er meinen Bruder gelassen habe, und wie er zu diesem Hirsche gelangt sei, aus dessen großen Augen ich Tränen fließen sah. Anstatt mir zu antworten, fing er an, laut aufzulachen. Ich geriet darüber in höchsten Zorn, zog eine Pistole und drückte sie gegen das Ungeheuer ab, aber die Kugel prallte von seiner Brust zurück und fuhr in den Kopf meines Pferdes. Ich stürzte zur Erde, und der Fremde murmelte einige Worte, die mir das Bewusstsein raubten.
Als ich wieder zur Besinnung kam, fand ich mich in dieser unterirdischen Gruft in einem gläsernen Sarge. Der Schwarzkünstler erschien nochmals, sagte, dass er meinen Bruder in eine Hirsch verwandelt, mein Schloss, mit allem Zubehör, verkleinert in den andern Glaskasten eingeschlossen, und meine in Rauch verwandelten Leute in Glasflaschen gebannt hätte. Wolle ich mich jetzt seinem Wunsche fügen, so sei ihm ein leichtes, alles wieder in den vorigen Stand zu setzen, er brauche nur die Gefäße zu öffnen, so werde alles wieder in die natürliche Gestalt zurückkehren. Ich antwortete ihm so wenig als das erste Mal. Er verschwand und ließ mich in meinem Gefängnisse liegen, in welchem mich ein tiefer Schlaf befiel. Unter den Bildern, welche an meiner Seele vorübergingen, war auch das tröstliche, dass ein junger Mann kam und mich befreite, und als ich heute die Augen öffne, so erblicke ich dich und sehe meinen Traum erfüllt. Hilf mir vollbringen, was in jenem Gesichte noch weiter geschah. Das erste ist, dass wir den Glaskasten, in welchem mein Schloss sich befindet, auf jenen breiten Stein heben.“
Der Stein, sobald er beschwert war, hob sich mit dem Fräulein und dem Jüngling in die Höhe, und stieg durch die Öffnung der Decke in den oberen Saal, wo sie dann leicht ins Freie gelangen konnten. Hier öffnete das Fräulein den Deckel, und es war wunderbar anzusehen, wie Schloss, Häuser und Gehöfte sich ausdehnten und in größter Schnelligkeit zu natürlicher Größe heranwuchsen. Sie kehrten darauf in die unterirdische Höhle zurück und ließen die mit Rauch gefüllten Gläser von dem Steine herauf tragen. Kaum hatte das Fräulein die Flaschen geöffnet, so drang der blaue Rauch heraus und verwandelte sich in lebendige Menschen, in welchen das Fräulein ihre Diener und Leute erkannte. Ihre Freude ward noch vermehrt, als ihr Bruder, der den Zauberer in dem Stier getötet hatte, in menschlicher Gestalt aus dem Walde heran kam, und noch denselben Tag reichte das Fräulein, ihrem Versprechen gemäß, dem glücklichen Schneider die Hand am Altare.

Aschenputtel

Einstmals wurde eines reichen Mannes Frau krank.
Als sie ihr Ende herannahen fühlte, rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach: "Liebes Kind, bleibe fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen. Ich werde vom Himmel auf dich herabblicken und immer um dich sein." Darauf tat sie die Augen zu und verschied.
Jeden Tag ging das Mädchen hinaus zum Grabe seiner Mutter und weinte und blieb fromm und gut. Als der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tuch über das Grab, und als die Sonne es im Frühjahr wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Vater eine neue Frau. Diese Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus gebracht, die schön und weiß von Angesicht waren, aber garstig und schwarz im Herzen. Da brach eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an. "Soll die dumme Gans bei uns in der Stube sitzen?", sprachen die beiden, "wer Brot essen will, muss es verdienen. Hinaus also mit der Küchenmagd!" Sie nahmen dem Mädchen die schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen, alten Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe. "Seht nur die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist!" riefen sie lachend und führten die Arme in die Küche. Da musste das Stiefkind nun vom Morgen bis in die Nacht schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Überdies taten ihm die Schwestern alles erdenkliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so dass es sie mühselig auslesen musste. Abends, wenn es sich müde gearbeitet hatte, musste es sich neben den Herd in die Asche legen. Weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.
Eines Tages wollte der Vater zur Messe ziehen. Er fragte die beiden Stieftöchter, was er ihnen mitbringen solle. "Schöne Kleider", erwiderte die eine, "Perlen und Edelsteine" sagte die zweite.
"Und du, Aschenputtel", fragte er, "was willst du haben?"
"Vater", entgegnete das Mädchen, "das erste Zweiglein, das euch auf eurem Heimweg an den Hut stößt, das brecht für mich ab."
Auf dem Heimweg kaufte der Vater für die beiden Stiefschwestern schöne Kleider, Perlen und Edelsteine. Als er durch einen grünen Busch ritt, streifte ihn ein Haselreis, so dass ihm der Hut vom Kopfe fiel. Da brach er das Zweiglein ab und nahm es mit. Zu Hause gab er den Stieftöchtern, was sie sich gewünscht hatten, dem Aschenputtel aber schenkte er das Haselreis. Aschenputtel dankte ihm, ging zu seiner Mutter Grab, pflanzte das Reis darauf und weinte so sehr, dass seine Tränen es begossen. Alle Tage ging Aschenputtel dreimal hinaus, weinte und betete, und endlich war aus dem Reis ein schöner Baum geworden. Allemal kam ein weißes Vöglein auf den Baum, und wenn das Aschenputtel einen Wunsch aussprach, so warf ihm das Vöglein herab, was es sich gewünscht hatte.
Es begab sich nun, dass der König des Landes ein Fest feiern wollte, das drei Tage dauern sollte. Alle schönen Mädchen im Lande wurden dazu eingeladen, damit sich des Königs Sohn eine Braut aussuchen könne. Als die beiden Stiefschwestern hörten, dass sie auch dabei erscheinen sollten, waren sie guter Dinge, riefen Aschenputtel und sprachen: "Kämm uns die Haare, bürste uns die Schuhe und mache uns die Schnallen fest, wir gehen zur Hochzeit auf des Königs Schloss." Weinend gehorchte Aschenputtel, weil es auch gern zum Tanz mitgegangen wäre, und bat die Stiefmutter um Erlaubnis. "Du willst zur Hochzeit, Aschenputtel", antwortete die Arge, "und bist voll Staub und Schmutz, hast keine Kleider und Schuhe und willst tanzen!" Als aber das Mädchen weiter bat, sagte sie endlich: "Ich habe dir eine Schüssel voll Linsen in die Asche geschüttet, wenn du sie in zwei Stunden ausgelesen hast, sollst du mitgehen." Das Mädchen schritt durch die Hintertür zum Garten und rief:
"Ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen,
alle Vöglein unter dem Himmel, kommt,
und helft mir lesen:
Die guten ins Töpfchen,
die schlechten ins Kröpfchen."
Da kamen zwei weiße Täubchen zum Küchenfenster herein, darauf die Turteltäubchen, und endlich schwirrten und schwärmten alle Vöglein unter dem Himmel herein und ließen sich um die Asche nieder. Die Täubchen nickten mit den Köpfchen. Pik, pik, pik, pik fingen sie an, und auch die übrigen fingen an pik, pik, pik, pik und lasen alle guten Körnlein in die Schüssel. Noch war keine Stunde herum, da waren sie schon fertig und flogen wieder hinaus. Voller Freude brachte das Mädchen die Schüssel der Stiefmutter und glaubte, nun dürfe es mit auf die Hochzeit gehen. Aber die Böse sprach: "Nein, Aschenputtel, du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen. Du wirst nur ausgelacht." Das Mädchen begann zu weinen. "Wenn du mir zwei Schüsseln voll Linsen in einer Stunde aus der Asche lesen kannst", fuhr die Stiefmutter fort, "so darfst du mitgehen." Heimlich aber dachte sie: "Das kann das Mädchen nimmermehr."
Nachdem die Stiefmutter die zwei Schüsseln voll Linsen in die Asche geschüttet hatte, ging das Mädchen durch die Hintertür zum Garten und rief:
"Ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen,
alle ihr Vöglein unter dem Himmel,
kommt und helft mir lesen:
Die guten ins Töpfchen,
die schlechten ins Kröpfchen."
Wieder kamen zwei weiße Täubchen zum Küchenfenster herein und danach die Turteltäubchen, und endlich schwirrten und schwärmten alle Vögel unter dem Himmel herein und ließen sich um die Asche nieder. Die Täubchen nickten mit den Köpfchen. Pik, pik, pik, pik fingen sie an, und pik, pik, pik, pik begannen auch die übrigen und lasen alle guten Körner in die Schüsseln. Noch war keine halbe Stunde herum, da waren sie schon fertig und flogen wieder hinaus. Voller Freude trug das Mädchen die Schüsseln zur Stiefmutter hinein und glaubte, nun dürfte es mit auf die Hochzeit gehen. Aber die Böse sprach: "Es hilft dir alles nichts. Du kommst nicht mit, denn du hast keine Kleider und kannst nicht tanzen. Wir müssten uns deiner schämen." Sie kehrte dem Mädchen den Rücken zu und eilte mit ihren zwei stolzen Töchtern fort.
Als es so allein war, ging Aschenputtel zu seiner Mutter Grab, setzte sich unter den Haselbusch und rief:
"Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich."
Da warf ihm der Vogel ein Kleid aus Gold und Silber herunter und Pantoffeln, die aus gestickt waren mit Seide und Silber. Eilig zog das Mädchen das Kleid an und ging zur Hochzeit. Weil es so schön aussah in dem goldenen Kleide, erkannten es seine Schwestern und die Stiefmutter nicht und hielten es für eine fremde Königstochter. An Aschenputtel dachten sie nicht und glaubten, es sitze daheim im Schmutz und suche die Linsen aus der Asche. Als der Königssohn das Mädchen sah, nahm er es bei der Hand und tanzte mit ihm. Er wollte auch sonst mit niemand tanzen und wenn ein anderer kam, sprach er: "Das ist meine Tänzerin."
Bis zum Abend tanzte das Mädchen, dann wollte es nach Hause gehen. Aber der Königssohn sprach: "Ich gehe mit und begleite dich", denn er wollte sehen, wo das schöne Mädchen wohne. Sie entwischte ihm jedoch und sprang ins Taubenhaus. Der Königssohn wartete, bis der Vater kam, und erklärte ihm, das fremde Mädchen sei ins Taubenhaus entwichen. Da dachte der Vater: "Sollte das Aschenputtel gewesen sein?" Er ließ sich eine Axt bringen, um das Taubenhaus entzweizuschlagen, aber es war niemand darin. Als sie ins Haus kamen, lag Aschenputtel in seinen schmutzigen Kleidern in der Asche, und ein trübes Ollämpchen brannte im Schornstein. Aschenputtel war nämlich hinten aus dem Taubenhaus hinausgesprungen, war zum Haselbusch gelaufen, hatte die schönen Kleider ausgezogen und aufs Grab gelegt, und der Vogel hatte sie wieder fortgetragen, dann hatte sich Aschenputtel in seinem grauen Kittel ans Feuer in die Küche gesetzt.
Am nächsten Tage hob das Fest von neuem an.
Wieder ging die Mutter mit den Stiefschwestern fort. Da lief Aschenputtel zum Haselbusch und sprach:
"Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich."
Ein noch viel schöneres Kleid als das vom vergangenen Tage warf der Vogel herab. Als das Mädchen in diesem Kleid auf der Hochzeit erschien, erstaunte jedermann über seine Schönheit. Der Königssohn hatte gewartet, bis es kam, nahm es bei der Hand und tanzte nur mit ihm. Wenn ein anderer kam, sprach er: "Das ist meine Tänzerin."
Als es Abend wurde, wollte das Mädchen fort. Der Königssohn ging ihm nach, aber das Mädchen sprang davon und entwischte in den Garten hinter dem Haus. Darin stand ein schöner, großer Baum, an dem die herrlichsten Birnen hingen. Behänd wie ein Eichhörnchen kletterte es hinauf, und der Königssohn wusste nicht, wo es hingekommen war. Er wartete, bis der Vater des Mädchens kam. "Das fremde Mädchen", sagte er, "ist mir entwischt. Ich glaube, es ist auf den Birnbaum gesprungen."
"Sollte das Aschenputtel gewesen sein?" dachte der Vater. Er ließ sich eine Axt holen und hieb den Baum um, aber es war niemand im Gezweig zu finden. Als sie in die Küche kamen, lag Aschenputtel in der Asche, denn es war längst zuvor vom Baum herabgesprungen, hatte dem Vogel auf dem Haselbusch das Kleid wieder gebracht und seinen grauen Kittel danach übergezogen.
Am dritten Tage, als die Stiefmutter und die bösen Schwestern fort waren, ging Aschenputtel wieder hinaus zu seiner Mutter Grab und sprach zum Haselbusch:
"Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich."
Nun warf ihm der Vogel ein Kleid herab, das so prächtig und glänzend war, wie es noch keins gehabt hatte, und ganz goldene Pantoffeln dazu. Als es so zur Hochzeit kam, wusste niemand vor Verwunderung etwas zu sagen. Der Königssohn tanzte ganz allein mit ihm, und wenn ein anderer kam, sprach er: "Das ist meine Tänzerin."
Am Abend wollte Aschenputtel fort. Der Königssohn versuchte es zu begleiten, aber es entsprang ihm so geschwind, dass er nicht folgen konnte. Allein er hatte eine List gebraucht. Er hatte die ganze Treppe mit Pech bestreichen lassen. Als es hinab sprang, blieb der linke Pantoffel des Mädchens hängen. Der Königssohn hob ihn auf, und er war klein und zierlich und ganz golden. Am nächsten Morgen ging er damit zum Vater des Mädchens und sagte zu ihm: "Keine andere soll meine Gemahlin werden als die, an deren Fuß dieser goldene Schuh passt." Wie freuten sich da die beiden Schwestern, denn sie hatten schöne Füße! Die Älteste ging mit dem Schuh in die Kammer, um ihn anzuprobieren, und die Mutter stand dabei. Aber der Schuh war zu klein; sie konnte mit der großen Zehe nicht hineinkommen. Da reichte ihr die Mutter ein Messer und sprach: "Hau die Zehe ab. Wenn du Königin bist, brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen." Das Mädchen hieb die Zehe ab, zwängte den Fuß in den Schuh, verbiss den Schmerz und ging hinaus zum Königssohn. Der Prinz nahm sie als seine Braut aufs Pferd und ritt mit ihr fort. Sie mussten jedoch an dem Grabe vorbei. Da saßen die zwei Taubchen auf dem Haselbusch und riefen:
"Rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuk (Schuh).
Der Schuk ist zu klein, Die rechte Braut sitzt noch daheim."
Der Königssohn blickte auf ihren Fuß und sah, wie das Blut heraus quoll. Eilig brachte er die falsche Braut wieder nach Hause und sagte, das sei nicht die rechte, die andere Schwester solle den Schuh anziehen. Die zweite ging nun in die Kammer und kam mit den Zehen glücklich in den Schuh, aber die Ferse war zu groß. Da reichte ihr die Mutter ein Messer und sprach:
"Hau ein Stück von der Ferse ab. Wenn du Königin bist, brauchst du nicht mehr zu Fuß gehen." Das Mädchen hieb ein Stück von der Ferse ab, zwängte den Fuß in den Schuh, verbiss den Schmerz und ging hinaus zum Königssohn. Der Prinz nahm sie als seine Braut aufs Pferd und ritt mit ihr fort. Als sie aber am Haselbusch vorbeikamen, saßen die zwei Täubchen darauf und riefen:
"Rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuk,
Der Schuk ist zu klein,
Die rechte Braut sitzt noch daheim."
Er blickte nieder auf ihren Fuß und sah, wie das Blut aus dem Schuh quoll. Da brachte er die falsche Braut wieder nach Haus. "Das ist auch nicht die rechte", sagte er, "habt ihr keine andere Tochter?"
"Nein", erwiderte der Vater, "nur von meiner verstorbenen Frau ist noch ein kleines Aschenputtel da, aber das kann unmöglich die Braut sein."
"Hol es her", entgegnete der Königssohn, aber die Mutter sagte: "Nein, nein, das Aschenputtel ist viel zu schmutzig, das darf sich nicht sehen lassen." Der Prinz aber wollte es sehen, und Aschenputtel musste gerufen werden. Es wusch sich Hände und Angesicht rein, ging hin und verneigte sich vor dem Königssohn, der ihm den goldenen Schuh reichte. Und der goldene Pantoffel saß wie angegossen. Als es sich aufrichtete und der Königssohn ihm ins Gesicht blickte, erkannte er das schöne Mädchen, mit dem er getanzt hatte und rief: "Das ist die rechte Braut!" Die Stiefmutter und die beiden Schwestern erschraken und wurden bleich vor Ärger. Der Prinz aber nahm Aschenputtel aufs Pferd und ritt mit ihm fort. Als sie am Haselbusch vorbeikamen, riefen die zwei weißen Täubchen:
"Rucke di guck, rucke di guck,
Kein Blut ist im Schuk,
Der Schuk ist nicht zu klein,
die rechte Braut, die führt er heim."
Kaum hatten sie das gerufen, kamen sie beide herabgeflogen und setzten sich dem Aschenputtel auf die Schultern, das eine rechts, das andere links.
Am Hochzeitstage kamen auch die falschen Schwestern und wollten sich einschmeicheln. Als die Brautleute zur Kirche gingen, schritt die älteste zur rechten, die jüngste zur linken Seite. Da pickten die Tauben einer jeden ein Auge aus. Hernach, als sie aus der Kirche traten, war die älteste zur linken und die jüngste zur rechten. Da pickten die Tauben einer jeden das zweite Auge aus. So wurden sie für ihre Bosheit und Falschheit ihr Leben lang mit Blindheit gestraft.

Der Teufel und seine Großmutter

Es war ein großer Krieg, und der König hatte viel Soldaten, gab ihnen aber wenig Gold, so dass sie nicht davon leben konnten. Da taten sich drei zusammen und wollten ausreißen.
Einer sprach zum andern: „Wenn wir erwischt werden, so hängt man uns an den Galgenbaum; wie wollen wir’s machen?“
Sprach der andere: „Seht dort das große Kornfeld, wenn wir uns da verstecken, so findet uns kein Mensch; das Heer darf nicht hinein und muss morgen weiterziehen.“
Sie krochen in das Korn, aber das Heer zog nicht weiter, sondern blieb rundherum liegen. Sie saßen zwei Tage und zwei Nächte im Korn und hatten so großen Hunger, dass sie beinah gestorben wären; gingen sie aber heraus, so war ihnen der Tod gewiss.
Da sprachen sie: „Was hilft uns unser Ausreißen, wir müssen hier elendig sterben.“
Indem kann ein feuriger Drache durch die Luft geflogen, der senkte sich zu ihnen herab und fragte sie, warum sie sich da versteckt hätten.
Sie antworteten: „Wir sind drei Soldaten, und sind ausgerissen, weil unser Sold gering war, nun müssen wir hier Hungers sterben, wenn wir liegen bleiben, oder wir müssen am Galgen baumeln, wenn wir herausgehen.“
„Wollt ihr mir sieben Jahre dienen“, sagte der Drache, „so will ich euch mitten durchs Heer führen, dass euch niemand erwischen soll?“
„Wir haben keine Wahl und müssens annehmen“, antworteten sie.
Da packte sie der Drache in seine Klauen, führte sie durch die Luft über das Heer hinweg und setzte sie weit davon wieder auf die Erde; der Drache war aber niemand als der Teufel. Er gab ihnen ein kleines Peitschchen und sprach: „Peitscht und knallt ihr damit, so wird so viel Geld vor euch herumspringen, als ihr verlangt; ihr könnt dann wie große Herren leben, Pf3erde halten und in Wagen fahren, nach Verlauf der sieben Jahre aber seid ihr mein eigen.“
Dann hielt er ihnen ein Buch vor, in as mussten sie sich alle drei unterschreiben.
„Doch will ich euch“, sprach er, „erst noch ein Rätsel aufgeben, könnt ihr das raten, sollt ihr frei sein und aus meiner Gewalt entlassen.“
Da flog der Drache von ihnen weg, und sie reisten fort mit ihren Peitschchen, hatten Geld die Fülle, ließen sich Herrenkleider machen und zogen in der Welt herum.
Wo sie waren, lebten sie in Freuden und Herrlichkeit, fuhren mit Pferden und Wagen, aßen und tranken, taten aber nichts Böses. Die Zeit verstrich ihnen schnell, und als es mit den sieben Jahren zu Ende ging, ward zweien gewaltig angst und bange, der dritte aber nahm’s auf die leichte Schulter und sprach: „Brüder, fürchtet nichts, ich bin nicht auf den Kopf gefallen, ich errate das Rätsel.“
Sie gingen hinaus aufs Feld, saßen da, und die zwei machten betrübte Gesichter. Da kam eine alte Frau daher, die fragte, warum sie so traurig wären.
„Ach, was liegt Euch daran, Ihr könnt uns doch nicht helfen.“
„Wer weiß“, antwortete sie, „vertraut mir nur euren Kummer an.“
Da erzählten sie ihr, sie wären des Teufels Diener gewesen, fast sieben Jahre lang, der hätte ihnen Geld wie Heu geschafft, sie hätten sich ihm aber verschrieben, und wären ihm verfallen, wenn sie nach den sieben Jahren nicht ein Rätsel auflösen könnten.
Die Alte sprach: „Soll euch geholfen werden, so muss einer von euch in den Wald gehen, da wird er an eine eingestürzte Felsenwand kommen, die aussieht, wie ein Häuschen, in das muss er eintreten, dann wird er Hilfe finden.“
Die zwei traurigen dachten: „Das wird uns doch nicht retten“, und blieben sitzen; der dritte aber, der lustige, machte sich auf und ging so weit in den Wald, bis er die Felsenhütte fand. In dem Häuschen aber saß eine steinalte Frau, die war des Teufels Großmutter, und fragte ich, woher er käme und was er hier wolle. Er erzählte ihr alles, was geschehen war, und weil er ihr wohl gefiel, hatte sie Erbarmen und sagte, sie wollte ihm helfen. Sie hob einen großen Stein auf, der über einem Keller lag, und sagte: „Da verstecke dich, du kannst alles hören, was hier gesprochen wird, sitz nur still und rege dich nicht; wann der Drache kommt, will ich ihn wegen der Rätsel befragen, mir sagt er alles, und dann achte auf das, as er antwortet.“
Um zwölf Uhr nachts kam der Drache angeflogen und verlangte sein Essen. Die Großmutter decke den Tisch und trug Trank und Speise auf, dass er vergnügt war, und sie aßen und tranken zusammen.
Da fragte sie im Gespräch, wie’s den Tag ergangen wäre, und wie viel Seelen er kriegt hätte.
„Es wollte mir heute nicht recht glücken“, antwortete er, „aber ich habe drei Soldaten gepackt, die sind mir sicher.“
„Ja, drei Soldaten“, sage sie, „die haben etwas an sich, die können dir noch entkommen.“
Sprach der Teufel höhnisch: „Die sind mein, denen gebe ich noch ein Rätsel auf, das sie nimmermehr raten können.“
„Was ist das für ein Rätsel?“, fragte sie.
„Das will ich dir sagen: In der großen Nordsee liegt eine tote Meerkatze, das soll ihr Braten sein, und von einem Walfisch die Rippe, das soll ihr silberner Löffel sein, und ein alter hohler Pferdefuß, das soll ihr Weinglas sein.“
Als der Teufel zu Bett gegangen war, hob die Großmutter den Stein auf und ließ den Soldaten heraus.
„Hast du auch alles wohl in acht genommen?“
„Ja“, sprach er, „ich weiß genug und will mir schon helfen.“
Darauf musste er auf einem andern Weg durchs Fenster heimlich und in aller Eile zu seinen Gesellen zurückgehen. Er erzählte ihnen, wie der Teufel von der alten Großmutter wäre überlistet worden und wie er die Auflösung des Rätsels von ihm vernommen hätte. Da waren sie alle fröhlich und guter Dinge, nahmen die Peitsche und schlugen sich so viel Geld, dass es auf der Erde herum sprang. Als die sieben Jahre völlig herum waren, kam der Teufel mit dem Buche, zeigte die Unterschriften und sprach: „Ich will euch mit in die Hölle nehmen, da sollt ihr eine Mahlzeit haben; könnt ihr mir raten, was ihr für einen Braten werdet zu essen kriegen, so sollt ihr frei und los sein und dürft auch das Peitschchen behalten.“
Da fing der erste Soldat an: „In der großen Nordsee liegt eine tote Meerkatze, das wird wohl der Braten sein.“
Der Teufel ärgerte sich, machte „hm! hm! hm!“ und fragte den zweiten: „Was soll aber euer Löffel sein?“
„Von einem Walfisch die Rippe, das soll unser silberner Löffel sein.“
Der Teufel schnitt ein Gesicht, knurrte wieder drei Mal „hm! hm! hm!“ und sprach zum dritten: „“Wisst ihr auch, was euer Weinglas sein soll?“
„Ein alter Pferdefuß, das soll unser Weinglas sein.“
Da flog der Teufel mit einem lauten Schrei fort und hatte keine Gewalt mehr über sie; aber die drei behielten das Peitschchen, schlugen Geld hervor, so viel sie wollten und lebten vergnügt bis an ihr Ende.

Die zertanzten Schuhe

Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter, eine immer schöner als die andere. Sie schliefen zusammen in einem Saal, wo ihre Betten nebeneinander standen und abends, wenn sie darin lagen, schloss der König die Türe zu und verriegelte sie. Wenn er aber am Morgen die Türe aufschloss, so sah er, dass ihre Schuhe zertanzt waren, und niemand konnte herausbringen, wie das zugegangen war. Da ließ der König ausrufen, wer’s könnte ausfindig machen, wo sie in der Nacht tanzten, der sollte sich eine davon zur Frau wählen und nach seinem Tod König sein, wer sich aber meldete und es nach drei Tagen und Nächten nicht herausbrächte, der hätte sein Leben verwirkt.
Nicht lange, so meldete sich ein Königssohn und erbot sich, das Wagnis zu unternehmen. Er ward wohl aufgenommen, und abends in ein Zimmer geführt, das an den Schlafsaal stieß. Sein Bett war da aufgeschlagen, und er sollte acht haben, wo sie hingingen und tanzten; und dami sie nichts heimlich treiben konnten oder zu einem andern Ort hinausgingen, war auch die Saaltüre offen gelassen. Dem Königssohn fiel’s aber wie Bei auf die Augen und er schlief ein, und als er am Morgen aufwachte, waren alle zwölfe zum ganz gewesen, denn ihre Schuhe standen da und hatten Löcher in den Sohlen. Den zweiten und dritten Abend ging’s nicht anders, und da ward ihm sein Haupt ohne Barmherzigkeit abgeschlagen. Es kamen hernach noch viele und meldeten sich zu dem Wagestück, sie mussten aber alle ihr Leben lassen. Nun trug sich’s zu, dass ein armer Soldat, der eine Wunde hatte, nicht mehr dienen konnte, sich auf dem Weg nach der Stadt befand, wo der König wohnte. Da begegnete ihm eine alte Frau, die fragte ihn, wo er hin wollte.
„Ich weiß selber nicht recht“, sprach er, und setzte im Scherz hinzu, „ich hätte wohl Lust, ausfindig zu machen, wo die Königstöchter ihre Schuhe vertanzen, und danach König zu werden.“
„Das ist so schwer nicht“, sagte die Alte, du musst den Wein nicht trinken, der dir abends gebracht wird, und musst tun, als 2wärst du fest eingeschlafen.“
Darauf gab sie ihm ein Mäntelchen und sprach: „Wenn du das umhängst, so bist du unsichtbar und kannst den zwölfen dann nachschleichen.“
Wie der Soldat den guten Rat bekommen hatte, ward’s Ernst bei ihm, so dass er ein Herz fasste, vor den König ging und sich als Freier meldete. Er ward so gut aufgenommen wie die andern auch, und wurden ihm königliche Kleider angetan. Abends zur Schlafenszeit ward er in das Vorzimmer geführt, und als er zu Bette gehen wollte, kam die älteste und brachte ihm einen Becher Wein; aber er hatte sich einen Schwamm unter das Kinn gebunden, ließ den Wein da hineinlaufen, und trank keinen Tropfen. Dann legte er sich nieder, und als er ein Weilchen gelegen hatte, fing er an zu schnarchen, wie im tiefsten Schlaf. Das hörten die zwölf Königstöchter, lachten und die älteste sprach: „Der hätte auch sein Leben sparen können.“
Danach standen sie auf, öffneten Schränke, Kisten und Kasten, und holten prächtige Kleider heraus; putzten sich vor den Spiegeln, sprangen herum und freuten sich auf den Tanz. Nur die jüngste sagte: „Ich weiß nicht, ihr freut euch, aber mir ist so wunderlich zu Mut, gewiss widerfährt uns ein Unglück.“
„Du bist eine Schneegans“, sagte die älteste, „die sich immer fürchtet. Hast du vergessen, wie viel Königssöhne schon umsonst dagewesen sind? Dem Soldaten hätte ich nicht einmal brauchen einen Schlaftrunk zu geben, der Lümmel wäre doch nicht aufgewacht.“
Wie sie alle fertig waren, sahen sie erst nach dem Soldaten, aber der hatte die Augen zugetan, rührte und regte sich nicht, und sie glaubten nun ganz sicher zu sein. Da ging die älteste an ihr Bett und klopfte daran, alsbald sank es in die Erde, und sie stiegen durch die Öffnung hinab, eine nach der andern, die älteste voran. Der Soldat, der alles mit angesehen hatte, zauderte nicht lange, hing sein Mäntelchen um und stieg hinter der jüngsten mit hinab. Mitten auf der Treppe trat er ihr ein wenig aufs Kleid, da erschrak sie und rief: „Was ist das? Er hält mich am Kleid?“
„Sei nicht so einfältig“, sagte die älteste, „du bist an einem Haken hängen geblieben.
Da gingen sie vollends hinab, und wie sie unten waren, standen sie in einem wunderprächtigen Baumgang, da waren alle Blätter von Silber, und schimmerten und glänzten. Der Soldat dachte: „Du wirst dir ein Wahrzeichen mitnehmen“, und brach einen Zweig davon ab; da fuhr ein gewaltiger Krach aus dem Baume. Die jüngste rief wieder: „Es ist nicht richtig, habt ihr den Knall gehört?“
Die älteste sprach: „Das sind Freudenschüsse, weil wir unsere Prinzen bald erlöst haben.“
Sie kamen darauf in einen Baumgang, wo alle Blätter von Gold, und endlich in einen dritten, wo sie klarer Demant waren; von beiden brach er einen Zweig ab, wobei es jedes Mal krachte, dass die jüngste vor Schrecken zusammen fuhr, aber die älteste blieb dabei, es wären Freudenschüsse. Sie gingen weiter und kamen zu einem großen Wasser, darauf standen zwölf Schifflein, und in jedem Schifflein saß ein schöner Prinz, die hatten auf die zwölfe gewartet, und jeder nahm eine zu sich, der Soldat aber setzte sich mit der jüngsten rein.
Da sprach der Prinz: „Ich weiß nicht, das Schiff ist heute viel schwerer, und ich muss aus allen Kräften rudern, wenn ich es fortbringen soll.“
„Wovon sollte das kommen?“, sprach die jüngste, „als vom warmen Wetter, es ist mir auch so heiß zu Mut.“
Jenseits des Wassers aber stand ein schönes hell erleuchtetes Schloss, woraus eine lustige Musik erschallte von Pauken und Trompeten. Sie ruderten hinüber, traten ein, und jeder Prinz tanzte mit seiner Liebsten der Soldat aber tanzte unsichtbar mit, und wenn eine einen Becher mit Wein hielt, so trank er ihn aus, dass er leer war, wenn sie ihn an den Mund brachte; und der jüngsten ward auch angst darüber, aber die älteste brachte sie immer zum Schweigen. Sie tanzten da bis drei Uhr am andern Morgen, wo alle Schuhe durchgetanzt waren und sie aufhören mussten. Die Prinzen fuhren sie über das Wasser wieder zurück, und der Soldat setzte sich diesmal vorn hin zur ältesten. Am Ufer nahmen sie von ihren Prinzen Abschied und versprachen in der folgenden Nacht wiederzukommen. Als sie an der Treppe waren, lief der Soldat voraus und legte sich in sein Bett, und als die Zwölf langsam und müde heraufgetrippelt kamen, schnarchte er schon wieder so laut, dass sie’s alle hören konnten und sprachen: „Vor dem sind wir sicher.“
Da taten sie ihre schönen Kleider aus, brachten sie weg, stellten die zertanzten Schuhe unter das Bett und legten sich nieder. Am andern Morgen wollte der Soldat nichts sagen, sondern das wunderliche Wesen noch mit ansehen, und ging die zweite und die dritte Nacht wieder mit. Da war alles wie das erste Mal, und sie tanzen jedes Mal bis die Schuhe entzwei waren. Das dritte Mal aber nahm er als Wahrzeichen einen Becher mit. Als die Stunde gekommen war, wo er antworten sollte, steckte er die drei Zweige und den Becher zu sich und ging damit vor den König; die Zwölfe aber standen hinter der Türe und horchten, was er sagen würde. Als der König die Frage tat: „Wo haben meine zwölf Töchter ihre Schuhe in der Nacht vertanzt?“, so antwortete er: „Mit zwölf Prinzen in einem unterirdischen Schloss“, berichtete, wie es zugegangen war und holte die Wahrzeichen hervor. Da ließ der König seine Töchter kommen und fragte sie, ob der Soldat die Wahrheit gesagt hätte, und da sie sahen, dass sie verraten waren und leugnen nichts half, so mussten sie alles eingestehen. Darauf fragte ihn der König „welche er zur Frau haben wollte.“ Er antwortete: „Ich bin nicht mehr jung, so gebt mir die älteste.“ Da ward noch am selbigen Tage die Hochzeit gehalten und ihm das Reich nach des Königs Tode versprochen. Aber die Prinzen wurden so viel Tage wieder verwünscht, als sie Nächte mit den Zwölfen getanzt hatten.

Jorinde und Joringel

In einem großen, dichten Walde stand einmal ein altes Schloss. Darin wohnte eine alte Frau, und das war eine böse Zauberin. An hellen Tagen verwandelte sie sich in eine Katze oder Eule, jeden Abend aber wurde aus dem Tier wieder ein Mensch. Sie konnte mit ihren Zauberkünsten das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlachtete sie die Tiere, kochte und briet sie. Wenn ein Mensch auf hundert Schritte dem Schlosse nahekam, so musste er im Bannkreis der Zauberin stille stehen und konnte sich nicht mehr von der Stelle bewegen, bis sie ihn los sprach. Wenn aber eine keusche Jungfrau in diesen Bannkreis geriet, so verwandelte die böse Zauberin das Mädchen in einen Vogel, sperrte den unglücklichen Vogel in einen Korb und trug ihn darin in eines der finsteren Gemächer des Schlosses. Wohl siebentausend solcher Körbe mit diesen seltenen Vögeln verwahrte sie im Schlosse. Nun lebte nicht weit von diesem Schlosse ein Mädchen namens Jorinde. Es war schöner als alle anderen Mädchen in der Nähe und Ferne. Diese Jungfrau war mit einem schönen Jüngling versprochen, der den Namen Joringel trug. Eines Tages gingen sie zusammen über Land bis an den Rand des Zauberwaldes.
"Hüte dich", sagte Joringel zu Jorinde, "dass du einmal zu nahe an das Schloss der Zauberin kommst." Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle Grün des Waldes, und wehmütig gurrten Turteltauben auf den alten Maibuchen. Auf einmal sahen sich die beiden um und wussten nicht mehr, wo sie waren und welchen Weg sie nach Hause einschlagen sollten. Da setzte sich Jorinde in die Sonne, die schon im Untergehen war, und begann zu klagen und zu weinen. Auch Joringel war bestürzt, und es war ihm, als ob er sterben müsste. Immer tiefer wanderte die Sonne hinter den Berg, und ringsum wurde es dunkel. Joringel sah durchs Gebüsch und bemerkte plötzlich in der Nähe die Mauer des alten Schlosses. Er erschrak und wurde todesbang. Jorinde aber hatte zu singen begonnen:
"Mein Vöglein mit dem Ringlein rot
singt Leide, Leide, Leide.
Es singt dem Täublein seinen Tod,
singt Leide, Lei - zicküth, zicküth, zicküth."
Ängstlich wandte sich Joringel nach Jorinde. Aber Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt worden, und es war die Nachtigall, die ,zicküth, zicküth' sang. Eine Eule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal schuhu, schuhu, schuhu. Joringel wollte nach ihr schlagen, aber er konnte sich nicht regen. Wie ein Stein stand er da, konnte nicht reden, nicht weinen, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne hinuntergegangen. Die Eule flog ins Gebüsch, und gleich darauf kam eine alte, krumme Frau aus den Sträuchern hervor mit großen, roten Augen in einem mageren und quittengelben Gesicht und einer krummen Nase, deren Spitze bis zum Kinn reichte. Sie murmelte Zaubersprüche, fing die Nachtigall mit ihren Spinnenfingern und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, konnte nicht von der Stelle kommen, aber die Nachtigall war fort. Endlich kam das Weib wieder, sprach mit dumpfer Stimme einen neuen Zauberspruch, und da wurde Joringel des Bannes ledig. Er fiel vor der Zauberin auf die Knie und bat die Alte, sie möge ihm Jorinde wiedergeben, aber sie verhöhnte ihn und sagte ihm, dass er sie nie wiedersehen werde. Darauf ging sie hinein in den Wald und zu ihrem Schloss. Vergebens rief er nach dem Mädchen, vergebens jammerte und weinte er. Endlich ging er fort und kam nach langem Wandern in ein fremdes Dorf. Dort verdingte er sich als Schafhirte und blieb lange Zeit. Oft strich er rund um das Schloss herum, ohne sich jedoch dem Bannkreis zu nähern. Einmal, in einer sternhellen Nacht, als er auf einer Wiese lag und in den Himmel schaute, hatte er einen Traum. Er träumte, er habe eine blutrote Blume gefunden, in deren Mitte eine schöne, große Perle war. Diese Blume brach er ab, ging damit zum Schlosse und alles, was er mit der Blume berührte, wurde frei vom Zauber der bösen Alten. Auch träumte er, er habe Jorinde dadurch wiederbekommen. Als er erwachte, und es war schon heller Morgen, fing er an, im Tal und auf den Bergen nach dieser Blume zu suchen. Neun Tage lang wanderte er durch die Täler und über die Berge, bis er die blutrote Blume fand. In der Mitte lag ein großer Tautropfen, schön und leuchtend wie eine Perle. Er brach die Blume und wanderte mit ihr zurück, Tag und Nacht, bis er zum Zauberwald kam und vor das Schloss der Hexe. Als er auf hundert Schritte herangekommen war, wurde er nicht verzaubert, so dass er sich nicht mehr regen und bewegen konnte, sondern konnte weitergehen bis ans Tor. Er berührte die Pforte mit der Blume, und sie sprang behände auf. Darauf ging er hinein, durchschritt den Hof und horchte, ob er Vogelstimmen vernehmen könne. Aber es blieb alles still. Alsbald ging er hinein in das Schloss, durchstreifte die Gemächer und kam endlich in einen Saal, der voller Vogelstimmen war. Sogleich entdeckte er auch die Zauberin, die gerade dabei war, die Vögel in den siebentausend Körben zu füttern. Kaum hatte sie Joringel gesehen, da verdunkelte sich ihr Gesicht und sie spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnte auf zwei Schritte nicht an ihn herankommen, denn die Blume, die Joringel ihr entgegenhielt, war stärker als alle ihre Zauberkünste. Langsam ging er von einem Korb zum andern und suchte nach der Nachtigall, in welche die Zauberin Jorinde verwandelt hatte. Aber in den Körben waren viele hundert Nachtigallen. Wie sollte er da seine Jorinde wiederfinden! Traurig suchte er weiter. Plötzlich sah er, dass die Alte heimlich ein Körbchen mit einem Vogel wegnahm und damit zur Türe gehen wollte. Eilig sprang er hinzu, berührte das Körbchen mit der Blume und auch die Zauberin. Da zerbrach ihre Zauberkraft, so dass sie nichts Böses mehr zuwege bringen konnte, und in diesem Augenblick stand Jorinde vor ihm, so schön, wie er das Mädchen nie zuvor gesehen hatte. Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Ehe er aber mit Jorinde das Schloss verließ, berührte er auch alle die anderen Körbe mit der Blume und verwandelte die gefangenen Vögel wieder in Menschen. Dann nahm er Jorinde bei der Hand und verließ mit den befreiten Mädchen den Wald, um mit Jorinde Hochzeit zu feiern.

Das Wasser des Lebens

Es war einmal ein König, der war krank, und niemand glaubte, dass er mit dem Leben davonkäme. Er hatte aber drei Söhne, die waren darüber betrübt, gingen hinunter in den Schlossgarten und weinten. Da begegnete ihnen ein alter Mann, der fragte sie nach ihrem Kummer. Sie sagten ihm, ihr Vater wäre so krank, dass er wohl sterben würde, denn es wollte ihm nichts helfen.
Da sprach der Alte: „Ich weiß noch ein Mittel, das ist das Wasser des Lebens, wenn er davon trinkt, so wird er wieder gesund; es ist aber schwer zu finden.“
Der älteste sagte: „Ich will es schon finden“, ging zum kranken König und bat ihn, er möchte ihm erlauben, auszuziehen, um das Wasser des Lebens zu suchen, denn das könnte ihn allein heilen.
„Nein“, sprach der König, „die Gefahr dabei ist zu groß, lieber will ich sterben.“ Er bat aber so lange, bis der König einwilligte. Der Prinz dache in seinem Herzen: „Bringe ich das Wasser, so bin ich meinem Vater der liebste und erbe das Reich.“
Also machte er sich auf, und als er eine Zeitlang fortgeritten war, stand da ein Zwerg auf dem Wege, der rief ihn an und sprach: „Wo hinaus so geschwind?“
„Dummer Knirps“, sagte der Prinz ganz stolz, „das brauchst du nicht zu wissen“, und ritt weiter. Das kleine Männchen aber war zornig geworden und hatte einen bösen Wunsch getan. Der Prinz geriet bald hernach in eine Bergschlucht, und je weiter er ritt, je enger taten sich die Berge zusammen, und endlich war der Weg so eng, dass er keinen Schritt weiter konnte; es war nicht möglich, das Pferd zu wenden, oder aus dem Sattel zu steigen, und er saß da wie eingesperrt. Der kranke König wartete lange Zeit auf ihn, aber er kam nicht. Da sagte der zweite Sohn: „Vater, lass mich ausziehen und das Wasser suchen“, und dachte bei sich „ist mein Bruder tot, so fällt das Reich mir zu.“ Der König wollte ihn anfangs auch nicht ziehen lassen, endlich gab er nach. Der Prinz zog also auf demselben Weg fort, den sein Bruder eingeschlagen hatte und begegnete auch dem Zwerg, der ihn anhielt und fragte, wohin er so eilig wolle.
„Kleiner Knirps“, sagte der Prinz, „das brauchst du nicht zu wissen“ und ritt fort, ohne sich weiter umzusehen. Aber der Zwerg verwünschte ihn, und er geriet wie der andere in eine Bergschlucht und konnte nicht vorwärts und rückwärts. So geht’s aber den Hochmütigen.
Als auch der zweite Sohn ausblieb, so erbot sich der jüngste, auszuziehen und das Wasser zu holen, und der König musste ihn endlich ziehen lassen. Als er dem Zwerg begegnete und dieser fragte, wohin er so eilig wolle, so hielt er an, gab ihm Rede und Antwort und sagte: „Ich suche das Wasser des Lebens, denn mein Vater ist sterbenskrank.“
„Weißt du auch, wo das zu finden ist?“
„Nein“, sagte der Prinz.
„Weil du dich betragen hast, wie sich’s geziemt, nicht übermütig wie deine falschen Brüder, so will ich dir Auskunft geben und dir sagen, wie du zu dem Wasser des Lebens gelangst. Es quillt aus einem Brunnen in dem Hofe eines verwünschten Schlosses, aber du dringst nicht hinein, wenn ich dir nicht eine eiserne Rute gebe und zwei Laiberchen Brot. Mit der Rute schlag drei Mal an das eiserne Tor des Schlosses, so wird es aufspringen; inwendig liegen zwei Löwen, die den Rachen aufsperren, wenn du aber jedem ein Brot hineinwirfst, so werden sie still, und dann eile dich und hol von dem Wasser des Lebens, bevor es zwölf schlägt, sonst schlägt das Tor wieder zu und du bist eingesperrt.“
Der Prinz dankte ihm, nahm die Rute und das Brot und machte sich auf den Weg. Und als er anlangte, war alles so, wie der Zwerg gesagt hatte. Das Tor sprang beim dritten Rutenschlag auf, und als er die Löwen mit dem Brot besänftigt hatte, trat er in das Schloss und kam in einen großen schönen Saal, darin saßen verwünschte Prinzen, denen zog er die Ringe vom Finger, dann lag da ein Schwert und ein Brot, das nahm er weg. Und weiter kam er in ein Zimmer, darin stand eine schöne Jungfrau, die freute sich, als sie ihn da, küsste ihn und sagte, er hätte sie erlöst und sollte ihr ganzes Reich haben und wenn er in einem Jahre wiederkäme, so sollte ihre Hochzeit gefeiert werden. Dann sagte sie ihm auch, wo der Brunnen wäre mit dem Lebenswasser, er müsste sich aber eilen und daraus schöpfen, eh es zwölf schlüge. Da ging er weiter und kam endlich in ein Zimmer, wo ein schönes, frisch gedecktes Bett stand, und weil er müde war, wollte er erst ein wenig ausruhen. Also legte er sich und schlief ein; als er erwachte, schlug es drei Viertel auf zwölf. Da sprang er ganz erschrocken auf, lief zu dem Brunnen und schöpfte daraus mit einem Becher, der daneben stand, und eilte, dass er fort kam. Wie er eben zum eisernen Tor hinausging, da schlug’s zwölf, und das Tor schlug so heftig zu, dass es ihm noch ein Stück von der Ferse wegnahm.
Er aber war froh, dass er das Wasser des Lebens erlangt hatte, ging heimwärts und kam wieder an dem Zwerg vorbei. Als dieser das Schwert und das Brot sah, sprach er: Damit hast du großes Gut gewonnen, mit dem Schwert kannst du ganze Heere schlagen, das Brot aber wird niemals all.“
Der Prinz wollte ohne seine Brüder nicht zu dem Vater nach Haus kommen und sprach: „Lieber Zwerg, kannst du mir nicht sagen, wo meine zwei Brüder sind? Sie sind früher als ich nach dem Wasser des Lebens ausgezogen und sind nicht wieder gekommen.“
„Zwischen zwei Bergen stecken sie eingeschlossen“, sprach der Zwerg, „dahin habe ich sie gewünscht, weil sie so übermütig waren.“
Da bat der Prinz so lange, bis der Zwerg sie wieder losließ, aber er warnte ihn und sprach“ Hüte dich vor ihnen, sie haben ein böses Herz.“
Als seine Brüder kamen, freute er sich und erzählte ihnen, wie es ihm ergangen wäre, dass er das Wasser des Lebens gefunden und einen Becher voll mitgenommen und eine schöne Prinzessin erlöst hätte, die wollte ein Jahr lang auf ihn warten, dann sollte Hochzeit gehalten werden, und er bekäme ein großes Reich. Danach ritten sie zusammen fort und geritten in ein Land, wo Hunger und Krieg war, und der König glaubte schon, er müsste verderben, so groß war die Not. Da ging der Prinz zu ihm und gab ihm das Brot, womit er sein ganzes Reich speiste und sättigte, und dann gab ihm der Prinz auch das Schwert, damit schlug er die Heere seiner Feinde und konnte nun in Ruhe und Frieden leben. Da nahm der Prinz sein Brot und Schwert wieder zurück, und die drei Brüder ritten weiter.
Sie kamen aber noch in zwei Länder, wo Hunger und Krieg herrschten, und da gab der Prinz den Königen jedes Mal sein Brot und Schwert, und hatte nun drei Reiche gerettet. Und danach setzten sie sich auf ein Schiff und fuhren übers Meer. Während der Fahrt da sprachen die beiden ältesten unter sich: „Der jüngste hat das Wasser des Lebens gefunden und wir nicht, dafür wird ihm unser Vater das Reich geben, das uns gebührt, und er wird unser Glück wegnehmen.“ Da wurden sie rachsüchtig und verabredeten miteinander, dass sie ihn verderben wollten. Sie warteten bis er einmal fest eingeschlafen war, da gossen sie das Wasser des Lebens aus dem Becher und nahmen es für sich, ihm aber gossen sie bitteres Meerwasser hinein.
Als sie nun daheim ankamen, brachte der jüngste dem kranken König seinen Becher, damit er daraus trinken und gesund werden sollte. Kaum aber hatte er ein wenig von dem bittern Meerwasser getrunken, so ward er noch kränker als zuvor. Und wie er darüber jammerte, kamen die beiden ältesten Söhne und klagten den jüngsten an, er hätte ihn vergiften wollen, sie brächten ihm das rechte Wasser des Lebens, und reichten es ihm. Kaum hatte er davon getrunken, so fühlte er seine Krankheit verschwinden, und war stark und gesund wie in seinen jungen Tagen. Danach gingen die beiden zum jüngsten, verspotteten ihn und sagten: Du hast zwar das Wasser des Lebens gefunden, aber du hast die Mühe gehabt und wir den Lohn; du hättest klüger sein und die Augen aufhalten sollen, wir haben dir’s genommen, während du auf dem Meere eingeschlafen warst, und übers Jahr, da holt sich einer von uns die schöne Königstochter. Aber hüte dich, dass du nichts davon verrätst, der Vater glaubt dir doch nicht, und wenn du ein einziges Wort sagst, so sollst du noch obendrein dein Leben verlieren, schweigst du aber, so soll dir’s geschenkt sein.“
Der alte König war zornig über seinen jüngsten Sohn und glaubte, er hätte ihm nach dem Leben getrachtet. Also ließ er den Hof versammeln und das Urteil über ihn sprechen, dass er heimlich sollte erschossen werden. Als der Prinz nun einmal auf die Jagd ritt und nichts Böses vermutete, musste des Königs Jäger mitgehen. Draußen, als sie ganz allein im Wald waren, und der Jäger so traurig aussah, sagte der Prinz zu ihm: „Lieber Jäger, was fehlt dir?“
Der Jäger sprach: „Ich kann’s nicht sagen und soll es doch.“
Da sprach der Prinz: „Sage heraus, was es ist, ich will dir’s verzeihen.“
„Ach“, sagte der Jäger, „ich soll Euch totschießen, der König hat’s befohlen.“
Da erschrak der Prinz und sprach: „Lieber Jäger, lass mich leben, da geb ich dir mein königliches Kleid, gib mir dafür dein schlechtes.“
Der Jäger sagte: „Das will ich gerne tun, ich hätte doch nicht nach Euch schießen können.“
Da tauschten sie die Kleider, und der Jäger ging heim, der Prinz aber ging weiter in den Wald hinein.
Über eine Zeit, da kamen zu dem König drei Wagen mit Gold und Edelsteinen für seinen jüngsten Sohn; sie waren aber von den drei Königen geschickt, die mit des Prinzen Schwert die Feinde geschlagen und mit seinem Brot ihr Land genährt hatten, und die sich dankbar bezeigen wollten.
Da dache der alte König: „Solle mein Sohn unschuldig gewesen sein?“ Und sprach zu seinen Leuten: „Wäre er noch am Leben, wie tut’s mir so leid, dass ich ihn habe töten lassen.“
„Er lebt noch“, sprach der Jäger, „ich konnte es nicht übers Herz bringen, Euren Befehl auszuführen“, und sagte dem König, wie es zugegangen war. Da fiel dem König ein Stein von dem Herzen, und er ließ in allen Reichen verkündigen, sein Sohn dürfte wiederkommen und sollte in Gnaden aufgenommen werden.
Die Königstochter aber ließ eine Straße vor ihrem Schloss machen, die war ganz golden und glänzend, und sagte ihren Leuten, wer darauf geradewegs zu ihr geritten käme, der wäre der rechte nicht, und den sollten sie auch nicht einlassen. Als nun die Zeit bald herum war, dachte der älteste, er wollte sich eilen, zur Königstochter gehen und sich für ihren Erlöser ausgeben, da bekäme er sie zur Gemahlin und das Reich daneben. Also ritt er fort, und als er vor das Schloss kam und die schöne goldene Straße sah, dachte er: „Das wäre jammerschade, wenn du darauf rittest“, lenkte ab und ritt rechts nebenher. Wie er aber vor das Tor kam, sagten die Leute zu ihm, er wäre der rechte nicht, er sollte wieder fortgehen. Bald darauf machte sich der zweite Prinz auf, und wie der zur goldenen Straße kam, und das Pferd den einen Fuß daraufgesetzt hatte, dachte er: „Es wäre jammerschade, das könnte etwas abtreten“, lenkte ab und ritt links nebenher. Wie er aber vor das Bor kam, sagten die Leute, er wäre der rechte nicht, er sollte wieder fortgehen. Als nun das Jahr ganz herum war, wollte der dritte aus dem Wald fort zu seiner Liebsten reiten und bei ihr sein Leid vergessen. Also machte er sich auf, und dachte immer an sie und wäre gerne schon bei ihr gewe4sen, und sah die goldene Straße gar nicht. Da ritt sein Pferd mitten darüber hin, und als er vor das Tor kam, ward es aufgetan, und die Königstochter empfing ihn mit Freuden und sagte, er wäre ihr Erlöser und der Herr des Königsreichs, und ward die Hochzeit gehalten mit großer Glückseligkeit. Und als sie vorbei war, erzählte sie ihm, dass sein Vater ihn zu sich entboten und ihm verziehen hätte. Da ritt er hin und sagte ihm alles, wie seine Brüder ihn betrogen und er doch dazu geschwiegen hätte. Der alte König wollte sie strafen, aber sie hatten sich aufs Meer gesetzt und waren fortgeschifft und kamen ihr Lebtag nicht wieder.

Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich

Einst, als unter den Menschen das Wünschen noch half, lebte einmal ein König. Seine Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass sich die Sonne selbst darüber verwunderte, so oft sie ihr ins Antlitz schien.
Nahe dem Schlosse des Königs lag ein großer, dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen. Wenn nun der Tag sehr heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens. Und wenn es Langeweile hatte, so nahm es eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf. Das war des Mädchens liebster Zeitvertreib.
Einmal jedoch geschah es, dass die goldene Kugel den Händen der Königstochter entglitt, auf die Erde schlug und ins Wasser rollte. Das Mädchen folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, dass man seinen Grund nicht sah. Da fing die Königstochter zu weinen an und konnte sich gar nicht trösten. Als sie aber so klagte, hörte sie plötzlich eine Stimme: "Was hast du denn, Königstochter, du weinst ja, dass sich ein Stein darüber erbarmen möchte!" Sie blickte sich um, woher die Stimme komme, da sah sie einen Frosch, der seinen dicken, hässlichen Kopf aus dem Brunnen streckte.
"Ach, du bist's, alter Wasserpatscher" , antwortete sie missmutig, "ich weine über meine goldene Kugel, die in den Brunnen hinabgefallen ist."
"Sei still, Königstochter, und weine nicht", erwiderte der Frosch, "ich kann dir Hilfe schaffen. Aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielzeug aus der Tiefe heraufhole?"
"Was du haben willst, lieber Frosch", sagte sie, "meine Kleider, alle meine Perlen und Edelsteine und auch die goldene Krone, die ich trage."
"Deine Kleider, Königstochter, deine Perlen und Edelsteine", antwortete der Frosch, "und auch deine goldene Krone mag ich nicht. Aber wenn du mich liebhaben willst, wenn du mich von jetzt an deinen Gefährten und Spielkameraden nennst, wenn ich an deinem Tische neben dir sitzen, von deinem goldenen Teller essen, aus deinem Becher trinken und in deinem Bette schlafen darf, so will ich hinuntersteigen und dir die goldene Kugel heraufholen. Versprichst du mir das?"
"Ja, lieber Frosch", erwiderte das Mädchen, "ich verspreche dir alles, was du willst. Bring mir nur die goldene Kugel wieder." Im Grunde ihres Herzens aber dachte sie: "Was der Frosch doch für einfältiges Zeug daherschwatzt! Wie könnte er eines Menschen Gefährte sein, sitzt er doch drunten im Wasser bei seinesgleichen und quakt den lieben langen Tag!"
Kaum hatte der Frosch ihr Wort erhalten, da tauchte er mit dem Kopf ins Wasser zurück und sank lautlos hinab. über ein Weilchen aber kam er wieder heraufgerudert, hielt die goldene Kugel im Maul und warf sie dann ins Gras, dass sie blitzte in der hellen Sonne. Voller Freude erhob sich die Königstochter, als sie ihr schönes Spielzeug wieder erblickte, hob es jauchzend auf und sprang damit fort. "Warte, warte", rief der Frosch ihr nach, "nimm mich mit, ich kann nicht so laufen wie du." Aber was half es ihm, dass er ihr sein Quak-Quak, so laut er konnte, entrüstet nachschallen ließ! Sie hörte nicht darauf, eilte durch den Wald zum Schloss ihres Vaters und hatte bald den armen Frosch vergessen, den sie für einen einfältigen Schwätzer hielt und der nun wieder in die dunkle Tiefe des Brunnens hinuntersteigen musste.
An anderen Tage, als sie sich mit dem König und allen Hofleuten an die Tafel gesetzt hatte und von ihrem goldenen Teller aß, da kam etwas die Marmortreppe heraufgehüpft: Plitsch-platsch, plitsch-platsch machte es, und als es oben angelangt war, klopfte es an die Türe und rief: "Königstochter, jüngste, mach mir auf!"
Neugierig erhob sie sich und wollte sehen, wer draußen stehe. Als sie aber die Türe aufmachte, saß der Frosch mit seinem dicken, hässlichen Kopf davor. Da warf sie die Türe hastig zu, eilte an die Tafel zurück und sah voll Angst auf ihren goldenen Teller. Der König bemerkte wohl, dass ihr das Herz gewaltig klopfte. "Mein Kind", sprach er, "was fürchtest du dich? Steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen?"
"Ach nein", antwortete sie, "es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch."
"Was will denn der Frosch von dir?"
"Ach, lieber Vater", erwiderte das Mädchen, "als ich gestern im Wald am Brunnen saß und spielte, da fiel meine goldene Kugel ins Wasser. Und weil ich darüber weinte, hat sie der Frosch heraufgeholt, und weil er es durchaus verlangte, so versprach ich ihm, er solle mein Gefährte und Spielkamerad werden. Ich dachte aber, dass er nimmermehr aus seinem Wasser herauskönne. Nun ist er draußen und will zu mir herein."
Kaum hatte sie so gesprochen, als es zum zweiten Mal klopfte und rief: "Königstochter, jüngste, mach mir auf!
Weißt du nicht, was gestern du zu mir gesagt bei dem kühlen Brunnenwasser? Königstochter, jüngste,
mach mir auf!"
Da sagte der König: "Was du versprochen hast, das musst du auch halten. Geh also und mach ihm auf."
Ängstlich erhob sie sich und öffnete die Türe. Da hüpfte der Frosch herein und folgte ihr auf dem Fuße nach, bis hin zu ihrem Stuhl.
"Heb mich hinauf zu dir, Königstochter, jüngste", rief er, als er so vor ihr saß.
Sie zauderte, bis es ihr der König endlich befahl. Als der Frosch aber auf dem Stuhle saß, wollte er auf den Tisch, und als er dort saß, sagte er: "Nun schieb mir deinen goldenen Teller zu, damit ich mit dir zusammen essen kann." Missmutig tat sie, was der hässliche Wasserpatscher von ihr gefordert hatte. Der Frosch ließ es sich schmecken, ihr aber blieb fast der kleinste Bissen im Halse stecken.
Endlich sprach er: "Ich habe mich satt gegessen und bin müde, trag mich jetzt in dein Schlafgemach, Königstochter, jüngste, und mach mir dein seidenes Bett zurecht, damit ich mich neben dir schlafen legen kann."
Das Mädchen fing zu weinen an und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie sich nicht anzurühren getraute und der nun gar in ihrem schönen, reinen Bette schlafen wollte.
Der König aber wurde zornig und sprach: "Er hat dir geholfen, als du in Not warst, jetzt sollst du ihn mir nicht verachten."
Da packte sie ihn mit zwei Fingern, trug ihn hinauf in ihr Schlafgemach und setzte ihn in eine Ecke. Als sie aber im Bett lag, kam er herangehüpft und sagte: "Ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du. Heb mich hinauf zu dir, oder ich sag's deinem Vater."
Da holte sie ihn herauf mit bösem Herzen und warf ihn aus allen Kräften an die Wand. "Nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch!"
Als sie aber aufschaute, sah sie keinen Frosch, sondern einen Königssohn mit schönen, freundlichen Augen. Der wurde nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Gefährte und Gemahl.
"Eine böse Hexe hat mich verwünscht", so erzählte er ihr, "und niemand hat mich aus dem Brunnen erlösen können als du allein. Morgen wollen wir zusammen in mein Königreich fahren."
Am nächsten Tage, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren, mit acht weißen Pferden bespannt, die weiße Straußenfedern auf den Köpfen trugen und in goldenen Geschirren gingen. Hinten auf dem Wagen stand der Diener des jungen Königs, das war der treue Heinrich. Er hatte sich so gegrämt, als sein Herr in einen Frosch verwandelt worden war, dass er sich um sein Herz drei eiserne Reifen hatte legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspringe. Der treue Heinrich hob den jungen König und seine Gemahlin in den Wagen, stellte sich wieder hinten auf und war voll Freude darüber, dass sein Herr Erlösung gefunden hatte. So fuhren sie dahin in der blitzenden Morgensonne. Als sie aber ein Stück Weges gefahren waren, hörte der Königssohn plötzlich ein seltsames Krachen hinter sich, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und rief: "Heinrich, der Wagen bricht!"
"Nein, Herr", antwortete der treue Diener, "der Wagen nicht. Es ist ein Reif von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als ihr in dem Brunnen lagt und als Wasserfrosch gequakt."
Noch einmal und dann noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn meinte immer, der Wagen breche, und es waren doch nur die Reifen, die vom Herzen des treuen Heinrich sprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.

Die drei Faulen

Ein König hatte drei Söhne, die waren ihm alle gleich lieb, und er wusste nicht, welchen er zum König nach seinem Tode bestimmen sollte. Als die Zeit kam, dass er sterben wollte, rief er sie vor sein Bett und sprach: „Liebe Kinder, ich habe etwas bei mir bedacht, das will ich euch eröffnen: welcher von euch der faulste ist, der soll nach mir König werden.“
Da sprach der älteste: „Vater, so gehört das Reich mir, denn ich bin so faul, wenn ich liege und will schlafen, und es fällt mir ein Tropfen in die Augen, so mag ich sie nicht zutun, damit ich einschlafe.“
Der zweite sprach: „Vater, das Reich gehört mir, denn ich bin so faul, wenn ich beim Feuer sitze, mich zu wärmen, so ließ ich mir eher die Fersen verbrennen, eh ich die Beine zurückzöge.“
Der dritte sprach: „Vater, das Reich ist mein, denn ich bin so faul, sollt ich aufgehenkt werden, und hätte den Strick schon um den Hals, und einer gäbe mir ein scharfes Messer in die Hand, damit ich den Strick zerschneiden dürfte, so ließ ich mich eher aufhenken, ehe ich meine Hand erhübe zum Strick.“
Wie der Vater das hörte, sprach er: „Du hast es am weitesten gebracht und sollst der König sein.“

Attalus, der Pferdeknecht, und Leo, der Küchenjunge

Zurzeit, als Theoderich und Childebert, die Frankenkönige, in Hader und Zwietracht lebten und viele edele Söhne zu Geiseln gegeben oder in Knechtschaft gebracht wurden, trug sich auch folgende Begebenheit zu:
Attalus, von guter Abkunft und ein naher Verwandter des heiligen Gregor, geriet in die Dienstschaft eines Franken im Trierischen Gebiet und wurde zum Pferdewärter bestellt. Der Bischof Gregor, um sein Schicksal besorgt, sandte Boten aus, die ihn aufsuchen sollten, endlich auch fanden und seinem Herrn Gaben anboten, um Attalus freizukaufen. Der Mann verwarf sie aber und sprach: "Einer von solcher Geburt muss losgekauft werden mit zehn Pfunden Goldes." Also kamen die Abgesandten unverrichteter Dinge wieder heim zu Gregor; aber Leo, einer seiner Küchendiener, sprach: "Wofern Ihr mir erlauben wollet, ihn aufzusuchen, könnte ich ihn vielleicht aus der Gefangenschaft erledigen." Der Bischof war froh und gestattete es ihm; da kam auch Leo an jenen Ort und suchte den Knaben heimlich fortzuschaffen; allein er konnte nicht. Darauf verabredete er sich mit einem anderen Manne und sprach: "Komm mit mir dahin und verkaufe mich in dem Hause des Franken; der Preis, den du empfängst, soll dein Gewinn sein." Der Mann tat's und schlug ihn um zwölf Goldgulden los; der Käufer aber fragte den Knecht, welchen Dienst er verstünde. "In Zubereitung aller Dinge, die auf der Herren Tische gegessen werden, bin ich gar geschickt und befürchte nicht, dass einer mich übertrifft; denn selbst königliche Gerichte kann ich bereiten, wenn du dem König ein Gastmahl geben wolltest." Jener antwortete: "Nächsten Sonntag werden meine Nachbarn und Freunde zu mir eingeladen werden; da sollst du ein Mahl zurichten, dass alle sagen, in des Königs Hause hätten sie Besseres nicht gefunden." Leo sagte: "Mein Herr, lasse mir nur eine Menge junger Hähne bringen, so will ich dein Gebot schon erfüllen." Als nun das geschehen war, stellte er auf den Sonntag ein solches und dermaßen köstliches Essen her, dass alle Gäste es nicht genug loben konnten. Die Freunde des Herrn kehrten nach Haus zurück, der Herr aber schenkte dem Küchenknecht seine Gunst und gab ihm Gewalt und Aufsicht über all seine Vorräte.
So verlief ein Jahr, und der Herr liebte ihn immer mehr und setzte alles Vertrauen auf ihn. Einmal ging nun Leo auf die Wiese, nahe beim Haus, wo Attalus der Pferde wartete, und fing an, mit ihm zu reden; und sie legten sich weit voneinander auf die Erde, mit sich zugedrehten Rücken, damit niemand mutmaßen möchte, dass sie zusammen sprächen. "Zeit ist es", sagte Leo, "dass wir an unser Vaterland denken; ich mahne dich, wenn du heut' Nacht die Pferde in den Stall gebracht hast, so lasse dich nicht vom Schlaf bewältigen, sondern sei munter, wenn ich dich rufe, dass wir uns alsobald fortmachen können." Der Franke hatte aber wieder viele Verwandte und Freunde zu Gast geladen, unter anderen den Schwiegersohn, der mit seiner Tochter verheiratet war. Als sie nun um Mitternacht aufstiegen und schlafen gehen wollten, reichte Leo seines Herrn Schwiegersohn einen Becher zu trinken. Der scherzte und sprach: "Wie, Leo? möchtest du wohl mit deines Herrn Pferden durchgehen und wieder in deine Heimat?" Er antwortete gleichsam scherzweise die Wahrheit und sagte: "Ja, heut' Nacht, wenn's Gottes Wille ist." "Wenn mich nur", erwiderte der Schwiegersohn, "meine Leute gut bewachen, dass du mir nichts von meinen Sachen mit entführest." So in Lachen schieden sie voneinander.
Wie aber alle entschlafen waren, rief Leo den Attalus aus dem Bett. "Hast du ein Schwert?"
"Nein, bloß einen kurzen Spieß." –
Da ging Leo in seines Herrn Gemach und nahm Schild und Lanze. Der Herr aber fragte halbwach: "Wer bist du, und was willst du?" –
"Leo bin ich, dein Diener; und ich wecke den Attalus, dass er früh aufstehe und die Pferde zur Weide führe. Denn er verschläft sich und ist noch trunken." Der Herr sprach: "Tu, wie du meinst"; und nach diesen Worten schlief er von neuem ein. Leo aber ging zur Tür hinaus, wappnete den Jüngling; und die Stalltür, die er noch abends zur Sicherung der Pferde mit Hammerschlägen vernagelt hatte, stand jetzt offen, gleichsam durch göttliche Schickung. Da dankte er Gott seines Beistandes, und sie nahmen die Pferde mit aus dem Stall und entwichen; auch einen Falken nahmen sie nebst den Decken.
Beim Übergang der Mosel wurden sie aufgehalten und mussten Pferde und Decken im Stich lassen; und auf ihre Schilde gelegt, schwammen sie den Strom hinüber. Als die Nacht kam und es dunkel wurde, gingen sie in einen Wald und bargen sich. Und schon war die dritte Nacht gekommen, noch keinen Bissen Speise hatten sie in ihren Mund gebracht und wanderten in einem fort. Da fanden sie auf Gottes Wink einen Baum voll Obst und erlabten sich daran. Darauf langten sie in Campanien (Champagne) an; bald hörten sie hinter sich Rosstritte und sprachen: "Es kommen Männer geritten, werfen wir uns zur Erde, dass sie uns nicht erspähen!" Und siehe, ein großer Dornstrauch stand daneben; dahinter traten sie, warfen sich nieder zu Boden, mit aus der Scheide gezogenen Schwertern, damit, wenn sie entdeckt würden, sie sich alsbald wehren könnten.
Die Reiter aber, als sie zu der Stelle gelangt waren, hielten gerade vor dem Dornstrauch still, und einer unter ihnen sprach: "Übel geht es mir mit diesen beiden Flüchtlingen, dass wir sie nimmer finden können; das weiß ich aber, so wahr ich lebe, würden sie ertappt, so ließ' ich den einen an den Galgen hängen, den anderen in tausend Stücke zerhauen mit Schwertschlägen. " Der die Worte sprach, war ihr Herr, der Franke, der aus Reims herkam, sie zu suchen, und sie unfehlbar gefunden hätte, wo nicht die Nacht dazwischengekommen wäre. Danach ritten die Männer wieder weiter; jene aber erreichten noch selbe Nacht glücklich die Stadt, gingen hinein und suchten einen Bürger auf, den sie fragten, wo Paulus', des Priesters, Haus wäre. Der Bürger zeigte ihnen das Haus. Als sie aber durch die Gasse gingen, läutete das Zeichen zur Frühmette; denn es war Sonntag. Sie aber klopften an des Priesters Tür, und sie ward aufgetan. Der Knabe fing an zu erzählen von seinem Herrn. Da sprach der Priester: "So wird wahr mein Traum! Denn es träumte mir heut' von zweien Tauben, die flogen her und setzten sich auf meine Hand. Und eine von ihnen war weiß, die andere schwarz." Die Knaben sagten dem Priester: " Weil ein heiliger Tag heut' ist, bitten wir, dass du uns etwas Speise gebest; denn heute leuchtet der vierte Tag, dass wir kein Brot noch Mus genossen haben." Er barg aber die Knaben bei sich, gab ihnen Brot, mit Wein begossen, und ging in seine Metten.
Der Franke war auch an diesen Ort gegangen und hatte die Knaben gesucht; als ihm aber der Priester eine Täuschung vorgesagt, kehrte er zurück. Denn der Priester stand in alter Freundschaft mit dem heiligen Gregor. Als sich nun die Knaben mit Speisen zu neuen Kräften gestärkt hatten und zwei Tage in diesem Hause geblieben waren, schieden sie und kamen glücklich bei Bischof Gregorius an, der sich über ihren Anblick freute und an dem Halse seines Enkels Attalus weinte. Den Leo aber mit all seinem Geschlechte machte er frei von der Knechtschaft und gab ihm ein eigen Land, wo er mit Frau und Kindern als ein Freier das Leben beschloss

Die zwölf Jäger

Es war einmal ein Königssohn, der hatte eine Braut und hatte sie sehr lieb. Als er nun bei ihr saß und ganz vergnügt war, da kam die Nachricht, dass sein Vater todkrank läge und ihn noch vor seinem Ende zu sehen erlangte. Da sprach er zu seiner Liebsten: „Ich muss nun fort und muss dich verlassen, da geb ich dir einen Ring zu meinem Andenken. Wann ich König bin, komm ich wieder und hol dich heim.“
Da ritt er fort, und als er bei seinem Vater anlangte, war dieser sterbenskrank und dem Tode nah. Er sprach zu ihm: „Liebster Sohn, ich habe dich vor meinen Ende noch einmal sehen wollen, versprich mir, nach meinem Willen, dich zu verheiraten“, und nannte ihm eine gewisse Königstochter, die sollte seine Gemahlin werden. Der Sohn war so betrübt, dass er sich gar nicht bedachte, sondern sprach: „Ja, lieber Vater, was Euer Wille ist, soll geschehen“, und darauf schloss der König die Augen und starb.
Als nun der Sohn zum König ausgerufen und die Trauerzeit verflossen war, musste er das Versprechen halten, das er seinem Vater gegeben hatte, und ließ um die Königstochter werben, und sie ward ihm auch zugesagt. Das hörte seine erste Braut und grämte sich über die Untreue so sehr, dass sie fast verging.
Da sprach ihr Vater zu ihr: „Liebstes Kind, warum bist du so traurig? Was du dir wünschest, das sollst du haben.“
Sie bedachte sich einen Augenblick, dann sprach sie: „Lieber Vater, ich wünsche mir elf Mädchen, von Angesicht, Gestalt und Wuchs völlig gleich.“
Sprach der König: „Wenn’s möglich ist, soll dein Wunsch erfüllt werden“, und ließ in seinem ganzen Reich so lange suchen, bis elf Jungfrauen gefunden waren, seiner Tochter von Angesicht, Gestalt und Wuchs völlig gleich.
Als sie zu der Königstochter kamen, ließ diese zwölf Jägerkleider machen, eins wie das andere, und die elf Jungfrauen mussten die Jägerkleider anziehen, und sie selber zog das zwölfte an. Darauf nahm sie Abschied von ihrem Vater und ritt mit ihnen fort und ritt an den Hof ihres ehemaligen Bräutigams, den sie so sehr liebte. Da fragte sie an, ob er Jäger brauchte und ob er sie nicht alle zusammen in seinen Dienst nehmen wollte. Der König sah sie an und erkannte sie nicht; weil es aber so schöne Leute waren, sprach er ja, er wollte sie gerne nehmen; und da waren sie die zwölf Jäger des Königs.
Der König aber hatte einen Löwen, das war ein wunderliches Tier, denn er wusste alles Verborgene und Heimliche. Es trug sich zu, dass er eines Abends zum König sprach: „U meinst, du hättest a zwölf Jäger?“
„Ja“, sagte der König, „zwölf Jäger sind’s.“
Sprach der Löwe weiter: „Du irrst dich, das sind zwölf Mädchen.“
Antwortete der König: „Das ist nimmermehr wahr, wie willst du mir das beweisen?“
„O, lass nur Erbsen in dein Vorzimmer streuen“, antwortete der Löwe, „da wirst du’s gleich sehen. Männer haben einen festen Tritt, wenn die über Erbsen hingehen, regt sich keine, aber Mädchen, die trippeln und trappeln und schlurfen und die Erbsen rollen.“
Dem König gefiel der Rat wohl und er ließ die Erbsen streuen.
Es war aber ein Diener des Königs, der zwar den Jägern gut, und wie er hörte, dass sie sollten auf die Probe gestellt werden, ging er hin und erzählte ihnen alles wieder, und sprach: „Der Löwe will dem König weismachen, ihr wär’t Mädchen.“
Da dankte ihm die Königstochter und sprach hernach zu ihren Jungfrauen: „Tut euch Gewalt an und tretet fest auf die Erbsen.“
Als nun der König am andern Morgen die zwölf Jäger zu sich rufen ließ und sie ins Vorzimmer kamen, wo die Erbsen lagen, so traten sie so fest darauf und hatten einen so sicheren Gang, dass auch nicht eine rollte, oder sich bewegte.
Da gingen sie wieder fort und der König sprach zum Löwen: “Du hast mich belogen, sie gehen ja wie Männer.“
Antwortete der Löwe: „Sie haben’s gewusst, dass sie sollten auf die Probe gestellt werden und haben sich Gewalt angetan. Lasst nur einmal zwölf Spinnräder ins Vorzimmer bringen, so werden sie herzukommen und werden sich daran freuen, und das tut kein Mann.“
Dem König gefiel der Rat, und er ließ die Spinnräder ins Vorzimmer stellen.
Der Diener aber, der’s redlich mit den Jägern meinte, ging hin und entdeckte ihnen den Anschlag. Da sprach die Königstochter, als sie allein waren, zu ihren elf Mädchen: „Tut euch Gewalt an und blickt euch nicht um nach den Spinnrädern.“
Wie nun der König am andern Morgen seine zwölf Jäger rufen ließ, so kamen sie durch das Vorzimmer und sahen die Spinnräder gar nicht an. Da sprach der König wiederum zum Löwen:“ Du hast mich belogen, es sind Männer, denn sie haben die Spinnräder nicht angesehen.“
Der Löwe antwortete: „Sie haben’s gewusst, dass sie sollten auf die Probe gestellt werden, und haben sich Gewalt angetan.“
Der König aber wollte dem Löwen nicht mehr glauben.
Die zwölf Jäger folgten dem König beständig zur Jagd, und er hatte sie je länger, je lieber. Nun geschah es, dass, als sie einmal auf der Jagd waren, Nachricht kam, die Braut des Königs wäre im Anzug. Wie die echte Braut das hörte, tat’s ihr so weh, dass es ihr fast das Herz abstieß und sie ohnmächtig auf die Erde fiel. Der König meinte, seinem lieben Jäger sei etwas begegnet, lief hinzu und wollte ihm helfen, und zog ihm den Handschuh aus. Da erblickte er den Ring, den er seiner ersten Braut gegeben, und als er ihr in das Gesicht sah, erkannte er sie. Da ward sein Herz so gerührt, dass er sie küsste, und als sie die Augen aufschlug, sprach er: „Du bist mein und ich bin dein, und kein Mensch auf der Welt kann das ändern.“
Zu der andern Braut aber schickte er einen Boten und ließ sie bitten, in ihr Reich zurückzukehren, denn er habe schon eine Gemahlin, und wer einen alten Schlüssel wiedergefunden habe, brauche den neuen nicht. Darauf ward die Hochzeit gefeiert, und der Löwe kam wieder in Gnade, weil er doch die Wahrheit gesagt hatte.

Schneeweißchen und Rosenrot

In einer kleinen Hütte lebte einmal eine arme Witwe. Rings um die Hütte war ein Garten, und ihm standen zwei Rosenbäumchen. Von diesen Bäumen trug der eine weiße, der andere rote Rosen. Die arme Frau hatte auch zwei Kinder, die glichen beiden Rosenbäumchen. Das eine hieß Schneeweißchen und das andere Rosenrot. Beide waren sie fron und gut und unverdrossen. Nur war Schneeweißchen stiller und sanfter als Rosenrot und saß oft daheim bei der Mutter, während Rosenrot lieber in den Wiesen und Feldern umher sprang und Blumen suchte. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, dass nicht ohne einander leben wollten.
"Wir wollen nicht verlassen", sagte Schneeweißchen.
"Gewiss nicht", antwortete Rosenrot, und die Mutter sagte: "Was das eine hat, soll es mit dem anderen teilen."
Oft gingen die Kinder allein durch den Wald. Nie tat ihnen ein Tier etwas zuleid. Einmal, als sie im Walde übernachten mussten und das Morgenrot sie aufweckte, sahen sie ein schönes Kind neben ihrem Lager sitzen. Es blickte sie freundlich an, sprach aber nichts und ging in den Wald hinein. Bei näherem Zusehen bemerkten sie jedoch, dass sie dicht bei einem Abgrund geschlafen hatten. Wären sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weitergegangen, so hätten sie den Tod gefunden. Sie erzählten der Mutter, was sie erlebt hatten. "Das muss der Engel gewesen sein, der gute Kinder bewacht", antwortete die Mutter.
Schneeweißchen und Rosenrot hielten die Hütte der Mutter immer reinlich, dass es eine Freude war, hineinzuschauen. Im Sommer besorgte Rosenrot das Haus und stellte der Mutter jeden Morgen, ehe sie wachte, einen Strauß vors Bett, und immer steckte darin von jedem Bäumchen eine Rose. Im Winter zündete Schneeweißchen das Feuer an und sorgte dafür, dass der Messingkessel blank gescheuert war. Abends, wenn die Flocken fielen, bat die Mutter Schneeweißchen, den Riegel vorzuschieben. Darauf setzten sie sich am Herde nieder, und die Mutter las aus einem großen Buche vor oder erzählte, und neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen.
Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen waren, klopfte es an die Türe. Rosenrot schob den Riegel zurück und glaubte, ein armer Mann, der nach einem Obdach suche, habe an die Türe geklopft. Aber draußen stand kein Mensch, sondern ein Bär, der seinen dicken, schwarzen Kopf zur Ture hereinsteckte. Rosenrot sprang angstvoll zurück, das Lämmchen blökte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter der Mutter Bett.
Der Bär aber fing zu sprechen an: "Fürchtet euch nicht", sagte er, "ich tue euch nichts zuleid; ich bin halb erfroren und will mich nur ein wenig bei euch wärmen."
"Armer Kerl", antwortete die Mutter, "leg dich ans Feuer, aber gib acht, dass du dir deinen Pelz nicht verbrennst." Dann rief sie nach Schneeweißchen und Rosenrot, und sie kamen beide, und auch das Lämmchen und das Täubchen zeigten keine Furcht mehr. Plötzlich sprach der Bär: "Ihr Kinder, klopft mir den Schnee aus meinem Pelz." Sie holten einen Besen und kehrten dem Bären das Fell. Danach streckte er sich ans Feuer und brummte behaglich. Nicht lange danach waren sie schon ganz vertraut mit ihm und trieben ihr Spiel mit dem unbeholfenen Gast. Sie zausten ihm das Fell, setzten sich ihm auf den Rücken oder nahmen eine Haselrute und schlugen auf ihn ein, und wenn er brummte, so lachten sie. Der Bär ließ sich alles gefallen, nur wenn sie's gar zu arg machten, rief er: "Lasst mich am Leben, ihr Kinder." Und dann brummte er geheimnisvoll dazu: "Schneeweißchen, Rosenrot, schlägst dir den Freier tot."
Zur Schlafenszeit sagte die Mutter zu dem Bären: "Bleib am Herde liegen, dann bist du vor der Kälte und vor bösem Wetter geschützt." Sobald der Tag graute, ließen die beiden Kinder den Bären hinaus, und er trabte über den Schnee in den Wald hinein. Von nun an kam der Bär jeden Abend zur bestimmten Stunde. Er legte sich am Herde nieder und erlaubte den Kindern, dass sie ihre Kurzweil mit ihm trieben. So sehr hatten sich die beiden an ihn gewöhnt, dass sie die Türe erst zuriegelten, wenn sie den schwarzen Gesellen im Hause wussten.
Als der Schnee geschmolzen war und draußen alles grün wurde, sagte der Bär eines Morgens zu Schneeweißchen: "Nun muss ich fort und darf den ganzen Sommer nicht wiederkommen."
"Wo gehst du denn hin, lieber Bär?", fragte das Mädchen.
"In den Wald", erwiderte der Bär, "um meine Schätze vor bösen Zwergen zu hüten. Jetzt, wo die Sonne die Erde auftaut, steigen die Zwerge aus der Tiefe der Erde. Was einmal in ihren Händen ist und was sie in ihre Höhlen getragen haben, das kommt so leicht nicht wieder an das Tageslicht." Ganz traurig wurde Schneeweißchen, als der Bär Abschied nahm und aus der Türe wollte. Er stieß sich aber am Türhaken und ein Stück seiner Haut riss auf. Da war es Schneeweißchen, als habe es Gold durchschimmern sehen. Aber es war seiner Sache nicht gewiss, denn der Bär lief eilig fort und war bald hinter den Bäumen verschwunden.
Nach einiger Zeit schickte die Mutter die Kinder in den Wald, damit sie Reisig sammelten. Draußen fanden sie einen großen Baum, der gefällt am Boden lag, und an dem Stamme sprang zwischen dem Gras etwas auf und ab. Sie konnten aber zunächst nicht sehen, was es war. Als sie nähertraten, bemerkten sie einen Zwerg mit einem alten, verwelkten Gesicht und einem armlangen, schneeweißen Bart. Der Zwerg hatte das Ende seines Bartes in eine Spalte des Baumes eingeklemmt, und nun sprang er hin und her und wusste sich nicht zu helfen.
"Was steht ihr da!" schrie er die Mädchen an, "könnt ihr mir nicht helfen?" Er glotzte die Mädchen aus feuerroten Augen an.
"Was hast du denn getan, kleines Männchen?", fragte Rosenrot.
"Dumme, neugierige Gans", schalt der Zwerg, "den Baum habe ich spalten wollen, um Kleinholz in der Küche zu haben. Ich hatte den Keil schon glücklich hineingetrieben in den Stamm, und es wäre alles nach Wunsch gegangen, aber das verwünschte Holz war zu glatt, und der Keil sprang unversehens heraus, und da blieb ich mit meinem schönen weißen Bart in der Spalte hängen."
Die Kinder gaben sich alle Mühe, den Bart herauszuziehen, aber es gelang ihnen nicht.
"Ich will laufen und Leute herbeiholen", sagte Rosenrot.
"Dumme Gans", schnarrte der Zwerg, "wer wird gleich Leute rufen? Ihr seid mir schon um zwei zu viel. Fällt euch denn nichts Besseres ein?"
"Sei nur nicht ungeduldig", erwiderte Schneeweißchen, "ich will schon Hilfe schaffen." Geschwind holte es eine kleine Schere aus der Tasche und schnitt das Ende des Zwergenbartes ab. Sobald sich der kleine Kerl frei fühlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den Baumwurzeln steckte und mit Gold gefüllt war, hob ihn auf und brummte vor sich hin: "Ungehobeltes Volk! Schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Barte ab, der Kuckuck lohne es euch!" Dann warf er den Sack auf den Rücken und ging fort, ohne die Kinder noch einmal anzusehen.
Einige Zeit danach wollten Schneeweißchen und Rosenrot Fische fangen. Als sie nahe dem Bache waren, sahen sie, dass etwas wie eine große Heuschrecke dem Wasser zuhüpfte, als wollte es hineinspringen. Sie liefen hinzu und erkannten den Zwerg, dem sie im Walde begegnet waren und dem Schneeweißchen den Bart gestutzt hatte.
"Wo willst du denn hin?", fragte Rosenrot, "du wirst doch nicht ins Wasser springen wollen?"
"Solch ein Narr bin ich nicht", schrie der Zwerg, "aber seht ihr nicht, dass mich der verwünschte Fisch dort hineinziehen wil1?" Der kleine Kerl hatte am Bach gesessen und geangelt. Durch einen bösen Zufall hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verflochten. Gleich darauf hatte ein großer Fisch angebissen, aber dem kleinen Geschöpf fehlten die Kräfte, den Fisch herauszuziehen. Der Fisch war stärker und riss ihn immer näher zu sich hin. Obwohl er sich an allen Halmen und Binsen festhielt, war er in großer Gefahr, ins Wasser gezogen zu werden. Die Mädchen kamen zu rechter Zeit. Sie hielten ihn fest und versuchten, den Zwergenbart von der Schnur zu befreien. Es war aber vergebens, denn Bart und Schnur hatten sich fest verknäuelt. So blieb nichts übrig, als zur Schere zu greifen und ein Stück des Bartes abzuschneiden. Als der Zwerg das sah, schrie er zornig: "Ist das auch eine Art, ihr Racker", einem das Gesicht zu schänden? Nicht genug, dass ihr mir den Bart schon einmal gestutzt habt, jetzt schneidet ihr mir auch noch den besten Teil davon ab. Ich kann mich nicht mehr vor meinesgleichen sehen lassen. Ich wünschte, ihr müsstet in die Welt hinauslaufen ohne Schuh und Strümpfe!"
Darauf holte er einen Sack Perlen, der im Schilfe lag, und ohne noch ein Wort zu sagen, warf er ihn sich auf den Rücken und verschwand hinter einem Felsen.
Wiederum nach einiger Zeit schickte die Mutter die beiden Mädchen in die Stadt. Sie sollten Zwirn und Nadeln und Bänder und Schnüre kaufen. Der Weg führte sie über eine Heide, auf der hie und da Felsblöcke zerstreut lagen. Auf einmal sahen sie einen großen Vogel in der Luft schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herabsenkte und nicht weit von ihnen zu einem Felsen niederstieß. Gleich darauf vernahmen sie einen durchdringenden Schrei. Sie eilten hinzu und gewahrten mit Schrecken, dass ein Adler ihren undankbaren Bekannten, den alten, grauen Zwerg, in den Fängen hielt und forttragen wollte. Mit aller Kraft hielten sie das Männchen fest und zausten sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahren ließ. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, schrie er kreischend: "Konntet ihr nicht behutsamer mit mir umgehen? Ihr habt so an mir gezerrt, dass mein Rock zerfetzt und durchlöchert ist. Welch ein täppisches Gesindel seid ihr doch!" Darauf nahm er einen Sack mit Edelsteinen, der zwischen den Felsblöcken lag und verschwand in seine Höhle.
Die Mädchen hatten sich an den Undank des kleinen, bösen Kerls gewöhnt. Sie gingen ihres Weges, kauften in der Stadt, was ihnen die Mutter aufgetragen hatte, und machten sich dann auf den Weg nach Hause. Es war schon Abend, als sie die Heide zum zweiten Mal erreichten. Zu ihrer Überraschung stießen sie wieder auf den Zwerg, der gerade dabei war, einen Sack mit Edelsteinen in der Abendsonne vor sich auszuschütten, und nicht daran gedacht hatte, dass so spät noch jemand über die Heide komme. Die glänzenden Steine leuchteten in allen Farben, so dass die Kinder staunend stehenblieben. "Was lümmelt ihr herum und habt Maulaffen feil!", schrie der Zwerg, und sein aschgraues Gesicht lief ganz rot an vor hellem Zorn. Er wollte sich scheltend auf die Mädchen stürzen, als sich ein lautes Brummen vernehmen ließ und ein schwarzer Bär aus dem Walde trabte. Erschrocken sprang der Zwerg in die Höhe, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen, denn der Bär war schon zu nahe. Da rief er voller Angst: „Lieber Bär, verschont mich, ich will euch alle meine Schätze geben; seht die schönen Edelsteine, die auf der Erde liegen. Schenkt mir das Leben, was habt ihr an mir kleinem, schmächtigem Kerl? Da, packt die beiden gottlosen Mädchen und fresst sie auf!"
Aber der Bär hörte nicht auf das Gewinsel des Zwerges, sondern versetzte dem boshaften Geschöpf einen Schlag mit der Tatze, dass es zu Boden fiel und sich nicht mehr regte.
Voller Angst waren die Mädchen fortgesprungen.
Der Bär aber rief ihnen nach: "Schneeweißchen und Rosenrot, fürchtet euch nicht; wartet auf mich, ich will mit euch gehen." Da erkannten sie ihn an seiner Stimme und blieben stehen. Kaum hatte sich der Bär ihnen zugesellt, da fiel die Bärenhaut ab, und ein schöner Jüngling stand vor ihnen und war ganz in Gold und Seide gekleidet.
"Ich bin eines Königs Sohn", sagte er, "der gottlose Zwerg hat mir meine Schätze gestohlen und hat mich in einen wilden Bären verwandelt. Erst durch seinen Tod wurde ich erlöst Er hat die Strafe empfangen, die er verdiente."
Nach einigen Monaten wurde Schneeweißchen mit dem Königssohn vermählt und Rosenrot mit seinen Bruder. Danach teilten sie die großen Schätze miteinander, die der Zwerg in seiner Höhle zusammen getragen hatte. Die alte Mutter nahmen sie mit in das Schloss, in dem sie wohnten, und sie lebte dort noch viele Jahre glücklich bei ihren Kindern. Die zwei Rosenbäumchen, die vor der kleinen Hütte gestanden hatten, hatte sie auch mitgenommen. Sie standen im Schlossgarten vor ihrem Fenster und trugen jedes Jahr die schönsten weißen und roten Rosen.

Der alte Sultan

Es hatte ein Bauer einen treuen Hund, der Sultan hieß, der war alt geworden und hatte alle Zähne verloren, so dass er nichts mehr fest packen konnte. Zu einer Zeit stand er Bauer mit seiner Frau vor der Haustür und sprach: „Den alten Sultan schieß ich morgen tot, der ist zu nichts mehr nütze.“
Die Frau, die Mitleid mit dem treuen Tier hatte, antwortete: „Da er uns so lange Jahre gedient hat und ehrlich bei uns gehalten, so könnten wir ihm wohl das Gnadenbrot geben.“
„Ei, was“, sagte der Mann, „du bist nicht recht gescheit, er hat keinen Zahn mehr im Maul, und kein Dieb fürchtet sich vor ihm, er kann jetzt abgehen. Hat uns gedient, so hat er sein gutes Fressen dafür gekriegt.“
Der arme Hund, der nicht weit davon in der Sonne ausgestreckt lag, hatte alles mit angehört und war traurig, dass morgen sein letzter Tag sein sollte. Er hatte einen guten Freund, das war der Wolf, zu dem schlich er abends hinaus in den Wald und klagte über sein Schicksal, das ihm bevorstände.
„Höre, Gevatter“, sagte der Wolf, „sei gutes Mutes, ich will dir aus deiner Not helfen. Ich habe etwas ausgedacht. Morgen in aller Frühe geht dein Herr mit seiner Frau ins Heu, und sie nehmen ihr kleines Kind mit, weil niemand im Hause zurückbleibt. Sie pflegen das Kind während der Arbeit hinter die Hecke in den Schatten zu legen: lege dich daneben, gleich als wolltest du es bewachen. Ich will dann aus dem Walde heraus kommen und das Kind rauben: du musst mir eifrig nach springen, als wolltest u mir es wieder abjagen. Ich lasse es fallen und du bringst es zu den Eltern wieder zurück, die glauben dann, du hättest es gerettet und sind viel zu dankbar, als dass sie dir ein Leid antun sollten: Im Gegenteil, du kommst in völlige Gnade, und sie werden es dir an nichts mehr fehlen lassen.“
Der Anschlag gefiel dem Hund, und wie er ausgedacht war, so ward er auch ausgeführt. Der Vater schrie, als er den Wolf mit seinem Kinde durchs Feld laufen sah, als es aber er alte Sultan zurückbrachte, da war er froh, streichelte ihn und sagte: „Dir soll kein Härchen gekrümmt werden, du sollst das Gandenbrot essen, so lange du lebst.“ Zu seiner Frau aber sprach er: „Geh gleich heim und koche dem alten Sultan einen Weckbrei, den braucht er nicht zu beißen, und bring das Kopfkissen aus meinem Bette, das schenk ich ihm zu seinem Lager.“ Von nun an hatte es der alte Sultan so gut, als er sich es nur wüschen konnte. Bald hernach besuchte ihn der Wolf und freute sich, dass alles so wohl gelungen war. „Aber Gevatter“, sagte er, „du wirst doch ein Auge zudrücken, wenn ich bei Gelegenheit deinem Herrn ein fettes Schaf weghole. Es wird einem heutzutage schwer, sich durchzuschlagen.“
„Darauf rechne nicht“, antwortete der Hund, „meinem Herrn bleibe ich treu, das darf ich nicht zugeben.“ Der Wolf meinte, das wäre nicht im Ernst gesprochen, kam in der Nacht herangeschlichen und wollte sich das Schaf holen. Aber der Bauer, dem der treue Sultan das Vorhaben des Wolfes verraten hatte, passte ihm auf und kämmte ihm mit den Dreschflegel garstig die Haare. Der Wolf musste ausreißen, schrie aber dem Hund zu: „Wart, du schlechter Geselle, dafür sollst du büßen.“
Am andern Morgen schickte der Wolf das Schwein und ließ den Hund hinaus in den Wald fordern, da wollten sie ihre Sache ausmachen. Der alte Sultan konnte keinen Beistand finden als eine Katze, die nur drei Beine hatte, und als sie zusammen hinaus gingen, humpelte die arme Katze daher und streckt zugleich vor Schmerz den Schwanz in die Höhe. Der Wolf und sein Beistand waren schon an Ort und Stelle, als sie aber ihren Gegner daherkommen sahen, meinten sie, er führte einen Säbel mit sich, weil sie den aufgerichteten Schwanz der Katze dafür ansahen. Und wenn das arme Tier so auf drei Beinen hüpfte, dachten sie nicht anders, als es höbe jedes Mal einen Stein auf, wollte dam8it auf sie werfen. Da ward ihnen beiden angst: das wilde Schwein verkroch sich ins Laub und der Wolf sprang auf einen Baum. Der Hund und die Katze wunderten sich, dass sich niemand sehen ließ. Das wilde Schwein aber hatte sich im Laub nicht ganz verstecken können, sondern die Ohren ragten noch heraus. Während die Katze sich bedächtig umschaute, zwinste das Schwein mit den Ohren. Die Katze, welche meinte, es regte sich da eine Maus, sprang darauf zu und biss herzhaft hinein. Da erhob sich das Schwein mit großem Geschrei, lief fort und rief: „Dort auf ödem Baum, da sitzt der Schuldige.“ Der Hund und die Katze schauten hinauf und erblickten den Wolf, der schämte sich, dass er sich so furchtsam gezeigt hatte und nahm von dem Hund den Frieden an.

Die sechs Schwäne

Ein König jagte in einem großen Wald einem Wild so eifrig nach, dass ihm niemand von seinen Leuten folgen konnte. Als der Abend kam, hielt er still und blickte um sich; da sah er, dass er sich verirrt hatte. Er suchte nach einem Weg, der ihn aus dem Wald herausführen würde, fand aber keinen. Plötzlich sah er eine alte Frau mit wackelndem Kopf, die auf ihn zukam; das war aber eine Hexe.
"Liebe Frau", sprach er zu ihr, "könnt ihr mir nicht den Weg durch den Wald zeigen?"
,,0 ja, Herr König", antwortete sie, "das kann ich wohl, aber es ist eine Bedingung dabei, wenn ihr die nicht erfüllt, so kommt ihr nimmermehr aus dem Wald und müsst darin Hungers sterben."
"Was ist das für eine Bedingung?" fragte der König.
"Ich habe eine Tochter", sagte die Alte, "die so schön ist, wie ihr nur eine auf der Welt finden könnt, und wohl verdient, eure Gemahlin zu werden. Wollt ihr die zur Frau Königin machen, so zeige ich euch den Weg aus dem Wald." In der Angst seines Herzens willigte der König ein, und die Alte führte ihn zu ihrem Häuschen, wo ihre Tochter beim Feuer saß. Sie empfing den König, als wenn sie ihn erwartet hätte. Er sah wohl, dass sie sehr schön war, aber sie gefiel ihm doch nicht, und er konnte sie ohne heimliches Grausen nicht ansehen. Nachdem er das Mädchen zu sich aufs Pferd gehoben hatte, zeigte ihm die Alte den Weg, und der König gelangte wieder in sein königliches Schloss, wo die Hochzeit gefeiert wurde.
Der König war schon einmal verheiratet gewesen und hatte von seiner ersten Gemahlin sieben Kinder, sechs Knaben und ein Mädchen, die er über alles auf der Welt liebte. Weil er nun fürchtete, die Stiefmutter möchte sie nicht gut behandeln und ihnen gar ein Leid antun, so brachte er sie in ein einsames Schloss, das mitten in einem Walde stand. Es lag so verborgen, und der Weg war so schwer zu finden, dass er ihn selbst nicht gefunden hätte, wenn ihm nicht eine weise Frau ein Knäuel Garn von wunderbarer Eigenschaft geschenkt hätte. Wenn er das vor sich hinwarf, so wickelte es sich von selbst los und zeigte ihm den Weg. Der König ging aber so oft hinaus zu seinen lieben Kindern, dass der Königin seine Abwesenheit auffiel; sie war neugierig und wollte wissen, was er draußen ganz allein in dem Wald zu schaffen habe. Sie gab seinen Dienern viel Geld, und die verrieten ihr das Geheimnis und sagten ihr auch von dem Knäuel, das allein den Weg zeigen könnte. Nun hatte sie keine Ruhe, bis sie herausgebracht hatte, wo der König das Knäuel aufbewahrte, und dann machte sie kleine weißseidene Hemdchen, und da sie von ihrer Mutter die Hexenkünste gelernt hatte, so nähte sie einen Zauber hinein. Als der König einmal auf die Jagd geritten war, nahm sie die Hemdchen und ging in den Wald, und das Knäuel zeigte ihr den Weg. Die Knaben, die aus der Ferne jemand kommen sahen, meinten, ihr lieber Vater käme zu ihnen und sprangen ihr voll Freude entgegen. Da warf sie über jedes der Kinder eines von den Hemdchen, und wie das ihren Leib berührt hatte, verwandelten sie sich in Schwäne und flogen über den Wald hinweg. Die Königin ging ganz vergnügt nach Haus und glaubte ihre Stiefkinder los zu sein. Aber das Mädchen war ihr mit den Brüdern nicht entgegengelaufen, und sie wusste nichts von ihm. Am nächsten Tag kam der König in den Wald, um seine Kinder zu besuchen, er fand aber niemand als das Mädchen.
"Wo sind deine Brüder?", fragte der König.
"Ach, lieber Vater", antwortete es, "die sind fort und haben mich allein zurückgelassen", und erzählte ihm, dass es aus seinem Fensterlein mit angesehen habe, wie seine Brüder als Schwäne über den Wald weggeflogen wären, und zeigte ihm die Federn, die sie in den Hof hatten fallen lassen und die es aufgelesen hatte. Der König trauerte, aber er dachte nicht, dass die Königin die böse Tat vollbracht hätte. Und weil er fürchtete, das Mädchen würde ihm auch geraubt, so wollte er es mit fortnehmen. Aber es hatte Angst vor der Stiefmutter und bat den König, dass es nur noch diese Nacht im Waldschloss bleiben dürfe. Das arme Mädchen dachte: "Meines Bleibens ist nicht länger hier, ich will gehen und meine Brüder suchen." Als die Nacht kam, entfloh es und ging gerade in den Wald hinein. Es ging die ganze Nacht hindurch und auch den anderen Tag, bis es vor Müdigkeit nicht weiterkonnte. Da sah es eine Wildhütte, stieg hinauf und fand eine Stube mit sechs kleinen Betten, aber es getraute sich nicht, sich in eines zu legen, sondern kroch darunter, legte sich auf den harten Boden und wollte die Nacht so zubringen. Als aber die Sonne bald untergehen wollte, hörte es ein Rauschen und sah, dass sechs Schwäne zum Fenster hereingeflogen kamen. Sie setzten sich auf den Boden und bliesen einander an und bliesen sich alle Federn ab und ihre Schwanenhaut streifte sich ab wie ein Hemd. Da sah sie das Mädchen an und erkannte ihre Brüder, freute sich und kroch unter dem Bett hervor. Die Brüder waren nicht weniger erfreut, als sie ihr Schwesterchen erblickten, aber ihre Freude war von kurzer Dauer.
"Hier kann deines Bleibens nicht sein", sprachen sie zu ihr, "das ist eine Herberge für Räuber; wenn die heimkomme und finden dich, so ermorden sie dich."
"Könnt ihr mich denn nicht beschützen?", fragte das Schwesterchen.
"Nein", antworteten sie, "denn wir können nur eine Viertelstunde lang jeden Abend unsere Schwanenhaut ablegen und haben in dieser Zeit unsere menschliche Gestalt, aber dann werden wir wieder in Schwäne verwandelt."
Das Schwesterchen weinte und sagte: "Könnt ihr denn nicht erlöst werden?"
"Ach nein", antworteten sie, "die Bedingungen sind zu schwer. Du darfst sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen und musst in der Zeit sechs Hemdchen für uns aus Sternblumen zusammennähen. Kommt ein einziges Wort aus deinem Munde, so ist alle Arbeit verloren." Als die Brüder das gesprochen hatten, war die Viertelstunde herum und sie flogen als Schwäne wieder zum Fenster hinaus.
Das Mädchen aber fasste den festen Entschluss, seine Brüder zu erlösen, und wenn es auch sein Leben kostete. Es verließ die Wildhütte, ging mitten in den Wald, stieg auf einen Baum und brachte da die Nacht zu. Am anderen Morgen sammelte es Sternblumen und fing an zu nähen. Reden konnte es mit niemand, und zum Lachen hatte es keine Lust. Es saß da und sah nur auf seine Arbeit. Als es schon lange Zeit so zugebracht hatte, geschah es, dass der König des Landes in dem Wald jagte und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen saß.
Sie riefen es an und sagten: "Wer bist du?" Es gab aber keine Antwort.
"Komm herab zu uns", sagten sie, "wir wollen dir nichts zuleide tun."
Es schüttelte bloß mit dem Kopf. Als sie es weiter mit Fragen bedrängten, warf es ihnen seine goldene Halskette hinab und dachte sie damit zufriedenzustellen. Sie ließen aber nicht ab; da warf es ihnen seinen Gürtel hinab, und als auch dies nicht half, seine Strumpfbänder und nach und nach alles, was es anhatte und entbehren konnte, so dass es nichts mehr als sein Hemdlein behielt. Die Jäger ließen sich jedoch auch damit nicht abweisen, Stiegen auf den Baum, hoben das Mädchen herab und führten es vor den König.
Der König fragte: "Wer bist du? Was machst du auf dem Baum?" Aber es antwortete nicht.
Er fragte es in allen Sprachen, die er wusste, doch es blieb stumm wie ein Fisch. Weil es aber so schön war, so ward des Königs Herz gerührt, und er fasste eine große Liebe zu ihm. Er tat ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd und brachte es in sein Schloss. Da ließ er ihm reiche Kleider anziehen, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag; nur war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er setzte es bei Tisch an seine Seite, und des Mädchens bescheidene Mienen und seine Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, dass er sprach: "Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt." Und nach einigen Tagen vermählte er sich mit ihr.
Der König aber hatte eine böse Mutter, die war unzufrieden mit dieser Heirat und sprach schlecht von der jungen Königin.
"Wer weiß, wo die Dirne her ist", sagte sie, "die nicht reden kann. Sie ist eines Königs nicht würdig." Über ein Jahr, als die junge Königin das erste Kind zur Welt brachte, nahm es ihr die Alte weg und bestrich ihr im Schlaf den Mund mit Blut. Dann ging sie zum König und klagte sie an, sie wäre eine Menschenfresserin. Der König wollte es nicht glauben und litt nicht, dass man ihr ein Leid antat. Sie saß aber beständig und nähte an den Hemden und achtete auf nichts anderes. Das nächste Mal, als sie wieder einen schönen Knaben geboren hatte, übte die falsche Schwiegermutter denselben Betrug, aber der König konnte sich nicht entschließen, ihren Reden Glauben zu schenken. Er sprach: "Sie ist zu fromm und gut, als dass sie so etwas tun könnte. Wäre sie nicht stumm und könnte sie sich verteidigen, so würde ihre Unschuld an den Tag kommen." Als aber das dritte Mal die Alte das neugeborene Kind raubte und die Königin anklagte, die kein Wort zu ihrer Verteidigung vorbrachte, konnte der König nicht anders; er musste sie dem Gericht übergeben, und das verurteilte sie, den Tod durchs Feuer zu erleiden.
Als der Tag herankam, wo das Urteil vollzogen werden sollte, da war zugleich der letzte Tag von den sechs Jahren herum, in welchen sie nichts sprechen und nicht lachen durfte, und sie hatte ihre lieben Brüder aus der Macht des Zaubers befreit. Die sechs Hemden waren fertig geworden, nur dass an dem letzten der linke Ärmel noch fehlte. Als sie nun zum Scheiterhaufen geführt wurde, legte sie die Hemden auf ihren Arm, und als sie oben stand und das Feuer eben angezündet werden sollte, schaute sie sich um; da kamen sechs Schwäne durch die Luft dahergezogen. Nun sah sie, dass ihre Erlösung nahte, und ihr Herz regte sich in Freude. Die Schwäne rauschten zu ihr her und senkten sich herab, so dass sie ihnen die Hemden überwerfen konnte; und wie sie davon berührt wurden, fielen die Schwanenhäute ab, und ihre Brüder standen leibhaftig vor ihr und waren frisch und schön. Nur dem jüngsten fehlte der linke Arm, und er hatte dafür einen Schwanenflügel am Rücken. Sie herzten und küssten sich und die Königin ging zu dem König, der ganz bestürzt war, und fing an zu reden und sagte: "Liebster Gemahl, nun darf ich sprechen und dir offenbaren, dass ich unschuldig bin und fälschlich angeklagt.“ Und sie erzählte ihm von dem Betrug der Alten, die ihre drei Kinder weggenommen und verborgen hätte. Da wurden sie zu großer Freude des Königs herbeigeholt, und die böse Schwiegermutter wurde zur Strafe auf den Scheiterhaufen gebunden und zu Asche verbrannt. Der König aber und die Königin mit ihren sechs Brüdern lebten lange Jahre in Glück und Frieden.

Das tapfere Schneiderlein

An einem Sommermorgen saß ein Schneider auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab und rief: "Gutes Zwetschgenmus, gutes Zwetschgenmus!" Das klang dem Schneider gar lieblich in die Ohren. Er steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief: "Hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Ware los." Mit ihrem schweren Korbe stieg die Frau die drei Treppen zu dem Schneider hinauf und musste alle Töpfe vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hob sie in die Höhe, hielt die Nase daran und sagte endlich: "Das Mus scheint mir gut, wiegt mir doch ein gut Teil ab, liebe Frau; es kommt mir nicht darauf an, auch wenn's ein Viertelpfund ist." Die Frau, die auf einen guten Absatz gehofft hatte, gab ihm, was er verlangte, ging aber dann ärgerlich und brummend fort. "Das Mus soll mir Gott segnen", rief der Schneider, "und soll mir Kraft und Stärke geben." Er holte das Brot aus dem Schrank, schnitt sich eine Scheibe ab und strich das Mus darüber. "Das wird nicht bitter schmecken", sprach er, "aber ehe ich anbeiße, will ich erst mein Wams fertig nähen." Er legte das Brot neben sich, nähte weiter und machte vor Freude immer größere Stiche. Indessen stieg der Geruch des süßen Muses empor zur Decke, wo die Fliegen in großer Menge saßen, so dass sie herangelockt wurden und sich scharenweise auf dem Musbrot niederließen. "Ei, wer hat euch eingeladen!" sprach der Schneider und jagte die ungebetenen Gäste fort. Die Fliegen aber, die kein Deutsch verstanden, ließen sich nicht abweisen, sondern kamen immer wieder. Da lief dem Schneider endlich, wie man sagt, eine Laus über die Leber. "Wartet, ich will es euch geben!", rief er, holte einen Tuchlappen und schlug erbarmungslos auf das Brot. Als er das Tuch hob und zählte, lagen nicht weniger als sieben Fliegen tot vor ihm und streckten die Beine. "Das soll die ganze Stadt erfahren, dass du so ein Kerl bist", sprach er und musste selbst seine Tapferkeit bewundern. Hastig schnitt er einen Gürtel, nähte ihn und stickte mit großen Buchstaben darauf: Sieben auf einen Streich. "Ei was, Stadt!", sprach er darauf weiter, "die ganze Welt soll es erfahren!" Und sein Herz hüpfte ihm vor lauter Freude.
Er band sich nun den Gürtel um den Leib und wollte in die Welt hinaus, weil er seine Werkstatt für zu klein hielt, wenn er an seine Heldentat dachte. Ehe er abzog, durchsuchte er noch das Haus, ob nichts zu finden sei, was er mitnehmen könne. Er fand aber nichts als ein Stück alten Käse. Sogleich steckte er ihn ein. Vor dem Tore erhaschte er einen Vogel, der sich im Gesträuch gefangen hatte. Er steckte ihn zu dem Käse in die Tasche. Nun nahm er den Weg tapfer zwischen die Beine, und weil er leicht und behände war, fühlte er keine Müdigkeit. Der Weg führte ihn auf einen Berg. Als er den Gipfel erreicht hatte, saß da ein gewaltiger Riese und schaute sich gemächlich um. Beherzt ging unser Schneider auf ihn zu und redete ihn an. "Guten Tag, Kamerad", sagte er, "du sitzest hier und besiehst dir die weite Welt! Ich bin eben auf dem Weg zu ihr. Hast du Lust, mit mir zu gehen?"
Der Riese sah den Schneider verächtlich an und sprach: "Du miserabler Kerl!"
Da knüpfte der Schneider den Rock auf und zeigte dem Riesen seinen Gürtel. "Hier kannst du lesen, welch ein Mann ich bin."
Als der Riese las: "Sieben auf einen Streich", meinte er, das seien Menschen gewesen, die der Schneider erschlagen hätte, und kriegte ein wenig Respekt vor dem kleinen Kerl. Doch wollte er ihn erst prüfen, nahm einen Stein in die Hand und drückte ihn zusammen, dass das Wasser heraustropfte. "Wenn du stark genug bist, dann mach mir das nach", sprach der Riese.
"Ist's weiter nichts?", antwortete der Schneider, "das ist bei unsereinem Spielerei", griff in die Tasche, holte den Käse heraus und drückte ihn zusammen, dass der Saft herauslief. "Gelt", sprach er, "das war ein wenig besser."
Der Riese wusste nicht, was er davon halten solle, nahm einen Stein und warf ihn so hoch, dass man ihn mit den Augen kaum noch sehen konnte. "Nun, du Dreikäsehoch, tu mir das nach."
"Gut geworfen", erwiderte der Schneider, "aber der Stein musste doch wieder zur Erde fallen, ich will einen hochwerfen, der gar nicht wiederkommen soll." Er griff in die Tasche, nahm den Vogel heraus und warf ihn in die Luft. Der Vogel, froh über seine Freiheit, stieg auf, flog fort und kam nicht wieder. "Wie gefällt dir das Stückchen, Kamerad?", fragte der Schneider.
"Werfen kannst du wohl", entgegnete der Riese, "aber nun wollen wir sehen, ob du auch etwas Ordentliches tragen kannst." Er führte den Schneider zu einer mächtigen Eiche, die gefällt auf dem Boden lag und sprach darauf: "Wenn du stark genug bist, so hilf mir den Baum aus dem Walde tragen."
"Gerne", antwortete der kleine Mann, "nimm du nur den Stamm auf deine Schulter, ich will die Aste mit dem Gezweig aufheben und tragen, das ist doch das schwerste." Der Riese nahm den Stamm auf die Schulter, der Schneider aber setzte sich auf einen Ast, und der Riese, der sich nicht umsehen konnte, musste den ganzen Baum forttragen und obendrein auch noch den Schneider. Der thronte hinten ganz lustig und guter Dinge und pfiff das Lied:
"Es ritten drei Schneider zum Tore hinaus", als wäre das Baumtragen ein Kinderspiel. Nachdem der Riese ein Stück Weges die schwere Last fortgeschleppt hatte, konnte er nicht weiter und rief: "Hör, ich muss den Baum fallen lassen." Flink sprang der Schneider herab, fasste den Baum mit beiden Armen, als ob er ihn getragen hätte, und sprach zum Riesen: "Du bist so ein großer Kerl und kannst den Baum nicht einmal tragen!"
Sie gingen zusammen weiter; als sie an einem Kirschbaum vorüber kamen, fasste der Riese die Krone des Baumes, wo die reifsten Früchte hingen, bog sie herab, gab sie dem Schneider in die Hand und hieß ihn essen. Der Schneider aber war viel zu schwach, um den Baum zu halten. Als der Riese losließ, fuhr der Baum in die Höhe und schnellte den Schneider mit in die Luft. "Hast du nicht Kraft, die schwache Gerte zu halten?", sprach der Riese, als der Schneider ohne Schaden herabgefallen war.
"An der Kraft fehlt es nicht", antwortete das Schneiderlein, "meinst du, das wäre etwas für einen, der sieben auf einen Streich getroffen hat? Ich bin über den Baum gesprungen, weil die Jäger unten ins Gebüsch schießen. Spring nach, wenn du's vermagst." Sogleich versuchte es der Riese, konnte aber den Baum nicht überspringen, sondern blieb in den Asten hängen. Da hatte der Schneider auch hier die Oberhand behalten. Darauf sagte der Riese: "Wenn du ein so tapferer Kerl bist, so komm mit in meine Höhle und übernachte dort." Bereitwillig folgte ihm der Schneider. Als sie in der Höhle anlangten, saßen dort noch andere Riesen beim Feuer und jeder hielt ein gebratenes Schaf in der Hand und aß davon. Der Schneider sah sich um und dachte: "Hier ist es doch viel geräumiger als in meiner Werkstatt." Danach wies ihm der Riese ein Bett an und sagte, er solle sich schlafen legen. Dem Schneider aber war das Bett zu groß, er legte sich nicht hinein, sondern kroch in eine Ecke. Als es Mitternacht war, und der Riese den Schneider in tiefem Schafe glaubte, stand er auf, nahm eine große Eisenstange, schlug das Bett mit einem Schlag entzwei und meinte, er habe dem Grashüpfer den Garaus gemacht. Früh am Morgen stapften die Riesen in den Wald und hatten das Schneiderlein ganz vergessen, da kam es auf einmal ganz lustig und verwegen dahergetrollt. Die Riesen erschraken, fürchteten, es schlage sie alle tot, und liefen hastig davon. Der Schneider aber zog weiter, immer seiner spitzen Nase nach. Nachdem er lange gewandert war, erreichte er den Hof eines königlichen Palastes. Weil er müde war, legte er sich ins Gras und schlief ein. Während er nun so dalag, kamen viele Leute, betrachteten ihn von allen Seiten und lasen auf dem Gürtel: "Sieben auf einen Streich."
"Ach", sprachen sie, "was will der große Kriegsheld hier mitten im Frieden? Das muss ein mächtiger Herr sein." Sie gingen und meldeten es dem König und meinten, wenn Krieg ausbrechen solle, sei das ein wichtiger und nützlicher Mann, den man um keinen Preis fortlassen dürfe. Dem König gefiel der Rat. Er schickte einen von seinen Hofleuten zu unserem Schneider, um ihm, wenn er aufgewacht war, Kriegsdienste anzubieten. Der Abgesandte blieb bei dem Schläfer stehen, wartete, bis er die Glieder streckte und die Augen aufschlug und brachte dann seinen Antrag vor. "Ich bin bereit, in des Königs Dienste zu treten", antwortete der Schneider, "denn deshalb bin ich hierhergekommen." So wurde er ehrenvoll empfangen und eine besondere Wohnung wurde ihm zugewiesen. Die Kriegsleute aber waren dem Schneider gram und wünschten ihn tausend Meilen fort. "Was soll daraus werden", sprachen sie untereinander, "wenn wir Zank mit ihm kriegen? Schlägt er zu, so fallen sieben auf jeden Streich. Da kann unsereiner nicht bestehen." Sie entschlossen sich, zum König zu gehen und um ihren Abschied zu bitten. "Wir halten es neben einem Manne nicht aus", erklärten sie, "der sieben auf einen Streich erschlägt." Der König war traurig, dass er um des einen willen alle seine treuen Diener verlieren sollte, und wäre ihn gerne wieder losgeworden. Er getraute sich jedoch nicht, ihm den Abschied zu geben, weil er fürchtete, der Schneider könne ihn samt seinem Volke erschlagen und sich auf den königlichen Thron setzen. Lange sann er hin und her, bis er einen Rat fand. Er schickte zu dem Schneider und ließ ihm sagen, weil er ein solch großer Kriegsheld sei, wolle er ihm ein Anerbieten machen. "In einem Walde meines Landes", sagte er, "hausen zwei Riesen, die rauben, morden, sengen, brennen und großen Schaden stiften. Niemand darf sich ihnen nahen, dem sein Leben lieb ist. Wenn du diese beiden Riesen überwindest und tötest, so will ich dir meine einzige Tochter zur Gemahlin geben und das halbe Königreich. Hundert Reiter sollen mit dir ziehen und dir Beistand leisten."
"Das wäre so etwas für einen Mann wie du bist", dachte das Schneiderlein. "Eine schöne Königstochter und ein halbes Königreich wird einem nicht alle Tage angeboten." Er antwortete deshalb: "Die Riesen werde ich schon bändigen, auch ohne die hundert Reiter. Wer sieben auf einen Streich trifft, braucht sich vor zweien nicht zu fürchten."
Der Schneider zog also hinaus, und die hundert Reiter folgten ihm. Als er an den Rand des Waldes kam, sprach er zu seinen Begleitern: "Bleibt nur hier, ich will schon allein mit den Riesen fertig werden." Dann eilte er in den Wald hinein und schaute sich rechts und links um. Nach einer Weile erblickte er die bei den Riesen. Sie lagen schlafend unter einem Baume und schnarchten dabei, dass sich die Aste auf- und niederbogen. Der Schneider, nicht faul, füllte seine Taschen mit Steinen und stieg dann auf den Baum. Dann rutschte er auf einen Ast, bis er gerade über die Schläfer zu sitzen kam, und ließ dem einen Riesen einen Stein nach dem andern auf die Brust fallen. Lange spürte der Riese nichts. Endlich aber erwachte er, stieß seinen Gesellen an und knurrte: "Was schlägst du mich?"
"Du träumst wohl", erwiderte der andere, "ich habe dich nicht geschlagen." Erneut schliefen sie ein. Da warf der Schneider auf den zweiten einen Stein herab.
"Was soll das?" rief der andere, "warum wirfst du auf mich?"
"Ich habe nicht auf dich geworfen", brummte der erste. Eine Zeitlang zankten sie sich herum, doch weil sie müde waren, ließen sie es gut sein, und die Augen fielen ihnen wieder zu. Von neuem fing nun das Schneiderlein sein Spiel an, suchte den dicksten Stein aus und warf ihn dem ersten Riesen mit aller Gewalt auf die Brust. "Das ist zu arg!" schrie der Getroffene, sprang wie ein Unsinniger auf und stieß seinen Gesellen gegen den Baum, dass der Stamm erzitterte. Der andere zahlte mit gleicher Münze. Sie gerieten in eine solche Wut, dass sie Bäume ausrissen und so lange auf einander losschlugen, bis sie endlich beide zugleich tot auf die Erde fielen. Jetzt sprang das Schneiderlein herab. "Ein Glück nur", sprach es, "dass sie den Baum, auf dem ich saß, nicht ausgerissen haben, sonst hätte ich wie ein Eichhörnchen auf einen andern springen müssen!" Darauf zog der Schneider sein Schwert, versetzte jedem ein paar tüchtige Hiebe in die Brust, dann lief er aus dem Wald zu den Reitern und sprach: "Die Arbeit ist getan. Ich habe beiden den Garaus gemacht. Aber hart ist es hergegangen. Sie haben in der Not Bäume ausgerissen und sich damit gewehrt. Doch das hilft alles nichts, wenn einer kommt wie ich, der sieben auf einen Streich erschlägt."
"Seid ihr denn nicht verwundet?", fragten die Reiter.
"Sie haben mir kein Haar gekrümmt", antwortete der Schneider. Die Reiter wollten ihm nicht glauben und ritten in den Wald hinein. Da fanden sie die Riesen in ihrem Blute liegend und ringsherum die ausgerissenen Bäume.
Der Schneider verlangte von dem König die versprochene Belohnung. Den König aber reute sein Versprechen, und er sann aufs Neue, wie er sich einen solchen Helden vom Halse schaffen könne. "Eh du meine Tochter und das halbe Reich erhältst", antwortete er, "musst du noch eine Heldentat vollbringen. Im Walde haust ein Einhorn, das großen Schaden anrichtet. Das musst du erst fangen."
"Vor einem Einhorn", erwiderte der Schneider, "fürchte ich mich noch weniger als vor zwei Riesen. Sieben auf einen Streich ist meine Sache." Er ließ sich einen Strick bringen und eine Axt, ging hinaus in den Wald und hieß alle, die ihm zugesellt waren, am Waldrand warten. Er brauchte nicht lange zu suchen. Das Einhorn jagte daher und sprang auf den Schneider los, als ob es ihn aufspießen wollte. "Sachte, sachte", sprach er zu sich, "so geschwind geht das nicht!" Er wartete, bis das Tier ganz nahe war, dann sprang er behänd hinter einen Baum. Das Einhorn rannte mit aller Kraft gegen den Stamm und spießte sein Horn so fest darein, dass es nicht Kraft genug hatte, es wieder herauszuziehen. "Jetzt habe ich dich", sagte der Schneider, sprang hinter dem Baum hervor, legte dem Einhorn den Strick um den Hals, dann hieb er mit der Axt das Horn aus dem Baum und führte das Tier gefangen zum König. Aber auch diesmal wollte ihm der König den verheißenen Lohn nicht gewähren und stellte eine dritte Forderung. Der Schneider solle ihm vor der Hochzeit erst ein Wildschwein fangen, das im Walde großen Schaden tat, und die Jäger sollten ihm Beistand leisten.
"Das ist ein Kinderspiel", entgegnete der Schneider. Die Jäger nahm er nicht mit in den Wald, und sie waren darüber froh, denn das Wildschwein hatte sie schon mehrmals so empfangen, dass sie keine Lust hatten, ihm nachzustellen. Als das Schwein den Schneider erblickte, lief es mit schäumendem Rachen und wetzenden Zähnen auf ihn zu und wollte ihn zur Erde werfen. Behänd aber flüchtete der Schneider in eine Kapelle, die in der Nähe war, und gleich zum Fenster in einem Satze wieder hinaus. Das Schwein war hinter ihm hergelaufen. Geschwind sprang er außen herum und schlug die Türe hinter ihm zu; da war das wütende Tier gefangen, das viel zu schwer und unbeholfen war, um zum Fenster hinauszuspringen. Darauf rief der Schneider die Jäger herbei. Sie mussten den Gefangenen mit eigenen Augen sehen. Der tapfere Held aber begab sich zum König, der nun, er mochte wollen oder nicht, sein Versprechen halten musste und ihm seine Tochter und das halbe Königreich übergab. Mit großer Pracht wurde Hochzeit gehalten und aus einem Schneider ein König gemacht.
Nach einiger Zeit hörte die junge Königin in der Nacht, wie ihr Gemahl im Traume sprach: "Junge, mach mir das Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle um die Ohren schlagen." Da merkte sie, in welcher Gasse ihr Gemahl geboren war, klagte am anderen Morgen ihrem Vater ihr Leid und bat, er möge sie von dem Manne befreien, der nichts anderes als ein Schneider sei. Der König tröstete sie und sagte: "Lass in der nächsten Nacht das Schlafgemach offen. Wenn er eingeschlafen ist, sollen meine Diener hineingehen, ihn binden und auf ein Schiff tragen, das ihn hinausführt in die weite Welt." Die junge Königin war damit zufrieden. Des Königs Waffenträger aber, der alles mit angehört hatte, war dem jungen Herrn gewogen und hinterbrachte ihm den ganzen Anschlag. "Da will ich einen Riegel vorschieben", dachte der wackere Schneider. Abends legte er sich zu gewohnter Zeit mit seiner Frau zu Bett. Als sie glaubte, er sei eingeschlafen, stand sie auf, öffnete die Türe und legte sich dann wieder neben ihn. Der Schneider, der nur tat, als ob er schlief, fing plötzlich mit heller Stimme zu rufen an: "Junge, mach mir das Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle um die Ohren schlagen! Ich habe sieben mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn erjagt und ein Wildschwein gefangen und sollte mich vor denen fürchten, die draußen vor der Kammer stehen?"
Als die Diener den Schneider so sprechen hörten, überkam sie eine große Furcht. Sie liefen, als ob das wilde Heer hinter ihnen wäre, und keiner wollte sich mehr an ihn wagen. So war und blieb das Schneiderlein sein Leben lang ein König.

Sechse kommen durch die ganze Welt

Es lebte einmal ein findiger Mann. Er diente im Krieg und hielt sich brav und tapfer. Aber als der Krieg zu Ende war, bekam er den Abschied und drei Heller Zehrgeld auf den Weg. "Wartet, sprach er, "das lass ich mir nicht gefallen! Finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze seines ganzen Landes herausgeben." Voller Zorn ging er in den Wald und sah dort einen stehen, der gerade sechs Bäume ausgerissen hatte, als ob das Kornhalme wären. "Willst du mit mir ziehen und mein Geselle sein?" fragte er ihn.
"Warum nicht", antwortete der andere, "aber erst will ich meiner Mutter das Bündel Holz heimbringen." Er nahm einen von den Bäumen und wickelte ihn um die fünf anderen und hob dann das Bündel auf die Schulter und trug es fort. Danach kam er wieder und ging mit dem abgedankten Soldaten weiter durch den Wald.
"Wir zwei", so sagte der erste, "werden sicher durch die ganze Welt kommen." Als sie eine Weile gegangen waren, fanden sie einen Jäger, der gerade auf dem Boden kniete, die Büchse angelegt hatte und zielte.
Da sprach der alte Soldat zu ihm: "Worauf willst du denn schießen, Jäger?"
"Zwei Meilen vor hier", erwiderte der Jäger, "sitzt eine Fliege auf dem Ast eines Eichbaums, der will ich das linke Auge ausschießen."
"Oha, geh mit uns", sprach der alte Soldat, "wenn wir drei zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen." Der Jäger war bereit dazu und ging mit ihnen. Wieder nach einer Weile gelangten sie zu sieben Windmühlen, deren Flügel sich eilig drehten, und doch bewegte sich ringsum kein Blättchen, und war weit und breit kein Wind zu spüren.
Da sprach der Soldat: "Ich weiß nicht, wer oder was die 'Windmühlen treibt; es regt sich ja kein Lüftchen." Verwundert ging er mit den Gefährten weiter. Kaum aber waren sie zwei Meilen fortgegangen, da sahen sie einen auf einem Baume sitzen, der sich das eine Nasenloch zuhielt und aus dem anderen machtvoll blies.
"Du lieber Himmel", fragte der Soldat, "was treibst du denn da oben?"
"Zwei Meilen von hier", erwiderte der Mensch, "stehen sieben Windmühlen, die blase ich an, dass sie sich drehen." "Du bist unser Mann", entgegnete der Soldat, "wenn wir vier zusammen sind, sollten wir wohl sicher durch die ganze Welt kommen." Darauf stieg der Nasenbläser herab und ging mit ihnen. Und wieder über eine Weile entdeckten sie einen, der mitten im Feld auf einem Beine stand und das andere abgeschnallt und neben sich gelegt hatte. "Herrjeh", lachte der Soldat, "du hast dir’s ja bequem gemacht."
"Ich bin ein Läufer", antwortete der Kerl, "und damit ich nicht gar zu schnell springe, habe ich mir das eine Bein abgeschnallt. Laufe ich nämlich mit zwei Beinen, so geht's bei mir geschwinder, als ein Vogel fliegt."
"Oha", sagte der Soldat, "komm mit uns; wenn wir fünf zusammen sind, sollten wir wohl unversehrt durch die ganze Welt kommen." Auch er ging mit ihnen, und gar nicht lang dauerte es, so begegneten sie einem, der ein Hütchen trug, es aber ganz verwegen auf einem Ohre sitzen hatte.
"Manierlich! Manierlich!" sprach der Soldat. "Aber warum hängst du denn deinen Hut gerade so über ein Ohr, du siehst ja aus wie ein Hansdampf in allen Gassen."
"Ich darf nichts anderes tun", erwiderte der andere, "denn setze ich meinen Hut gerade auf, so kommt ein gewaltiger Frost, und die Vögel unter dem Himmel erfrieren und fallen tot zur Erde."
"So komm mit uns", sprach der Soldat, "wenn wir sechs zusammen sind, sollten wir wohl glücklich durch die ganze Welt kommen."
Die sechse marschierten also weiter in die Welt hinein und gelangten in eine Stadt, in welcher der König gerade einen Befehl bekanntmachen ließ. Wer mit seiner Tochter um die Wette laufen wolle, so wurde ausgerufen, und den Sieg davontrage, der solle ihr Gemahl werden. Wer aber verliere, der werde auch seinen Kopf verlieren. Da meldete sich der Soldat beim König, sprach aber: "Ich will einen meiner Gesellen für mich laufen lassen."
"Gut", antwortete der König, "doch dann musst du auch dessen Leben verpfänden, so dass also dein und sein Kopf für den Sieg haften." Als das verabredet und abgemacht war, schnallte der alte Soldat dem Läufer das zweite Bein an und sprach zu ihm: "Nun sei hurtig und hilf uns siegen." Es war bestimmt, dass wer als erster Wasser aus einem weit abgelegenen Brunnen bringe, zum Sieger erklärt werden solle. Der Läufer bekam also einen Krug und die Königstochter auch einen. Darauf fingen sie zu gleicher Zeit zu laufen an. Aber schon nach einem Augenblick, als die Königstochter erst eine kleine Strecke Weges fortgeeilt war, konnte kein Zuschauer den Läufer mehr sehen, und es war nicht anders, als wäre der Wind an ihren Augen vorbeigebraust.
Kurz danach beugte er sich schon über den Brunnen, schöpfte den Krug voll Wasser und kehrte wieder um. Mitten aber auf dem Heimweg überkam ihn eine große Müdigkeit. Er setzte also den Krug auf den Boden, legte sich daneben nieder, um etwas auszuruhen, und schlief dabei ein. Zum Glück hatte er einen Pferdeschädel, der auf der Erde lag, zum Kopfkissen ausgewählt, damit er hart liege und nicht richtig schlafen könne. Indessen war die Königstochter beim Brunnen angelangt und eilte danach mit dem gefüllten Kruge wieder zurück. Als sie den Läufer am Boden liegen und schlafen sah, war sie froh und dachte: "Jetzt ist der Feind in meine Hände gegeben." Sie leerte den Krug des Läufers aus und eilte dann weiter. Glücklicherweise stand der Jäger mit seinen scharfen Augen oben auf dem Schloss und hatte alles mit angesehen. Da sprach er: "Die Königstochter soll nimmermehr gegen uns aufkommen", lud seine Büchse und schoss so geschickt, dass er dem Läufer den Pferdeschädel unter dem Kopf wegschoss, ohne dem Eingeschlafenen weh zu tun. Darob erwachte nun der Läufer und sprang in die Höhe. Sogleich bemerkte er, dass sein Krug leer war und dass ihn die Königstochter überholt hatte. Aber er verlor den Mut nicht, lief mit dem Krug zu dem Brunnen zurück, schöpfte aufs neue Wasser und rannte dann, was das Zeug hielt, und war noch zehn Minuten eher am Ziel als die Königstochter.
"Seht ihr", lachte er, "jetzt habe ich erst die Beine aufgehoben, vorher war’s noch kein richtiges Laufen zu nennen."
Den König kränkte es und seine Tochter noch mehr, dass ein gemeiner, abgedankter Soldat den Sieg davongetragen hatte. Sie berieten also, wie sie ihn mitsamt seinen Gesellen loswerden könnten.
"Ich habe ein Mittel gefunden", sprach der König zu ihr, "fürchte dich also nicht, wir werden sie zunichte machen." Mit verstellter Miene aber sprach er zu dem Soldaten und seinen Gesellen: "Macht es euch lustig, esst und trinkt", und führte sie in ein Gemach, das einen Boden aus Eisen hatte und eiserne Türen und dessen Fenster mit eisernen Stäben vergittert waren. Im Gemach hatte der König eine Tafel herrichten lassen mit köstlichen Speisen. "Geht hinein", forderte er sie auf, "und lasst's euch wohl sein." Kaum aber hatten sie sich an der Tafel niedergesetzt, da ließ er die Türen verschließen und verriegeln. Dann befahl er dem Koch, ein Feuer unter dem Gemach zu entfachen, bis das Eisen glühe. Das tat auch der Koch. Während die sechse an der Tafel saßen, wurde ihnen allmählich warm und sie meinten, das komme vom Essen. Als aber die Hitze immer größer wurde und sie hinaus wollten und Türen und Fenster verschlossen fanden, erkannten sie, dass der König Böses im Sinne gehabt hatte und sie verbrennen und räuchern wollte.
"Das soll ihm nicht gelingen", sprach der mit dem Hütchen, "ich will einen Frost herzaubern, vor dem sich das Feuer schämen und verkriechen soll." Er rückte sein Hütchen, dass es gerade auf dem Kopfe saß, und sogleich verschwand die Hitze im Gemach und begannen die Speisen in den Schüsseln zu gefrieren.
Nach ein paar Stunden glaubte der König, die sechse seien in der Hitze verschmachtet. Er ließ also die Türen öffnen, um nachzusehen. Aber als die Türen offenstanden, traten die sechse frisch und gesund heraus und sagten, es sei ihnen lieb, dass sie ans Freie könnten, denn bei der großen Kälte drinnen im Gemach seien sogar die Speisen gefroren. Zornig eilte der König hinunter in die Küche. "Warum hast du nicht getan, wie ich befohlen habe?", schalt er den Koch.
Der Koch aber antwortete: "Noch immer brennt ein gewaltiges Feuer unter der Eisenstube, seht nur selbst die Glut." Da merkte der König, dass er den sechsen auf diese Weise nichts anhaben konnte. Aufs Neue sann er deshalb, wie er die ungebetenen Gäste loswerden könne. Er ließ den Soldaten kommen und sprach: "Wenn du meine Tochter aufgibst, so kannst du Gold nehmen, so viel du willst."
"Topp, Herr König", antwortete der Soldat, "gebt mir so viel, als mein Diener tragen kann, dann verzichte ich auf eure Tochter." Da war der König zufrieden.
"In vierzehn Tagen komme ich wieder und hole es mir." Danach rief er alle Schneider aus dem ganzen Reich zusammen und ließ sie in den vierzehn Tagen einen riesengroßen Sack nähen. Als er fertig war, musste der Starke, der Bäume ausreißen konnte den Sack auf die Schulter nehmen und mit ihm zum König gehen. Da sprach der König: "Was ist das für ein gewaltiger Kerl, der den hausgroßen Ballen Leinwand auf der Schulter trägt?"
"Das ist mein Geselle", sagte der Soldat, "und er soll das Gold tragen, das ihr mir für eure Tochter bezahlen wollt." Darüber erschrak der König, hieß jedoch eine Tonne Goldes herbeibringen, aber der Starke packte sie mit einer Hand, steckte sie in den Sack und rief: "Bringt mehr, ihr Leute, das deckt ja kaum den Boden." Nach und nach ließ der König seinen ganzen Schatz herbei tragen, der Starke schob alles in den Sack, der Sack aber wurde davon noch nicht zur Hälfte voll.
"Schafft mehr herbei", rief er, "die paar Brocken füllen nicht."
Jetzt mussten noch siebentausend Wagen mit Gold aus dem ganzen Reich zusammengefahren werden. Weil das aber immer noch nicht reichen wollte, schob der Starke die Wagen samt den vorgespannten Ochsen in den Sack. "Ich will's nicht lange besehen", sprach er, "und nehmen, was kommt, damit der Sack nur voll wird."
Es ging aber immer noch mehr hinein, da meinte er: "Ich will dem Ding ein Ende machen, schließlich bindet man ja auch einen Sack zu, selbst wenn er noch nicht voll ist."
Dann hob er ihn auf den Rücken und ging mit dem Soldaten fort.
Als der König sah, wie dieser Mensch den Reichtum seines ganzen Landes fort trug, wurde er zornig und ließ seine Reiterei aufsitzen.
"Jagt den sechsen nach", befahl er den Reitern, "und nehmt dem Starken den Sack wieder ab." Bald waren die sechse von zwei Regimentern umzingelt.
"Ihr seid unsere Gefangenen", riefen die Soldaten, "legt den Sack mit dem Gold nieder oder ihr werdet zusammengeritten."
"Was sagt ihr da?", sprach der Nasenbläser, "wir, und eure Gefangenen? Eher sollt ihr alle durch die Lüfte tanzen!" Er hielt sich das eine Nasenloch zu und pustete gewaltig durch das andere. Da fuhren die beiden Regimenter auseinander und in die blaue Luft über alle Berge, als ob sie ein Wirbelwind vom Boden weggerissen hätte. Ein Feldwebel rief um Gnade, er habe neun Wunden und sei sein Lebtag ein braver Kerl gewesen, der solchen Schimpf nicht verdiene. Darauf ließ der Bläser ein wenig nach, so dass der Feldwebel wieder ohne Schaden zum Boden gelangte. Dann sprach er zu ihm: "Geh heim zu deinem König und sage ihm, er solle uns doch seine ganze Reiterei auf den Hals schicken. Ich will sie ihm insgesamt in die Luft blasen."
Als der König diesen Bescheid vernahm, sprach er: "Lasst die Kerle laufen; sie haben etwas an sich, was nicht totzukriegen ist." Da brachten die sechs den Reichtum heim, teilten ihn unter sich und lebten vergnügt bis an ihr Ende.

Der Fischer und seine Frau

Vor langer Zeit lebte einmal ein Fischer, der hieß Dudeldee. Er war so arm, dass er mit seiner Frau in einer bretternen Hütte wohnte, die statt der Fenster nur Astlöcher hatte. Dudeldee war aber doch zufrieden; seine Frau war dagegen nicht zufrieden. Sie wünschte sich bald dies, bald jenes und quälte immer ihren Mann, weil er es ihr nicht geben konnte. Dann schwieg aber Dudeldee gewöhnlich und dachte bei sich: "Wäre ich nur reich, oder wäre alles nur gleich da, wie ich es wünschte!"
Einmal saß er abends mit seiner Frau vor der Haustür, und sie sahen umher in der Nachbarschaft. Dort standen etliche schöne Bauernhäuser.
Da sagte seine Frau zu ihm: "Ja, wenn wir nur so eine Hütte hätten wie das schlechteste unter diesen Nachbarhäusern! Wir könnten wohl noch dazu kommen; aber du bist zu faul, du arbeitest nicht wie andere Leute!"
Dudeldee sprach: "Wie, ich arbeite nicht wie andere Leute? Stehe ich nicht den ganzen Tag und fische?" "Nein", antwortete seine Frau, "du könntest schon früher aufstehen und vor Tage schon mehr Fische fangen, als du sonst den ganzen Tag bekommst. Du bist aber zu faul, du magst nicht schaffen."
Und so zankte sie mit ihrem Manne fort.
Darum stand er des andern Morgens früh auf und ging in seinem groben, ärmlichen Gewande hinaus an den See, um zu fischen. Er sah die Leute aufs Feld kommen und arbeiten, und er hatte noch nichts gefangen. Er setzte sich traurig hin, zog sein schimmeliges Brot aus der Tasche und aß es. Dann fischte er wieder. Die Sonne neigte sich, die Schnitter gingen heim, und stiller ward's auf dem Felde. Aber Dudeldee stand noch immer, und noch hatte er kein Fischlein. Da tauchte er noch einmal sein Netz ein, und als er es wieder herauszog, da zappelte ein großer Butt darinnen.
"Hör' einmal, Fischer", sagte der Butt, "lass mich doch bitte leben! Ich bin gar kein richtiger Fisch, sondern ein verwunschener Prinz! Sicherlich würde ich dir nicht einmal gut schmecken. Also setze mich wieder ins Wasser zurück!"
"Du brauchst nicht so viele Worte zu machen", antwortete Dudeldee; "einen Fisch, der sprechen kann, hätte ich ohnehin wieder schwimmen lassen!" Damit ließ er ihn in den See gleiten. Als aber der Butt im kühlen Wasser war, streckte er seinen Kopf wieder heraus und fragte: "Nun, lieber Hans Dudeldee, willst du dir nicht etwas Schönes wünschen?"
Hans Dudeldee besann sich ein wenig und dachte: "Ei, wenn es darauf ankommt, etwas zu wollen, so sollst du nicht lange fragen müssen!" Er sah umher, was er wohl gleich wünschen solle. Drüben jenseits des Sees stand ein kleines Lustschlösschen. Darum sagte er: "Statt meiner bretternen Hütte möchte ich gern ein Haus wie jenes da drüben!"
"Geh nur hin", sagte das Fischlein; "dein Wunsch ist erfüllt!"
Hans Dudeldee lief mehr, als er ging, nach Hause und sah schon von ferne an der Stelle, wo sonst seine Hütte stand, ein stattliches Haus mit erleuchteten Zimmern. Und als er erst hineinkam, da war alles so schön, dass er sich nicht zu lassen wusste. Der Hauseingang war mit Marmor belegt, die Stubenböden waren spiegelblank, die Wände bemalt, herrliche Kronleuchter hingen in den hohen Sälen: kurz, es war alles so prächtig, dass Hans Dudeldee nicht das Herz hatte, so recht darin umherzugehen. Er konnte gar nicht glauben, dass dies sein Eigentum sei. Er meinte, er habe sich verirrt, und wäre beinahe wieder weggegangen, wenn ihm nicht seine Frau auf der Treppe begegnet wäre.
Kaum hatte er sie erblickt, so fragte er sie: "Nun, bist du jetzt zufrieden mit dem Hause?" und erzählte ihr, wie er dazu gekommen sei.
"Nun", antwortete sie, "ich habe in der Stadt schon viel schönere Häuser gesehen, als ich dort diente! Aber immerhin, es geht ja an, und wir wollen vorläufig vorliebnehmen!"
Nun ging alles prächtig bei ihnen zu; denn sie hatten in ihrer Kammer auch eine ganze Kiste voll Geldstücke gefunden. Die Frau kaufte sich Kutsche und Pferde und ihrem Manne ein Reitpferd, und sie fuhren oft in die Stadt und hielten sich einen Koch und Bediente. Da schalten sie die Nachbarn immer die hochmütige Fischerin. Das verdross sie gar sehr, und sie lag ihrem Manne an, er sollte hinausgehen an den See und den Fisch bitten, dass sie über die Nachbarinnen befehlen dürfe.
Da ging et denn schließlich hinaus mit seinem Netze, tauchte es ein und rief:
"Fischlein, Fischlein in dem See!"
"Was willst du, lieber Hans Dudeldee?", fragte ihn das Fischlein.
"Ich wäre gern ein Edelmann oder Graf und möchte, dass ich über alle meine Nachbarn zu befehlen hätte!"
Da sprach das Fischlein : "Geh nur hin, es ist so!"
Als er nun heimkam, da hatten die Nachbarsleute seiner Frau schon gehuldigt, und sie hatte schon ein paar von ihren Nachbarinnen einsperren lassen, die sie sonst "hochmütige Fischerin" gescholten hatten.
Jetzt fuhren sie in die Hauptstadt, wo der König wohnte, und wollten sich in die Gesellschaft anderer Grafen mischen. Aber sie wurden von allen verlacht, und einige Gräfinnen nannten sie nur die Fischgräfin und ihn den Fischgrafen Dudeldee.
Da sprach sie wieder zu ihrem Manne: "Geh hinaus, und lass dich zum Könige machen; denn ich will nicht mehr Fischgräfin heißen, ich will Königin sein!"
Aber Hans Dudeldee riet ihr ab und sagte: "Bedenke doch, wie wir arm waren und uns ein Hüttlein wünschten wie das schlechteste von unseren Nachbarsleuten! Jetzt haben wir alles im Überflusse; nun lass uns doch genug haben!"
Die Frau aber wollte nicht genug haben und sprach: "Was, ich soll mich Fischgräfin schelten lassen? Ich soll den Hochmut der Stadtweiber ertragen? Nein, sie müssen wissen, wer ich bin; ich will's ihnen zeigen! Und du willst auch so einfältig sein und dir's gefallen lassen?"
Und so zankte sie fort, bis er ihr versprach, sie zur Königin zu machen.
Alsbald ging er hinaus an den See und sagte wieder sein Sprichwort:
"Fischlein, Fischlein in dem See!"
"Was willst du, lieber Graf Dudeldee?", fragte das Fischlein. Er trug sein Anliegen vor, dass er gern König wäre.
Das Fischlein sagte: "Du bist's!"
Da kam er heim und fand sein Schloss ganz verändert und viel größer. Marschälle und Minister mit goldenen Schlüsseln und Sternen empfingen ihn mit tiefen Verbeugungen. Sein Kopf wurde ihm ganz schwer; er wollte den Hut abziehen; aber siehe da, statt des Hutes hatte er eine schwere, goldene Krone auf dem Haupte. Und als er seine Frau sah, erkannte er sie fast nicht mehr, so glänzte ihr Gewand von Gold und Juwelen. Aber als er sie fragte, ob sie jetzt zufrieden sei, sagte sie: "Ja, bis ich wieder etwas Besseres weiß! Ich wäre ja eine Närrin, wenn ich's besser haben könnte und nähme es nicht an!"
Sie lebten jetzt eine Weile zufrieden, und Dudeldees Frau wünschte sich nichts mehr; denn sie hatte ja alles, was sie sich nur hätte wünschen können, hatte sich auch gerächt an den Gräfinnen, die sie die Fischgräfin gescholten hatten.
Wie hoch ging es her am Hofe des Königs Dudeldee! Alles drängte sich um ihn. Gesandte aus allen Reichen und Weltteilen warteten auf ihn; Kammerherren mit dem Hute unterm Arme gingen hin und her; Leute, die Rechtsstreite hatten, wollten zu ihm; Schildwachen gingen auf und ab; eine Kutsche mit zehn Pferden, zwanzig Vorreitern und sechs Läufern stand immer zum Wegfahren bereit; Pfauen und Perlhühner waren in einem Nebenhofe: kurz, es war alles da, was einen so großen König nur ergötzen konnte. Ja, sogar zwei Hofnarren waren immer um ihn.
Der neue König Dudeldee war freilich anfangs darüber böse, dass ihn die zwei närrischen Menschen immer verfolgten, wohin er gehen mochte, und er beschwerte sich darüber bei seiner Frau, weil er doch lieber in Gesellschaft von vernünftigen Leuten als bei Narren sein wollte. Sie sagte ihm aber, das verstehe er nicht, das müsse so sein; alle großen Herren hätten solche Spaßmacher um sich; er werde denn doch kein Narr sein und eine Ausnahme machen wollen.
Endlich ließ er sich's gefallen und war nur froh, dass seine Frau zufrieden war. Aber die Freude dauerte nicht lange. Er kam einmal zu ihr und traf sie ganz traurig an. "Was fehlt dir?" fragte er sie.
"Ich bin verdrießlich über das Regenwetter! Das währt schon vier Tage lang, und ich wollte nun so gern Sonnenschein haben. überhaupt - ich wollte, ich könnte alles machen, was der liebe Gott kann, so dass ich Frühling haben könnte und Sommer, Herbst und Winter, gerade, wenn ich wollte! Geh hin und mache, dass ich's kann!" So sagte sie, und ihm gefiel es selber.
"Wie", dachte er, "wenn du jetzt im Regen hinausgingest und kämest heim im Sonnenschein, den deine Frau gemacht' hätte? Da könntest du auch die Narren wieder loswerden!"
So dachte er bei sich und schlich im Regen mit seinem Fischnetze zu einer Hinterpforte hinaus, ging an den See, tauchte sein Netz ein und rief wieder wie sonst:
"Fischlein, Fischlein in dem See! "
"Was "Willst du, König Dudeldee?", fragte ihn mit ernster Stimme das Fischlein.
"Ach", sagte er, "meine Frau möchte gern können, was Gott kann: Regen und Sonnenschein machen und Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, wenn sie gerade will!"
"So, und weiter nichts?", fragte das Fischlein. "Nein, nein, König Dudeldee, ich sehe, dass bei deiner Frau und dir nichts gut angelegt ist; darum sei wieder der alte Fischer Dudeldee. Denn damals warst du nicht so übermütig und ungenügsam wie jetzt!"
Das Fischlein verschwand, und die schwarzblauen Wogen brausten fürchterlich. Dudeldee rief wohl noch oft: "Fischlein, Fischlein in dem See!" - aber kein Fischlein fragte mehr: "Was willst du, lieber Hans Dudeldee?" Und er stand wieder da wie das erste Mal in seinen armseligen Kleidern und war wieder der alte Fischer Dudeldee.
Und als er heimkam, da war der königliche Palast verschwunden, und da stand wieder seine kleine, bretterne Hütte. Seine Frau saß darin in ihren schmutzigen Kleidern und schaute wieder heraus durch ein Astloch wie vormals, und wie viel sie auch wünschte und zankte und schalt, sie blieb immer die Frau des Fischers Dudeldee.

Die Wichtelmänner

Es war ein Schuster ohne seine Schu1d so arm geworden, dass ihm endlich nichts mehr übrig blieb als Leder zu einem einzigen Paar Schuhe. Nun schnitt er am Abend die Schuhe zu, die wollte er am nächsten Morgen in Arbeit nehmen. Und weil er ein gutes Gewissen hatte, so legte er sich ruhig zu Bett, befahl sich dem lieben Gott und schlief ein. Morgens, nachdem er sein Gebet verrichtet hatte. und sich zur Arbeit niedersetzen wollte, standen die beiden Schuhe ganz fertig auf seinem Tisch. Er verwunderte sich und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er nahm die Schuhe in die Hand, um sie näher zu betrachten. Sie waren so sauber gearbeitet, dass kein Stich daran falsch war, gerade als wenn es ein Meisterstück sein sollte.

Bald darauf trat auch schon ein Käufer ein, und weil ihm die Schuhe so gut gefielen, so bezahlte er mehr als gewöhnlich dafür, und der Schuster konnte von dem Geld Leder zu zwei Paar Schuhen erhandeln. Er schnitt sie abends zu und wollte den nächsten Morgen mit frischem Mut an die Arbeit gehen. Aber er brauchte es nicht; denn als er aufstand, waren sie schon fertig, und es blieben auch nicht die Käufer aus, die ihm so viel Geld gaben, dass er Leder zu vier Paar Schuhen einkaufen konnte. Er fand früh morgens auch die vier Paar fertig. Und so ging's immer fort; was er abends zuschnitt, das war am Morgen verarbeitet, also dass er bald wieder sein ehrliches Auskommen hatte und endlich ein wohlhabender Mann ward.

Nun geschah es eines Abends, nicht lange vor Weihnachten, als der Mann wieder zugeschnitten hatte, dass er vor dem Schlafengehen zu seiner Frau sprach: "Wie wär's, wenn wir die Nacht aufblieben, um zu sehen, wer uns solche hilfreiche Hand leistet!" Die Frau war zufrieden und steckte ein Licht an. 'Darauf verbargen sie sich in den Stubenecken hinter den Kleidern, die da aufgehängt waren, und gaben acht. Als es Mitternacht war, da
kamen zwei kleine, niedliche nackte Männlein, setzten sich vor des Schusters Tisch, nahmen alle zugeschnittene Arbeit zu sich und fingen an mit ihren Fingerlein so behänd und schnell zu stechen, zu nähen: zu klopfen, dass der Schuster vor Verwunderung die Augen nicht abwenden konnte. Sie ließen nicht nach, bis alles zu Ende gebracht war und fertig auf dem Tische stand, dann sprangen sie schnell fort.

Am andern Morgen sprach die Frau: "Die kleinen Männer haben uns reich gemacht, wir müssten uns doch dankbar dafür bezeigen. Sie laufen so herum, haben nichts am Leib und müssen frieren. Weißt du was' Ich will Hemdlein, Rock, Wams und Höslein für sie nähen, auch jedem ein Paar Strümpfe stricken, mach du jedem ein Paar Schühlein dazu!" Der Mann sprach: "Das bin ich wohl zufrieden." Und abends, wie sie alles fertig hatten, legten sie die Geschenke statt der .zugeschnittenen Arbeit zusammen auf den Tisch und versteckten sich dann, um mit anzusehen, wie sich die Männlein dazu anstellen würden.

Um Mitternacht kamen sie herangesprungen und wollten sich gleich an die Arbeit machen; als sie aber kein zugeschnittenes Leder, sondern die niedlichen Kleidungsstücke fanden, verwunderten sie sich erst, dann aber bezeigten sie eine gewaltige Freude. Mit der größten Geschwindigkeit zogen sie sich an, strichen die schönen Kleider am Leib und sangen:

Sind wir nicht Knaben glatt und fein
Was sollen wir länger Schuster sein?

Dann hüpften und tanzten sie und sprangen über Stühle und Bänke. Endlich tanzten sie zur Türe hinaus. Von nun an kamen sie nicht wieder. Dem Schuster aber ging es wohl, so lang er lebte, und es glückte ihm alles, was er unternahm.

Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein

Es war eine Frau, die hatte drei Töchter, davon hieß die älteste Einäuglein, weil sie nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn hatte, die mittelste Zweiäuglein, weil sie zwei Augen hatte wie andere Menschen, und die jüngste Dreiäuglein, weil sie drei Augen hatte, und das dritte stand bei ihr gleichfalls mitten auf der Stirne. Darum aber, dass Zweiäuglein nicht anders aussah als andere Menschenkinder, konnten es die Schwestern und Mutter nicht leiden. Sie sprachen zu ihm: „Du mit deinen zwei Augen bist nicht besser als das gemeine Volk, du gehörst nicht zu uns.“ Sie stießen es herum und warfen ihm schlechte Kleider hin und gaben ihm nicht mehr zu essen, als was sie übrig ließen, und tagen ihm Herzeleid an, wo sie nur konnten.
Es trug sich zu, dass Zweiäuglein hinaus ins Feld gegen und die Ziege hüten musste, aber noch ganz hungrig war, weil ihm seine Schwestern so wenig zu essen gegeben hatten. Da setzte es sich auf einen Rain und fing an, zu weinen und so zu weinen, dass zwei Bächlein aus seinen Augen herab flossen. Und wie es in seinem Jammer einmal aufblickte, stand eine Frau neben ihm, die fragte: „Zweiäuglein, was weinst du?“
Zweiäuglein antwortete: „Soll ich nicht weinen? Weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stoßen mich aus einer Ecke in die andere, werfen mir alte Kleider hin und geben mir nichts zu essen, als was sie übrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, dass ich noch ganz hungrig bin.“
Sprach die weise Frau: „Zeiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas sagen, dass du nicht mehr hungern sollst:
Sprich nur zu deiner Ziege: ‚Zicklein meck, Tischlein deck’,
so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das schönste Essen darauf, dass du essen kannst so viel du Lust hast. Und wenn du satt bist und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur:
‚Zicklein meck, Tischlein weg’,
so wird’s vor deinen Augen wieder verschwinden.“
Darauf ging die weise Frau fort.
Zweiäuglein aber dachte: „Ich muss gleich einmal versuchen, ob es wahr ist, was sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr“
und sprach: „Zicklein meck, Tischlein deck“
und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein Tischlein mit einem weißen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und silbernem Löffel, die schönsten Speisen standen rund herum, rauchten und waren noch warm, als wären sie eben aus der Küche gekommen. Da sagte Zweiäuglein das kürzeste Gebet her, das es wusste: Herr Gott, sei unser Gast zu aller Zeit, Amen“, langte zu und ließ sich’s wohl schmecken. Und als es satt war, sprach es, wie die weise Frau gelehrt hatte:
„Zicklein meck, Tischlein weg.“
Alsbald war das Tischchen und alles, was darauf stand, wieder verschwunden.
„Das ist ein schöner Haushalt“, dachte Zweiäuglein und war ganz vergnügt und guter Dinge.
Abends, als es mit seiner Ziege heim kam, fand es ein irdenes Schüsselchen mit Essen, das ihm die Schwestern hingestellt hatten, aber es rührte nichts an. Am andern Tag zog s mit seiner Ziege wieder hinaus und ließ die paar Brocken, die ihm gereicht wurden, liegen. Das erste Mal und das zweite Mal beachteten es die Schwestern gar nicht, wie es aber jedes Mal geschah, merkten sie auf und sprachen: „Es ist nicht richtig mit dem Zweiäuglein, das lässt jedes Mal das Essen stehen und hat doch sonst alles aufgezehrt, was ihm gereicht wurde, das muss andere Wege gefunden haben.“
Damit sie aber hinter die Wahrheit kämen, sollte Einäuglein mitgehen, wenn Zweiäuglein die Ziege auf die Weide trieb, und sollte achten, was es da vor hätte, und ob ihm jemand etwas Essen und Trinken brächte.
Als nun Zweiäuglein sich wieder aufmachte, trat Einäuglein zu ihm und sprach: „Ich will mit ins Feld und sehen, dass die Ziege auch recht gehütet und ins Futter getrieben wird.“Aber Zweiäuglein merkte, was Einäuglein im Sinne hatte und trieb die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach: „Komm, Einäuglein, wir wollen uns hinsetzen, ich will dir was vorsingen.“
Einäuglein setzte sich hin und war von dem ungewohnten Weg und von der Sonnenhitze müde, und Zweiäuglein sang immer:
„Einäuglein, wachst du? Einäuglein, schläfst du?“
Da tat Einäuglein das eine Auge zu und schlief ein. Und als Zweiäuglein sah, dass Einäuglein fest schlief und ncihts verraten konnte, sprach es:
„Zicklein meck, Tischlein deck“
und setzte sich an sein Tischlein und aß und trank, bis es satt war, dann rief es wieder:
„Zickilein meck, Tischlein weg“
und alles war augenblicklich verschwunden. Zweiäuglein weckte nun Einäuglein und sprach: „Einäuglein, du willst hüten und schläfst dabei ein, derweil hätte die Ziege in alle Welt laufen können, komm, wir wollen nach Haus gehen.“
Da gingen sie nach Haus, und Zweiäuglein ließ wieder sein Schüsselchen unangerührt stehen, und Einäuglein konnte der Mutter nicht verraten, warum es nicht essen wollte, und sage zu seiner Entschuldigung: „Ich war draußen eingeschlafen.“
Am andern Tag sprach die Mutter zu Dreiäuglein: „Diesmal sollst du mitgehen und acht haben, ob Zweiäuglein draußen isst, und ob ihm jemand Essen und Trinken bringt, denn essen und trinken muss es heimlich.“
Da trat Dreiäuglein zu Zweiäuglein und sprach: „Ich will mitgehen und sehen, ob auch die Ziege recht gehütet und ins Futter getrieben wird.“
Aber Zweiäuglein merkte, was Dreiäuglein im Sinne hatte, und trieb die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach: „Wir kwollen uns dahin setzen, Dreiäuglein, ich will dir was vorsingen.“
Dreiäuglein setzte sich und war müde von dem Weg und der Sonnenhitze, und Zweiäuglein hub wieder das vorige Liedlein an und sang:
“Dreiäuglein, wachst du?“
Aber statt dess es nun singen musste:
„Dreiäuglein, schläfst du?“
sang es aus Unbedachtsamkeit:
„Zweiäuglein, schläfst du?“
und sang immer:
„Dreiäuglein wachst du? Zweiäuglein, schläfst du?“
Da fielen dem Dreiäuglein seine zwei Augen zu und schliefen, aber das dritte, weil es von dem Sprüchlein nicht angeredet war, schlief nicht ein. Zwar tat es Dreiäuglein zu, aber nur aus List, gleich als schlief es auch damit, doch blinzelte es und konnte alles gar wohl sehen. Und als Zweiäuglein meinte, Dreiäuglein schliefe fest, sagte es sein Sprüchlein:
„Zicklein meck, Tischlein deck“
aß und trank nach Herzenslust und hieß dann das Tischlein wieder fortgehen:
„Zicklein meck, Tischlein weg“
und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und sprach: „Ei Dreiäuglein, bist du eingeschlafen? Du kannst gut hüten! Komm wir wollen heimgehen.“ Und als sie nach Haus kam, aß Zweiäuglein wieder nichts, und Dreiäuglein sprach zur Mutter: „Ich weiß nun, warum das hochmütige Ding nicht isst. Wenn sie draußen zur Ziege spricht: ‚Zicklein meck, Tischlein deck’, so steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser, als wir`s hier habe, und wenn sie satt ist, so spricht sie: ‚Zicklein meck, Tischlein weg’, und alles ist wieder verschwunden; ich hab alles genau mit angesehen. Zwei Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirne, das war zum Glück wach geblieben.“
Da rief die neidische Mutter: „Willst du’s besser haben als wir? Die Lust soll di vergehen!“
Sie holte ein Schlachtmesser und stieß es der Ziege ins Herz, dass sie tot hinfiel.
Als Zweiäuglein das sah, ging es voll Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte bittere Tränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach: „Zweiäuglein, was weinst du?“
„Soll ich nicht weinen!“, antwortete es: „Die Ziege, die mir jeden Tag, wenn ich Euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter tot gestochen, nun muss ich wieder Hunger und Kummer leiden.“
Die weise Frau sprach: „Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rat erteilen, bitte deine Schwestern, dass sie dir das Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben, und vergrab es vor der Haustür in die Erde, so wird’s dein Glück sein.“
Da verschwand sie, und Zweiäuglein ging heim und sprach zu den Schwestern: „Liebe Schestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur das Eingeweide.“
Da lachen sie und sprachen: „Kannst du haben, wenn du weiter nichts willst.“
Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide und vergrub’s abends in aller Stille nach dem Rate der weisen Frau vor die Haustüre.
Am andern Morgen, als sie insgesamt erwachten und vor die Haustüre traten, so stand da ein wunderbarer prächtier Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold hingen dazwischen, dass wohl nichts Schöneres und Köstlicheres auf der weiten Welt war. Sie wussten aber nicht, wie der Baum in der Nacht dahingekommen war, nur Zweiäuglein merkte, dass s aus den Eingeweiden der Ziege aufgewachsen war, denn er stand gerade da, wo es sie in die Erde begraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein: „Steig hinauf, mein Kind und brich uns die Früchte von dem Baume. “Einäuglein stieg hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfeln greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig aus den Händen und das geschah jedes Mal, so dass es keinen einzigen Apfel brechen konnte, es mochte sich anstellen, wie s wollte.
Da sprach die Mutter: „Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei Augen besser um dich schauen als Einäuglein.“
Einäuglein rutsche herunter und Dreiäuglein stieg hinauf. Aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mochte schauen, wie es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück.
Endlich ward die Muter ungeduldig und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht fassen und griff immer in die leere Luft.
Da sprach Zweiäuglein: „Ich will mich einmal hinaufmachen, vielleicht gelingt mir’s eher.“
Die Schwestern riefen zwar: „Du mit deinen zwei Augen, was willst du wohl!“
Aber Zweiäuglein stieg hinauf, und die goldenen Äpfel zogen sich nicht vor ihm zurück, sondern ließen sich von selbst in seine Hand herab, also, dass es einen nach dem andern abpflücken konnte und ein ganz3es Schürzchen voll mit herunterbrachte. Die Mutter nahm sie ihm ab, und statt, dass sie, Einäuglein und Dreiäuglein dafür das arme Zeiäuglein hätten besser behandeln sollen, so wurden sie nur neidisch, dass es allein die Früchte holen konnte, und gingen noch härter mit ihm um.
Es trug sich zu, als sie einmal beisammen an dem Baum standen, dass ein junger Ritter daher kam.
„Geschwind, Zweiäuglein“, riefen die zwei Schwestern, „kriech unter, dass wir uns d3einer nicht schämen müssen“, und stürzten über das arme Zweiäuglein in aller Eile ein leeres Fass, das gerade neben dem Baume stand, und schoben die goldenen Äpfel, die es abgebrochen hatte, darunter. Als der Ritter näher kam, war es ein schöner Herr, der hielt still, bewunderte den prächtigen Baum von Gold und Silber und sprach zu den beiden Schwestern: „Wem gehört dieser schöne Baum? Wer mir einen Zweig davon gäbe, könnte dafür verlangen, was er wollte.“
Da antworteten Einäuglein und Dreiäuglein, der Baum gehörte ihnen zu, und sie wollten ihm einen Zweig wohl abbrechen. Sie gaben sich auch beide große Mühe, aber sie waren es nicht imstande, denn die Zweige und Früchte wichen jedes Mal vor ihnen zurück.
Da sprach der Ritter: „Das ist ja wunderlich, dass der Baum euch zugehört und ihr doch nicht Macht habt, etwas davon abzubrechen.“
Sie blieben dabei, der Baum wäre ihr Eigentum. Indem sie aber so sprachen, rollte Zweiäuglein unter dem Fasse ein paar goldene Äpfel heraus, so dass sie zu den Füßen des Ritters liefen, denn Zweiäuglein war bös, dass Einäuglein und Dreiäuglein nicht die Wahrheit sagten. Wie der Ritter die ÄLpfel sah, erstaunte er und fragte, wo sie herkämen. Einäuglein und Dreiäuglein antworteten, sie hätten noch eine Schwester, die dürfe sich aber nicht sehen lassen, weil sie nur zwei Augen hätte, wie andere gemeine Menschen. Der Ritter aber verlangte sie zu sahen und rief: „Zweiäuglein, komm hervor.“
Da kam Zweiäuglein ganz getrost unter dem Fass hervor, und der Ritter war verwudnert über seine große Schönheit, und sprach: „Du, Zweiäuglein, kannst mir gewiss einen Zweig von dem Baum abbrechen.“
„Ja“, antwortete Zweiäuglein, „das will ich wohl können, denn der Baum gehört mir.“ Und stieg hinauf und brach mit leichter Mühe einen Zeig mit feinen silbernen Blättern und goldenen Früchten ab, und reichte ihn dem Ritter hin.
Da sprach der Ritter: „Zweiäuglein, was soll ich dir dafür geben?“
„Ach“, antwortete Zweiäuglein, ich leide Hunger und Durst, Kummer und Not vom frühen Morgen bis zum späten Abend, wenn Ihr mich mitnehmen und erlösen wollt, so wäre ich glücklich. A hob der Ritter das Zweiäuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein väterliches Schloss, dort gab er ihm schöne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust, und weil er es so lieb hatte, ließ er sich mit ihm einsegnen und war die Hochzeit in großer Freude gehalten.
Wie Zweiäuglein so von dem schönen Rittersmann fort geführt ward, da beneideten die zwei Schwestern ihm erst recht sein Glück.
„Der wunderbare Baum bleibt uns doch“, dachten sie, „können wir auch keine Früchte davon brechen, so wird doch jedermann davor stehen bleiben, zu uns kommen und ihn rühmen; wer weiß, wo unser Weizen noch blüht!“
Aber am andern Morgen war ihr Baum verschwunden und ihre Hoffnung dahin. Und wie Zweiäuglein zu seinem Kämmerlein hinausging, so stand er zu seiner großen Freude davor und war ihm also nachgefolgt.
Zweiäuglein lebe lange Zeit vergnügt. Einmal kamen zwei arme Frauen zu ihm auf das Schloss und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht und erkannte ihre Schwestern Einäuglein und Dreiäuglein, die so in Armut geraten waren, dass sie umherziehen und vor den Türen ihr Brot suchen mussten. Zweiäuglein aber hieß sie willkommen und tat ihnen Gutes und pflegte sie, also dass die beiden von Herzen bereuten, was sie ihrer Schwester in der Jugend Böses angetan hatten.

Der süße Brei

Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und dort begegnete ihm eine alte Frau. Die wusste schon um seinen Jammer und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollte es sagen: "Töpfchen, koche!", so kochte es guten, süßen Hirsebrei, und wenn es sagte: "Töpfchen, steh!", so hörte es wieder auf zu kochen. Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, so oft sie wollten.
Eines Tages war das Mädchen ausgegangen. Da sprach die Mutter: "Töpfchen, koche!" Da kocht es, und sie isst sich satt. Nun will sie, dass das Töpfchen wieder aufhören soll; aber sie weiß das Wort nicht mehr. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll, und das zweite Haus, und dann die Straße, als wollte es die ganze Welt satt machen, und es ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen.
Endlich, als nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: "Töpfchen, steh!" Da steht es und hört auf zu kochen. Wer aber wieder in die Stadt wollte, der musste sich durchessen.

Das Mädchen ohne Hände

Ein Müller war nach und nach in Armut geraten und hatte nichts mehr als seine Mühle und einen großen Apfelbaum dahinter. Einmal war er in den Wald gegangen, Holz zu holen, a trat ein alter Mann zu ihm, den er noch niemals gesehen hatte, und sprach: „Was quälst du dich mit Holzhacken, ich will dich reich machen, wenn du mir versprichst, was hinter deiner Mühle steht.“
„Was kann das anders sein als mein Apfelbaum?“, dachte der Müller, sagte „Ja“ und verschrieb es dem fremden Manne. Der aber lachte höhnisch und sagte: „Nach drei Jahren will ich kommen und abholen, war mir gehört“, und ging fort. Als der Müller nach Hause kam, trat ihm seine Frau entgegen und sprach: „Sage mir, Müller, woher kommt der plötzliche Reichtum in unser Haus? Auf einmal sind alle Kisten und Kasten voll, kein Mensch hat’s hereingebracht, und ich weiß nicht, wie es zugegangen ist.“
Er antwortete: „Das kommt von einem fremden Manne, der mir im Walde begegnet ist und mir große Schätze verheißen hat, ich habe ihm dagegen verschrieben, was hinter der Mühle steht; den großen Apfelbaum können wir wohl dafür geben.“
„Ach Mann, sagte die Frau erschrocken, „das ist der Teufel gewesen; den Apfelbaum hat er nicht gemeint, sondern unsere Tochter, die stand hinter der Mühle und kehrte den Hof.“
Die Müllerstochter war ein schönes und frommes Mädchen und lebte die drei Jahre in Gottesfurcht und ohne Sünde. Als nun die Zeit herum war, und der Tag kam, wo sie der Böse holen wollte, da wusch sie sich rein und machte mit Kreide einen Kranz um sich. Der Teufel erschien ganz frühe, aber er konnte ihr nicht nahekommen. Zornig sprach er zum Müller: „Tu ihr alles Wasser weg, damit sie sich nicht mehr waschen kann, denn sonst habe ich keine Gewalt über sie.“
Der Müller fürchtete sich und tat es. Am andern Morgen kam der Teufel wieder, aber sie hatte auf ihre Hände geweint, und sie waren ganz rein. Da konnte er ihr wiederum nicht nahen und sprach wütend zum Müller: „Hau ihr die Hände ab, sonst kann ich ihr nichts anhaben.“
Der Müller entsetzte sich und antwortete: „Wie könnt ich meinem eigenen Kinde die Hände abhauen!“
Da drohte ihm der Böse und sprach: „Wo du es nicht tust, so bist du mein und ich hole dich selber.“
Dem Vater ward angst, und er versprach, ihm zu gehorchen. Da ging er zu dem Mädchen und sagte: „Mein Kind, wenn ich dir nicht beide Hände abhaue, so führt mich der Teufel fort, und in der Angst habe ich es ihm versprochen. Hilf mir doch in meiner Not und verzeihe mir, was ich Böses an dir tue.“
Sie antwortete: „Lieber Vater, macht mit mir was Ihr wollt, ich bin Euer Kind.“
Darauf legte sie beide Hände hin und ließ sie sich abhauen. Der Teufel kam zum dritten Mal aber sie hatte so lange und so viel auf die Stümpfe geweint, dass sie doch ganz rein waren. Da musste er eichen und hatte alles Recht auf sie verloren.
Der Müller sprach zu ihr: „Ich habe so großes Gut durch dich gewonnen, ich will dich zeitlebens aufs Köstlichste halten.“
Sie antwortete aber: „Hier kann ich nicht bleiben, ich will fortgehen; mitleidige Menschen werden mir schon so viel geben als ich brauche.“
Daraufhin ließ sie sich die verstümmelten Arme auf den Rücken binden, und mit Sonnenaufgang machte sie sich auf den Wag und ging den ganzen Tag bis es Nacht ward. Da kam sie zu einem königlichen Garten, und beim Mondschimmer sah sie, dass Bäume voll schöner Früchte darin standen; aber sie konnte nicht hinein, denn es war ein Wasser darum. Und weil sie den ganzen Tag gegangen war und keinen Bissen genossen hatte, und der Hunger sie quälte, so dachte sie: „Ach wäre ich darin, damit ich etwas von den Früchten äße, sonst muss ich verschmachten.“
Da kniete sie nieder, rief Gott, den Herrn, an und betete. Auf einmal kam ein Engel daher, der machte eine Schleuse in dem Wasser zu, so dass der Graben trocken ward und sie hindurchgehen konnte. Nun ging sie in den Garten, und der Engel ging mit ihr. Sie sah einen Baum mit Obst, das waren schöne Birnen, aber sie waren alle gezählt. Da trat sie hinzu und aß eine mit dem Munde vom Baume ab, ihren Hunger zu stillen, aber nicht mehr. Der Gärtner sah es mit an, weil aber der Engel dabei stand, fürchtete er sich und meinte, das Mädchen wäre ein Geist, schwieg still und getraute sich nicht zu rufen oder den Eist anzureden. Als sie die Birne gegessen hatte, war sie gesättigt, und ging und verstecke sich in das Gebüsch. Der König, dem der Garten gehörte, kam am andern Morgen herab, da zählte er und sah, dass eine der Birnen fehlte, und fragte den Gärtner, wo sie hingekommen wäre, sie läge nicht unter dem Baume und wäre doch weg. Da antwortete der Gärtner: „Vorige Nacht kam ein Geist herein, der hatte keine Hände und aß eine mit dem Munde ab.“
Der König sprach: „Wie ist der Geist über das Wasser hereingekommen? Und wo ist er hingegangen, nachdem er die Birne gegessen hatte?“
Der Gärtner antwortete: „Es kam jemand in schneeweißem Kleide vom Himmel, der hat die Schleuse zugemacht und das Wasser gehemmt, damit der Geist durch den Graben geben konnte. Und weil es ein Engel muss gewesen sein, so habe ich mich gefürchtet, nicht gefragt und nicht gerufen. Als der Geist die Birne gegessen hatte, ist er wieder zurückgegangen.“
Der König sprach: „Verhält es sich, wie du sagst, so will ich diese Nacht bei dir wachen.“
Als es dunkel ward, kam der König in den Garten und brachte einen Priester mit, der sollte den Geist anreden. Alle die setzten sich unter den Baum und gaben acht. Um Mitternacht kam das Mädchen aus dem Gebüsch gekrochen, trat zu dem Baum und aß wieder mit dem Munde eine Birne ab; neben ihr aber stand der Engel im weißen Kleid. Da ging der Priester hervor und sprach: „Bist du von Gott gekommen oder von der Welt? Bist du ein Geist oder ein Mensch?“
Sie antwortete: „Ich bin kein Geist, sondern ein armer Mensch, von allen verlassen, nur von Gott nicht.“
Der König sprach: „Wenn du von aller Welt verlassen bist, so will ich dich nicht verlassen.“
Er nahm sie mit sich in sein königliches Schloss, und weil sie so schön und fromm war, liebte er sie von Herzen, ließ ihr silberne Hände machen und nahm sie zu seiner Gemahlin.
Nach einem Jahr musste der König über Feld ziehen, da befahl er die junge Königin seiner Mutter und sprach: Wenn sie ins Kindbett kommt, so haltet und verpflegt sie wohl und schreibt mir’s gleich in einem Briefe.“
Nun gebar sie einen schönen Sohn. Da schrieb es die alte Mutter eilig und meldete ihm die frohe Nachricht. Der Bote aber ruhte unterwegs an einem Bache, und da er von dem langen Weg ermüdet war, schlief er ein. Da kam der Teufel, welcher er frommen Königin immer zu schaden trachtete, und vertauschte den Brief mit einem andern, darin stand, dass die Königin einen Wechselbalg zur Welt gebracht hätte. Als der König den Brief las, erschrak er und betrübte sich sehr, doch schrieb er zur Antwort, sie sollten die Königin wohlhalten und pflegen bis zu seiner Ankunft. Der Bote ging mit dem Brief zurück, ruhte an der nämlichen Stelle und schlief wieder ein. Da kam der Teufel abermals und legte ihm einen andern Brief in die Tasche, darin stand, sie sollten die Königin mit ihrem Kinde töten. Die alte Mutter erschrak heftig, als sie den Brief erhielt, konnte es nicht glauben und schrieb dem König noch einmal; aber sie bekam keine andere Antwort, weil der Teufel dem Boten jedes Mal einen falschen Brief unterschob, und in dem letzten Briefe stand noch, sie sollten zum Wahrzeichen Zunge und Augen der Königin aufheben.
Aber die alte Mutter einte, dass so unschuldiges Blut sollte vergossen erden, ließ in der Nacht eine Hirschkuh holen, schnitt ihr Zunge und Augen aus und hob sie auf. Dann sprach sie zu der Königin: „Ich kann dich nicht töten lassen, wie der König befiehlt, aber länger darfst du hier nicht bleiben; geh mit deinem Kinde in die weite Welt hinein und komm nie wieder zurück.“
Sie band ihr das Kind auf den Rücken und die arme Frau ging mit weiniglichen Augen fort. Sie kam in einen großen wilden Wald, da setzte sie sich auf ihre Knie und betete zu Gott, und der Engel des Herrn erschien ihr und führte sie zu einem kleinen haus, daran war ein Schildchen mit den Worten: „Hier wohnt ein jeder frei.“
Aus dem Häuschen kam eine schneeweiße Jungfrau, die sprach: „Willkommen, Frau Königin“ und führte sie hinein. Da band sie ihr den kleinen Knaben von dem Rücken und hielt ihn an ihre Brust, damit er trank, und legte ihn dann auf ein schönes, gemachtes Bettchen.
Da sprach die arme Frau: „Woher weißt du, dass ich eine Königin war?“
Die weiße Jungfrau antwortete: „Ich bin ein Engel, von Gott gesandt, dich und dein Kind zu verpflegen.“
Da blieb sie in dem Hause sieben Jahre und ward wohl verpflegt, und durch Gottes Gnade wegen ihrer Frömmigkeit wuchsen ihr die abgehauenen Hände wieder.
Der König kam endlich aus dem Felde wieder nach Haus, und sein erstes war, dass er seine Frau mit dem Kinde gehen wollte. Da fing die alte Mutter an zu weinen und sprach: „Du böser Mann, was hast du mir geschrieben, dass ich zwei unschuldige Seelen ums Leben bringen sollte!“, und zeigte ihm die beiden Briefe, die der Böse verfälscht hatte, und sprach weiter: „Ich habe getan, wie du befohlen hast“, und wies ihm die Wahrzeichen, Zunge und Augen. Da fing der König an noch viel bitterlicher zu weinen über seine arme Frau und sein Söhnlein, dass es die alte Mutter erbarmte und sie zu ihm sprach: „Gib dich zufrieden, sie lebt noch. Ich habe eine Hirschkuh heimlich schlachten lassen und von dieser die Wahrzeichen genommen, deiner Frau aber habe ich ihr Kind auf den Rücken gebunden und sie geheißen, in die weite Welt zu gehen, und sie hat versprechen müssen, nie wieder hierher zu kommen, weil du so zornig über sie wärst.“
Da sprach der König: „Ich will gehen, so weit der Himmel blau ist, und nicht essen und trinken, bis ich meine liebe Frau und mein Kind wieder gefunden habe, wenn sie nicht in der Zeit umgekommen oder Hungers gestorben sind.“
Darauf zog der König umher, an die sieben Jahre lang, und suchte sie in allen Steinklippen und Felsenhöhlen, aber er fand sie nicht, und dachte, sie wären verschmachtet. Er aß nicht und trank nicht während dieser ganzen Zeit, aber Gott erhielt ihn. Endlich kam er in einen großen Wald und fand darin das kleine Häuschen, daran as Schildchen war mit den Worten: „Hier wohnt jeder frei.“
Da kam die weiße Jungfrau heraus, nahm ihn bei der Hand, führte ihn hinein und sprach: „Seid willkommen, Herr König“, und fragte ihn, wo er her käme.
Er antwortete: „Ich bin bald sieben Jahre umhergezogen und suche meine Frau mit ihrem Kinde, ich kann sie aber nicht finden.“
Der Engel bot ihm Essen und Trinken an, er nahm es aber nicht, und wollte nur ein wenig ruhen. Da legte er sich schlafen und deckte ein Tuch über sein Gesicht.
Darauf ging der Engel in die Kammer, wo die Königin mit ihrem Sohne saß, den sie gewöhnlich Schmerzenreich nannte, und sprach zu ihr: „Geh heraus mit samt deinem Kinde, dein Gemahl ist gekommen.“
Da ging sie hin, wo er lag, und das Tuch fiel ihm vom Angesicht.
Da sprach sie: „Schmerzenreich, heb deinem Vater das Tuch auf und decke ihm sein Gesicht wieder zu.“
Das Kind hob es auf und deckte es wieder über sein Gesicht. Das hörte der König im Schlummer und ließ das Tuch noch einmal gerne fallen. Da ward das Knäbchen ungeduldig und sagte: „Liebe Mutter, wie kann ich meinem Vater das Gesicht zudecken, ich habe ja keinen Vater auf der Welt. Ich habe das Beten gelernt, Unser Vater, der du bist im Himmel, da hast du gesagt, mein Vater wär im Himmel und wäre der liebe Gott, wie soll ich einen so wilden Mann kennen? Der ist mein Vater nicht.“
Wie der König das hörte, richtete er sich auf und fragte wer sie wäre.
Da sagte sie: „Ich bin deine Frau und das ist dein Sohn Schmerzenreich.“
Und er sah ihre lebendigen Hände und sprach: „Meine Frau hatte silberne Hände.“
Sie antwortete: „Die natürlichen Hände hat mir der gnädige Gott wieder wachsen lassen“, und der Engel ging in die Kammer, holte die silbernen Hände und zeigte sie ihm. Da sah er erst gewiss, dass es seine liebe Frau und sein liebes Kind war, und küsste sie und war froh, und fragte: „Ein schwerer Stein ist von meinem Herzen gefallen.“
Da speiste sie der Engel Gottes noch einmal zusammen, und dann gingen sie nach Haus zu seiner alten Mutter. Da war große Freude überall, und der König und die Königin hielten noch einmal Hochzeit, und sie lebten vergnügt bis an ihr seliges Ende.

Der Jude im Dorn

Es war einmal ein reicher Mann, der hatte einen Knecht, der diente ihm fleißig und redlich, war alle Morgen der erste aus dem Bett und abends der letzte hinein, und wenn’s eine saure Arbeit gab, wo keiner anpacken wollte, so stellte er sich immer zuerst daran. Dabei klagte er nicht, sondern war mit allem zufrieden und war immer lustig. Als sein Jahr herum war, gab ihm der Herr keinen Lohn und dachte: „Das ist das gescheitste, so spare ich etwas und er geht mir nicht weg, sondern bleibt hübsch im Dienst.“
Der Knecht schwieg auch still, tat das zweite Jahr wie das erste seine Arbeit, und als er am Ende desselben abermals keinen Sohn bekam, ließ er sich’s gefallen und blieb noch länger. Als auch das dritte Jahr herum war, bedachte sich der Herr, griff in die Tasche, holte aber nichts heraus. Da fing der Knecht endlich an und sprach: „Herr, ich habe Euch drei Jahre redlich gedient, seid so gut und gebt mir, was mir von Rechts wegen zukommt; ich wollte fort und mich gerne weiter in der Welt umsehen.“
Da antwortete der Geizhals:“ Ja, mein lieber Knecht, du hast mir unverdrossen gedient, dafür sollst du mildiglich belohnt werden“, griff abermals in die Tasche und zählte dem Knecht drei Heller einzeln auf: „Da hast du für jedes Jahr einen Heller, das ist ein großer und reichlicher Lohn, wie du ihn bei wenigen Herren empfangen hättest.“
Der gute Knecht, der vom Geld wenig verstand, strich sein Kapital ein und dachte: „Nun hast du vollauf in der Tasche, was willst du sorgen und dich mit schwerer Arbeit länger plagen.“
Da zog er fort, bergauf, bergab, sang und sprang nach Herzenslust. Nun trug es sich zu, als er an einem Buschwerk vorüber kam, dass ein kleines Männchen hervortrat und ihn anriefh: „Wo hinaus, Bruder Lustig? Ich sehe, du trägst nicht schwer an deinen Sorgen.“
„Was soll ich traurig sein“, antwortete der Knecht, „ich habe vollauf, der Lohn von drei Jahren klingelt in meiner Tasche.“
„Wieviel ist denn deines Schatzes?“, fragte ihn das Männchen.
„Wieviel? Drei bare Heller, richtig gezählt?
„Höre“, sagte der Zwerg, „ich bin ein armer bedürftiger Mann, schenke mir deine drei Heller; ich kann nichts mehr arbeiten, du aber bist jung und kannst dir dein Brot leicht verdienen.“
Und weil der Knecht ein gutes Herz hatte und Mitleid mit dem Männchen fühlte, so reichte er ihm seine drei Heller und sprach: „In Gottes Namen, es wird mir doch nicht fehlen.“
Da sprach das Männchen: „Weil ich dein gutes Herz sehe, so gewähre ich dir drei Wünsche, für jeden Heller einen, die sollen dir in Erfüllung gehen.“
„Aha“, sprach der Knecht, „du bist einer, der blau pfeifen kann. Wohlan, wenn’s doch so sein soll, so wünsche ich mir erstlich ein Vogelrohr, das alles trifft, wonach ich ziele: zweitens eine Fidel, wenn ich darauf streiche, so muss alles tanzen, was den Klang hört und drittens, wenn ich an jemand eine Bitte tue, so darf er sie nicht abschlagen.“
„Das sollst du alles haben“, sprach as Männchen, griff in den Busch und, denk einer, da lag schon Fidel und Vogelrohr in Bereitschaft, als wenn sie bestellt wären. Er gab sie dem Knecht und sprach: „Was du dir immer erbitten wirst, kein Mensch auf der Welt soll dir’s abschlagen.“
„Herz, was begehrst du nun?“, sprach der Knecht zu sich selber und zog lustig weiter. Bald darauf begegnete er einem Juden mit einem langen Ziegenbart, der stand und horchte auf den Gesang eines Vogels, der hoch oben in der Spitze eines Baumes saß.
„Gottes Wunder!“, rief er aus, „so ein kleines Tier hat so eine grausam mächtige Stimme! Wenn’s doch mein wäre! Wer ihm doch Salz auf den Schwanz streuen könnte!“
„Wenn’s weiter nichts ist“, sprach der Knecht, „der Vogel soll bald herunter sein“, legte an und traf aufs Haar, und der Vogel fiel herab in die Dornhecken.
„Geh, Spitzbub“, sagte er zum Juden, und hol dir den Vogel heraus.“
„Mein“, sprach der Jude, „lass der Herr den Bub weg, so kommt ein Hund gelaufen, ich will mir den Vogel auflesen, weil Ihr ihn doch einmal getroffen habt“, legte sich auf die Erde und fing an, sich in den Busch hineinzuarbeiten. Wie er nun mitten in dem Dorn steckte, plagte der Mutwille den guten Knecht, dass er seine Fidel abnahm und anfing zu geigen. Gleich fing auch der Jude an die Beine zu heben und in die Höh zu springen; und je mehr der Knecht strich, desto besser ging der Tanz. Aber die Dörner zerrissen ihm den schäbigen Rock, kämmten ihm den Ziegenbart und stachen und zwickten ihn am ganzen Leib.
„Mein“, rief der Jude, „was soll mir das Geigen! Lass der Herr das Geigen, ich begehre nicht zu tanzen.“ Aber der Knecht hörte nicht darauf und dachte: „Du hast die Leute genug geschunden, nun soll dir’s die Dornhecke nicht besser machen“, und fing von neuem an zu geigen, dass der Jude immer höher aufspringen musste und die Fetzen von seinem Rock in den Stacheln hängen blieben.
„Au weih geschrien!“, rief der Jude, „geb ich doch dem Herrn, was er verlangt, wenn er nur das Geigen lässt, einen ganzen Beutel mit Gold.“
„Wenn du so spendabel bist“, sprach der Knecht, „so will ich wohl mit meiner Musik aufhören, aber, das muss ich dir nachrühmen, du machst deinen Tanz noch mit, dass es eine Art hat“, nahm darauf den Beutel und ging seiner Wege.
Der Jude blieb stehen und sah ihm nach und war still, bis der Knecht weit weg und ihm ganz aus den Augen war, dann schrie er aus Leibeskräften: „Du miserabler Musikant, du Bierfiedler: wart, wenn ich dich allein erwische! Ich will dich jagen, dass du die Schuhsohlen verlieren sollst; du Lump, steck einen Groschen ins Maul, dass du sechs Heller wert bist“, und schimpfte weiter, was er nur losbringen konnte. Und als er sich damit etwas Gutes getan und Luft gemacht hatte, lief er in die Stadt zum Richter: „Herr Richter, au weih geschrien“ Seht wie mich auf offener Landstraße ein gottloser Mensch beraubt und übel zugerichtet hat: ein Stein auf dem Erdboden möchte sich erbarmen: die Kleider zerfetzt! Der Leib zerstochen und zerkratzt! Mein bisschen Armut samt dem Beutel genommen! Lauter Dukaten, ein Stück schöner als das andere: um Gottes willen, lasst den Menschen ins Gefängnis werfen.“
Sprach der Richter: „War’s ein Soldat, der dich mit seinem Säbel so zugerichtet hat?“
„Gott bewahr!“, sagte der Jude, „einen nackten Degen hat er nicht gehabt, aber ein Rohr hat er gehabt auf dem Buckel hängen und eine Geige am Hals; der Bösewicht ist leicht zu erkennen.“
Der Richter schickte seine Leute nach ihm aus, die fanden den guten Knecht, der ganz langsam weitergezogen war, und fanden auch den Beutel mit Gold bei ihm. Als er vor Gericht gestellt wurde, sagte er: „Ich habe den Juden nicht angerührt und ihm das Geld nicht genommen, er hat mir’s aus freien Stücken angeboten, damit ich nur aufhörte zu geigen, weil er meine Musik nicht vertragen konnte.“
„Gott bewahr!“, schrie der Jude, „der greift die Lügen wie Fliegen an der Wand.“
Aber der Richter glaubte es auch nicht und sprach: „Das ist eine schlechte Entschuldigung, das tut kein Jude“, und verurteilte den guten Knecht, weil er auf offener Straße einen Raub begangen hätte, zum Galgen. Als er aber abgeführt ward, schrie ihm noch der Jude zu: „Du Bärenhäuter, du Hundemusikant, jetzt kriegst du deinen wohlverdienten Lohn.“
Der Knecht stieg ganz ruhig mit dem Henker die Leiter hinauf, auf der letzten Sprosse aber drehte er sich um und sprach zum Richter: „Gewährt mir noch eine Bitte, ehe ich sterbe.“
„Ja“, sprach der Richter, „wenn du nicht um dein Leben bittest.“
„Nicht ums Leben“, antwortete er Knecht, „ich bitte, lasst mich zu guter Letzt noch einmal auf meiner Geige spielen.“
Der Jude erhob ein Zetergeschrei: „Um Gottes willen, erlaubt’s nicht.“
Allein der Richter sprach: „Warum soll ich ihm die kurze Freude nicht gönnen; es ist ihm zugestanden, und dabei soll es sein Bewenden haben.“
Auch konnte er es ihm nicht abschlagen wegen der Gabe, die dem Knecht verliehen war.
Der Jude aber rief: „Au weih! Au weih! Bindet mich an, bindet mich fest.“
Da nahm der gute Knecht seine Geige vom Hals, legte sie zurecht, und wie 3er den ersten Strich tat, fing alles an zu wabern und zu wanken, der Richter, die Schreiber, und die Gerichtsdiener, und der Strick fiel dem aus der Hand, der den Juden festbinden wollte: beim zweiten Strich hoben alle die Beine, und der Henker ließ den guten Knecht los und machte sich zum Tanze fertig; beim dritten Strich sprang alles in die Höhe und fing a zu tanzen und der Richter und der Jude waren vorn und sprangen am besten. Bald tanzte alles mit, was auf den Markt aus Neugierde herbeigekommen war, alte und junge, dicke und magere Leute untereinander, sogar die Hunde, die mitgelaufen waren, setzten sich auf die Hinterfüße und hüpften mit. Und je länger er spielte, desto höher sprangen die Tänzer, dass sie sich einander an die Köpfe stießen und anfingen jämmerlich zu schreien. Endlich rief der Richter ganz außer Atem: „Ich schenke dir dein Leben, höre nur auf zu geigen.“ Der gute Knecht ließ sich bewegen, setzte die Geige ab, hing sie wieder um den Hals und stieg die Leiter herab. Da trat er zu dem Juden, der auf der Erde lag und nach Atem schnappte, und sagte: „Spitzbube, jetzt gestehe, wo du das Geld her hast, oder ich nehme meine Geige vom Hals und fange wieder an zu spielen.“
„Ich hab’s gestohlen, ich hab’s gestohlen“, schrie er, „du aber hast’s redlich verdient.“
Da ließ der Richter den Juden zum Galgen führen und als einen Dieb aufhängen.

Die kluge Gretel

Es war eine Köchin, die hieß Gretel, die trug Schuhe mit roten Absätzen, und wenn sie damit ausging, so drehte sie sich hin und her, war ganz fröhlich und dachte: „Du bist doch ein schönes Mädel.“ Und wenn sie nach Haus kam, so trank sie aus Fröhlichkeit einen Schluck Wein, und weil der Wein auch Lust zum Essen macht, so versuchte sie das beste, was sie kochte, so lang, bis sie satt war, und sprach: „Die Köchin muss wissen, wie’s Essen schmeckt.“
Es trug sich zu, dass der Herr einmal zu ihr sagte: „Gretel, heut Abend kommt ein Gast, richte zwei Hühner fein wohl zu.“
„Will’s schon machen, Herr“, antwortete Gretel. Nun stach’s die Hühner ab, brühte sie, rupfte sie, steckte sie an den Spieß und brachte sie, wie’s gegen Abend ging, zum Feuer, damit sie braten sollten. Die Hühner fingen an, braun und gar zu werden, aber der Gast war noch nicht gekommen. Da rief die Gretel dem Herrn: „Kommt der Gast nicht, so muss ich die Hühner vom Feuer tun, ist aber Jammer und Schade, wenn sie nicht bald gegessen werden, wo sie am besten im Saft sind.“
Sprach der Herr: „So will ich nur selbst laufen und den Gast holen.“
Als der Herr den Rücken gekehrt hatte, legte Gretel den Spieß mit den Hühnern beiseite und dachte, „so lange da beim Feuer stehen, macht schwitzen und durstig, wer weiß, wann die kommen! Der weil spring ich in den Keller und tue einen Schluck.“ Lief hinab, setzte einen Krug an, sprach: „Gott gesegne dir, Gretel“, und tat einen guten Zug. „Der Wein hängt aneinander“, sprach’s weiter, „und ist nicht gut abbrechen“, und tat noch einen ernsthaften Zug. Nun ging es und stellte die Hühner wieder übers Feuer, strich sie mit Butter und trieb den Spieß lustig herum. Weil aber der Braten so gut roch, dachte Gretel: „Es könnte etwas fehlen, versucht muss er werden!“, schleckte mit dem Finger und sprach: „Ei, was sind die Hühner so gut! Ist ja Sünd und Schand, dass man sie nicht gleich isst!“ Lief zum Fenster, ob der Herr mit dem Gast noch nicht käm, aber es sah niemand, stellte sich wieder zu den Hühnern und dachte: „Der eine Flügel verbrennt, besser ist’s, ich ess ihn weg.“ Also schnitt es ihn ab und aß ihn auf, und er schmeckte ihm; und wie es damit fertig war, dachte es: „Der andere muss auch herab, sonst merkt der Herr, dass etwas fehlt.“ Wie die zwei Flügel verzehrt waren, ging es wieder und schaute nach dem Herrn und sah ihn nicht. „Wer weiß“, fiel ihm ein, „sie kommen wohl gar nicht und sind wo eingekehrt.“
Da sprach’s: „Hei, Gretel, sei guter Dinge, das eine ist doch angegriffen, tu noch einen frischen Trunk und iss es vollends auf, wenn’s all ist, hast du Ruhe, warum soll die gute Gottesgabe umkommen?“ Also lief es noch einmal in den Keller, tat einen ehrbaren Trunk und aß das eine Huhn in aller Freudigkeit auf. Wie das eine Huhn hinunter war und der Herr noch immer nicht kam, sah Gretel das andere an und sprach: „Wo das eine ist, muss das andere auch sein, die zwei gehören zusammen, was dem einen recht ist, das ist dem andern billig; ich glaube, wenn ich noch einen Trunk tue, so sollte mir’s nicht schaden.“ Also tat es noch einen herzhaften Trunk und ließ das zweite Huhn wieder zum andern laufen.
Wie es so im besten Essen war, kam der Herr daher gegangen und rief: „Eil dich, Gretel, der Gast kommt gleich.“
„Ja, Herr, will’s schon zurichten“, antwortete Gretel. Der Herr sah indessen, ob der Tisch wohl gedeckt war, nahm das große Messer, womit er die Hühner zerschneiden wollte, und wetzte es auf dem Gang. Indem kam der Gast, klopfte sittig und höflich an der Haustüre. Gretel lief und schaute, wer da war, und als es den Gast sah, hielt es den Finger an den Mund und sprach: „Still! Still, macht geschwind, dass Ihr wieder fortkommt, wenn Euch mein Herr erwischt, so seid Ihr unglücklich; er hat Euch zwar zum Nachtessen eingeladen, aber er hat nichts anders im Sinn, als Euch die beiden Ohren abzuschneiden. Hört nur, wie er das Messer dazu wetzt.“ Der Gast hörte das Wetzen und eilte, was er konnte, die Stiegen wieder hinab. Gretel war nicht faul, lief schreiend zum Herrn und rief: „Da habt Ihr einen schönen Gast eingeladen!“
„Ei, warum Gretel? Was meinst du damit?“
„Ja“, sagte es, „der hat mir beide Hühner, die ich eben auftragen wollte, von der Schüssel genommen und ist damit fortgelaufen.“
„Das ist feine Weise!“, sprach der Herr und ward ihm leid um die schönen Hühner. „Wenn er mit dann wenigstens das eine gelassen hätte, damit mir was zu essen geblieben wäre.“ Er rief ihm nach, er solle bleiben, aber der Gast tat, als hörte er es nicht. Da lief er hinter ihm her, das Messer noch immer in der Hand und schrie: „Nur eins! Nur eins!“, und meinte, der Gast sollte ihm nur ein Huhn lassen und nicht alle beide nehmen; der Gast aber meinte nicht anders, als er solle eins von seinen Ohren hergeben und lief, als wenn Feuer unter ihm brennte, damit er sie beide heimbrächte.

Schneewittchen

Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie dichte Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin in ihrem Schloss an einem Fenster, das einen Rahmen aus schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und als sie so nähte und hinausblickte in den Schnee, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut hinunter in den Schnee. Weil das Rot im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: "Hätte ich doch ein Kind - so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz." Bald danach schenkte ihr der liebe Gott eine Tochter, und das Mädchen war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und hatte Haare, die waren so schwarz wie Ebenholz. Es wurde Schneewittchen genannt. Kaum aber war das Kind geboren, da starb die Königin.
N ach einem Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau aber sie war stolz und hochmütig und wollte es nicht dulden, dass eine andere sie an Schönheit übertreffe. Sie besaß einen wundersamen Spiegel. Wenn sie vor ihn trat, um sich darin zu beschauen, sprach sie immer:
"Spieglein, Spieglein, an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?"

Da antwortete der Spiegel:
"Frau Königin, ihr seid die Schönste im Land.“
Das war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte.
Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als die stolze Frau einmal ihren Spiegel fragte:
"Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"
antwortete er:
"Frau Königin, ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als ihr."

Da erschrak die Königin und wurde gelb und grün vor Neid. Von Stunde an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so hasste sie das Mädchen. Und der Neid und der Hochmut wuchsen wie Unkraut in ihrem Herzen, so dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Endlich rief sie einen ihrer Jäger und sprach zu ihm: "Führ’ das Kind hinaus in den Wald. Ich will es nicht mehr vor meinen Augen sehen. Töte es. Als Wahrzeichen aber bringe mir Lunge und Leber des Kindes."
Der Jäger gehorchte und führte das Mädchen hinaus. Als er aber den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing das Mädchen zu weinen an und sprach: "Ach lieber Jäger, lass mir mein Leben. Ich will fortlaufen in den wilden Wald und will auch nimmermehr heimkommen."
Weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleid mit ihm und sprach: "So flieh, du armes Kind."
Bei sich aber dachte er: "Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben", und doch war es ihm, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gewälzt worden, weil er das Mädchen nicht hatte töten müssen. Und da gerade ein junges Wildschwein dahergesprungen kam, stach er es ab, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin. Der Koch musste beides salzen und kochen, und das boshafte Weib aß es auf und meinte, sie habe Schneewittchens Lunge und Leber gegessen.
Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelenallein. So angst war ihm, dass es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wusste, wie es sich helfen solle. Da fing es zu laufen an über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere, die ihm begegneten, sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. So lief es den ganzen Tag, bis es Abend wurde. Da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, um sich auszuruhen. In dem Haus war alles winzig klein und zierlich und reinlich. Ein weiß gedecktes Tischlein stand in der Stube mit sieben kleinen Tellern, und bei jedem Teller lag ein winziger Löffel, ein winziges Messer und eine winzige Gabel und stand ein winziger Becher. An der Wand waren sieben kleine Betten nebeneinander aufgestellt und mit schneeweißen Laken bedeckt. Weil es so hungrig und durstig war, aß Schneewittchen von jedem Tellerlein und trank aus jedem der winzigen Becher einen Tropfen Wein. Und weil es müde war, legte es sich danach in eines der winzigen Bettchen, aber keines wollte recht passen, bis endlich das siebte recht war. Und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein.
Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren des Häusleins. Es waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und als es nun hell in dem winzigen Hause wurde, entdeckten sie, dass jemand darin gewesen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten.
Der erste Zwerg sprach: "Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?"
Der zweite: "Wer hat "'Von meinem Tellerchen gegessen?"
Der dritte: "Wer hat von meinem Brötchen genommen?"
Der vierte: "'Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?" Der fünfte: "Wer hat mit meinem Gäbelein gestochen?'· Der Sechste: "Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?"
Der siebte: "Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?"
Dann sah sich der erste um und bemerkte, dass in seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er: "Wer hat mir mein Bettchen zerdrückt?"
Die anderen kamen auch herbeigelaufen und riefen: "Auch in dem meinen hat jemand gelegen."
Als der siebte aber in sein Bett sah, erblickte er Schneewittchen, das darin lag und schlief. Er rief die anderen herbei. Verwundert holten sie ihre sieben Lichtlein und leuchteten dem Mädchen ins Gesicht.
"Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!" riefen sie, "was ist das Kind so schön!" und hatten so große Freude an ihm, dass sie es nicht aufweckten, sondern weiterschlafen ließen. Der siebte Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum.
Frühmorgens erwachte Schneewittchen, und als es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich zu ihm und fragten: "Wie heißt du?"
"Ich heiße Schneewittchen", sagte es.
"Und wie bist du in unser Haus gekommen?"
Da erzählte es ihnen, dass seine böse Stiefmutter es habe umbringen lassen wollen, der Jäger aber habe ihm das Leben geschenkt, und dann sei es den ganzen Tag gelaufen, bis es endlich das Häuslein gefunden habe.
"Ei", sprachen die Zwerge, "willst du unseren Haushalt versorgen, willst kochen, betten, waschen, nähen und stricken und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen."
"Von Herzen gern", erwiderte Schneewittchen, und so blieb das Mädchen bei den sieben Zwergen. Wie sie es gewünscht hatten, hielt Schneewittchen ihnen das Haus in Ordnung. Morgens gingen die Zwerge zu den Bergen und suchten Erz und Gold, und abends kamen sie wieder, und dann musste das Essen bereitstehen. Weil das Mädchen den Tag über allein war, warnten es die guten Zwerge und sprachen: "Hüte dich vor deiner Stiefmutter. Bald wird sie wissen, dass du hier bist. Lass also niemand ins Haus herein."
Die Königin aber, nachdem sie des Glaubens war, dass sie Schneewittchens Lunge und Leber gegessen habe, dachte zu dieser Zeit nichts anderes, als dass sie wieder die erste und allerschönste Frau im Lande sei. Sie trat vor den Spiegel und sprach:
"Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"

Da antwortete der Spiegel:
"Frau Königin, ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als ihr."

Wie erschrak sie darüber! Jetzt wusste sie, dass sie ihr Jäger betrogen hatte, denn der Spiegel sprach keine Unwahrheit. Schneewittchen war also noch am Leben. Sie begann zu sinnen und immer aufs neue zu sinnen, wie sie das Mädchen loswerden könne, denn solange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Endlich hatte sie sich etwas ausgedacht. Sie färbte sich das Gesicht und kleidete sich wie eine alte Krämerin und war damit ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe ihres Häusleins und rief: "Schöne Ware feil, schöne Ware feil!"
Schneewittchen schaute zum Fenster heraus. "Guten Tag, liebe Frau", sagte sie, "was habt ihr denn zu verkaufen?" "Gute Ware, schöne Ware", antwortete die Falsche, "Schnürriemen in allen Farben", und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war.
"Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen", dachte Schneewittchen. Sie riege1te die Ture auf, ließ die Alte herein und kaufte den hübschen Schnürriemen.
"Liebes Kind", sprach die falsche Trödlerin, "wie siehst du nur aus! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren."
Schneewittchen dachte an nichts Böses und ließ sich mit dem neuen Riemen schnüren, aber die böse Krämerin schnürte sie so fest, dass dem Schneewittchen der Atem verging und es wie tot niederfiel.
"Nun bist du die Schönste gewesen", höhnte die böse Stiefmutter und eilte hinaus.
Zur Abendzeit kamen die sieben Zwerge nach Haus, aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Schneewittchen auf der Erde liegen sahen. Es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, dass es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei. Da fing es ein wenig zu atmen an und kehrte allmählich wieder ins Leben zurück. Als die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie: "Die alte Krämerin war niemand anders als deine Stiefmutter, die gottlose Königin. Hüte dich und lass keinen Menschen herein, wenn wir nicht zu Hause sind."
Das böse Weib aber, als es nach Hause gekommen war, trat vor den Spiegel und fragte:
"Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"

Da antwortete der Spiegel wie zuvor:
"Frau Königin, ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als ihr."

Sie erschrak so sehr darüber, dass ihr alles Blut zum Herzen schoss. Schneewittchen war also am Leben geblieben! "Ich will etwas aussinnen", dachte sie, "das dich zugrunde richten soll, Schneewittchen." Weil sie die Hexenkünste verstand, verfertigte sie einen giftigen Kamm. Dann verkleidete sie sich erneut und nahm die Gestalt eines anderen alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe des Häusleins und rief: "Gute Ware feil, gute Ware feil!"
Schneewittchen schaute heraus und sprach: "Geht nur weiter, gute Alte, ich darf niemand hereinlassen."
"Aber ansehen wirst du meine Ware doch können", erwiderte die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Er gefiel dem Mädchen so gut, dass es sich auch dieses Mal betören ließ und die Türe öffnete.
"Ich will dich damit ordentlich kämmen", sagte das böse Weib, als Schneewittchen den Kamm erstanden hatte. Das arme Mädchen dachte an nichts Böses und ließ die Alte gewähren. Kaum hatte sie aber den Kamm in die Haare gesteckt, da wirkte das Gift des Kammes, so dass das Mädchen besinnungslos niederfiel.
"Warte, du Ausbund von Schönheit", höhnte das böse Weib, "jetzt ist es um dich geschehen." Eilends verließ sie das Haus. Zum Glück aber war es bald Abend.
Als die sieben Zwerglein heimkehrten und Schneewittchen wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter im Verdacht, suchten nach und fanden den giftigen Kamm. Kaum hatten sie ihn herausgezogen, kam auch Schneewittchen wieder zu sich und erzählte ihnen, was geschehen war. Da warnten sie es noch einmal und baten es, doch ja auf seiner Hut zu sein und niemand die Türe zu öffnen.
Mittlerweile hatte sich die böse Königin daheim vor den Spiegel gestellt. Und wieder sprach sie:
"Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?"

Da antwortete er wie zuvor:
"Frau Königin, ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist doch noch tausendmal schöner als ihr."

Sie zitterte und bebte vor Zorn, als sie den Spiegel so reden hörte. "Und wenn es mein eigenes Leben kostet", rief sie, "so muss Schneewittchen sterben!" Darauf ging sie in eine ganz verborgene Kammer, wo niemand außer ihr hinein durfte, nahm einen Apfel und vergiftete ihn zur Hälfte. Dann färbte sie sich das Gesicht, verkleidete sich als Bauersfrau und ging so über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an, Schneewittchen streckte den Kopf zum Fenster hinaus und sprach: "Liebe Frau, ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir's verboten."
"Mir auch recht", antwortete die Bäuerin, "meine Apfel werde ich auch anderswo los. Aber einen will ich dir schenken."
"Nein", erwiderte Schneewittchen, "ich darf nichts annehmen."
"Fürchtest du dich vor Gift?", sprach die Alte, "siehst du, hier schneide ich den Apfel in zwei Teile. Die rote Hälfte isst du, die weiße will ich essen."
Aber gerade die rote Hälfte war vergiftet. Als Schneewittchen sah, dass die Bäuerin von dem Apfel aß, konnte sie nicht länger widerstehen, sie streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon über die Lippen gebracht, so fiel es tot zur Erde nieder.
Da betrachtete es die Königin mit grausigem Blick und lachte überlaut und sprach: "Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken."
Als sie daheim den Spiegel befragte:
"Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?" da anwortete er endlich:
"Frau Königin, ihr seid die Schönste im Land."

Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, soviel ein neidisches Herz Ruhe haben kann.
Des Abends, als die Zwerge nach Hause kamen, fanden sie Schneewittchen auf der Erde liegen. Es atmete nicht mehr, denn es war tot. Sie hoben es auf, suchten, ob sie etwas Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und mit Wein, aber es half alles nichts. Das liebe Kind war tot und blieb tot. Darauf legten sie es auf eine Bahre und setzten sich alle sieben darum und beweinten es und weinten drei Tage lang. Danach wollten sie es begraben, aber es sah so frisch aus, als lebte es noch immer und hatte noch immer seine schönen, roten Wangen. Da sprachen sie: "So können wir Schneewittchen nicht in die schwarze Erde versenken." Sie ließen einen Sarg aus Glas machen, dass man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf und dass es eine Königstochter war. Dann stellten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn, und die Tiere kamen auch und beweinten Schneewittchen, erst eine Eule, dann ein Rabe und zuletzt ein Täubchen.
Lange, lange lag Schneewittchen so im Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als ob es schliefe, denn es war noch so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und hatte Haare so schwarz wie Ebenholz. Es geschah aber, dass ein Königssohn in den Wald geritten und zum Zwerghaus kam, um dort zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Schneewittchen darin und las auch, was mit goldenen Buchstaben auf den Sarg geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen: "Lasst mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt." Aber die Zwerge antworteten: "Wir geben ihn nicht um alles Gold in der Welt."
"Ihr Zwerge", erwiderte er, "schenkt mir ihn, denn ich kann nicht mehr leben, ohne Schneewittchen zu sehen. Ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes." Als er so sprach, empfanden die guten Zwerge Mitleid mit ihm und schenkten ihm den Sarg. Darauf ließ ihn der Königssohn von seinen Dienern forttragen. Da geschah es, dass einer von den Dienern stolperte. Von dem Stoße aber fuhr der giftige Apfelschnitz, den Schneewittchen abgebissen hatte und der ihr im Halse steckengeblieben war, unvermutet heraus. Und nicht lange danach, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe, richtete sich auf und war wieder lebendig.
"Ach Gott, wo bin ich?", rief es.
Voller Freude sagte der Königssohn: "Du bist bei mir, Schneewittchen", und erzählte ihm alles, was sich zugetragen hatte. Darauf fuhr er fort: "Komm mit mir in meines Vaters Schloss. Ich habe dich lieber als alles auf der Welt. Du sollst meine Gemahlin werden."
Da ging Schneewittchen mit ihm und war ihm gut, und eine Hochzeit wurde vorbereitet. Zu dem Feste wurde auch Schneewittchens Stiefmutter eingeladen. Als sie ihre schönsten Kleider angelegt hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"

Der Spiegel antwortete:
"Frau Königin ihr seid die Schönste hier,
aber die junge Königin ist tausendmal schöner als ihr."

Da stieß das böse Weib einen Fluch aus, und sie wollte zuerst gar nicht zur Hochzeit gehen. Doch ließ es ihr keine Ruhe; sie musste fort und die junge Königin sehen. Als sie in den Saal des Schlosses trat, sah sie Schneewittchen stehen und auch die sieben Zwerge, die von ihrem Häuslein hinter den sieben Bergen zur Feier gekommen waren.
Vor Angst und Schrecken blieb die böse Stiefmutter stehen und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über ein Kohlenfeuer gestellt worden, und diese Pantoffeln wurden nun mit Zangen vor sie hingetragen. Da musste sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange darin tanzen, bis sie tot zur Erde fiel. Schneewittchen aber und ihr Gemahl lebten weiter in Freude und Glück und immer, wenn sie hinaus zum Jagen ritten, versäumten sie es nicht, an der Türe des Häusleins von den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen anzuklopfen.

Die weiße Schlange

Es ist nun schon lange her, da lebte ein König, dessen Weisheit im ganzen Lande berühmt war, als ob ihm die Nachricht von den verborgensten Dingen durch die Luft zugetragen würde. Er hatte aber eine seltsame Sitte. Jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, musste ein vertrauter Diener noch eine Schüssel bringen. Sie war aber zugedeckt, und der Diener wusste selbst nicht, was darin lag, und kein Mensch wusste es, denn der König decke sie nicht eher auf und aß nicht davon, bis er ganz allein war. Das hatte schon lange Zeit gedauert, da überkam eines Tages den Diener, der die Schüssel wieder wegtrug, die Neugierde, dass er nicht widerstehen konnte, sondern die Schüssel in seine Kammer brachte. Als er die Tür sorgfältig verschlossen hatte, hob er den Deckel auf, und da sah er, dass eine weiße Schlange darin lag. Bei ihrem Anblick konnte er die Lust nicht zurückhalten, sie zu kosten; er schnitt ein Stückchen davon ab und steckte es in den Mund. Kaum aer hatte es seine Zunge berührt, so hörte er vor seinem Fenster ein seltsames Gewisper von feinen Stimmen. Er ging hin und horchte; da merkte er, dass es die Sperlinge waren, die miteinander sprachen und sich allerlei erzählten, was sie im Felde und Walde gesehen hatten. Der Genuss der Schlange hatte ihm die Fähigkeit verliehen, die Sprache der Tiere zu verstehen.
Nun trug es sich zu, dass gerade an diesem Tage der Königin ihr schönster Ring fort kam und auf den vertrauten Diener, der überall Zugang hatte, der Verdacht fiel, er habe ihn gestohlen. Der König ließ ihn vor sich kommen, und drohte ihm unter heftigen Scheltworten, wenn er bis morgen den Täter nicht zu nennen wüsste, so sollte er dafür angesehen und gerichtet werden. Es half nichts, dass er seine Unschuld beteuerte, er ward mit keinem bessern Bescheid entlassen. In seiner Unruhe und Angst ging er hinab auf den Hof und bedachte, wie er sich aus seiner Not helfen könne. Da saßen die Enten an einem fließenden Wasser friedlich nebeneinander und ruhten, sie putzten sich mit ihren Schnäbeln glatt und hielten ein vertrauliches Gespräch. Der Diener blieb stehen und hörte ihnen zu. Sie erzählten sich, wo sie heute morgen all herumgewackelt wären und was für ein gutes Futter sie gefunden hätten. Da sagte eine verdrießlich: „Mir liegt etwas schwer im Magen, ich habe einen Ring, der unter der Königin Fenster lag, in der Hast mit hinuntergeschluckt.“ Da packte sie der Diener gleich beim Kragen, trug sie in die Küche und sprach zum Koch: „Schlachte doch diese ab, sie ist wohlgenährt.“
„Ja“, sagte der Koch und wog sie in der Hand, „die hat keine Mühe gescheut, sich zu mästen, und schon lange darauf gewartet, gebraten zu werden.“ Er schnitt ihr den Hals ab und als sie ausgenommen ward, fand sich der Ring der Königin in ihrem Magen. Der Diener konnte nun leicht vor dem König seine Unschuld beweisen, und da dieser sein Unrecht wieder gutmachen wollte, erlaubte er ihm, sich eine Gnade auszubitten, und versprach ihm die größte Ehrenstelle, die er sich an seinem Hofe wünschte.
Der Diener schlug alles aus und bat nur um ein Pferd und Reisegeld, denn er hatte Lust, die Welt zu sehen und eine Weile darin herumzuziehen. Als seine Bitte erfüllt war, machte er sich auf den Weg, und kam eines Tages an einem Teich vorbei, wo er drei Fische bemerkte, die sich im Rohr gefangen hatten und nach Wasser schnappten. Obgleich man sagt, die Fische wären stumm, so vernahm er doch ihre Klage, dass sie so elend umkommen müssten. Weil er ein mitleidiges Herz hatte, so stieg er vom Pferde ab und setzte die drei Gefangenen wieder ins Wasser. Sie zappelten vor Freude, streckten die Köpfe heraus und riefen ihm zu: „Wir wollen dir’s gedenken und dir’s vergelten, dass du uns errettet hast!“ Er ritt weiter, und nach einem Weilchen kam es ihm vor, als hörte er zu seinen Füßen in dem Sand eine Stimme. Er horchte, und vernahm, wie ein Ame4isenkönig klagte: „Wenn uns nur die Menschen mit den ungeschickten Tieren vom Leib blieben! Da tritt mir das dumme Pferd mit seinen schweren Hufen meine Leute ohne Barmherzigkeit nieder! Er lenkte auf einen Seitenweg ein, und der Ameisenkönig rief ihm zu: „Wir werden dir’s gedenken und dir’s vergelten!“ Der Weg führte ihn in einen Wald, und da sah er einen Rabenvater und eine Rabenmutter, die standen bei ihrem Nest und warfen ihre Jungen heraus. „Fort mit euch, ihr Galgenschwengel“, riefen sie, „wir können euch nicht mehr sattmachen, ihr seid groß genug und könnt euch selbst ernähren!“ Die armen Jungen lagen auf der Erde, flatterten und schlugen mit ihren Fittichen und schrien: „Wir hilflosen Kinder, wir sollen uns selbst ernähren und können noch nicht fliegen! Was bleibt uns übrig, als hier Hungers zu sterben!“ Da stieg der gute Jüngling ab, tötete das Pferd mit seinem Degen und überließ es den jungen Raben zum Futter. Die kamen herbeigehüpft, sättigten sich und riefen: „Wir wollen dir’s gedenken und dir’s vergelten.“
Er musste jetzt seine eigenen Beine gebrauchen, und als er lange Wege gegangen war, kam er in eine große Stadt. Da war großer Lärm und Gedränge in den Straßen, und kam einer zu Pferde und machte bekannt, „die Königstochter suche einen Gemahl; wer sich aber um sie bewerben wolle, der müsse eine schwere Aufgabe vollbringen, und könne er es nicht glücklich ausführen, so habe er sein Leben verwirkt.“ Viele hatten es schon versucht, aber vergeblich ihr Leben daran gesetzt. Der Jüngling, als er die Königstochter sah, ward er von ihrer großen Schönheit so verblendet, dass er alle Gefahr vergaß, vor den König trat und sich als Freier meldete.
Alsbald ward er hinaus ans Meer geführt und vor seinen Augen ein goldener Ring hineingeworfen. Dann hieß ihn der König, diesen Ring aus dem Meeresgrund wieder hervorzuholen, und fügte hinzu: „Wenn du ohne ihn wieder in die Höhe kommst, so wirst du immer aufs neue hinabgestürzt, bis du in den Wellen umkommst.“ Alle bedauerten den schönen Jüngling und ließen ihn dann einsam am Meere zurück. Er stand am Ufer und überlegte, was er wohl tun sollte. Da sah er auf einmal drei Fische daher schwimmen, und es waren keine andern, als jene, welchen er das Leben gerettet hatte. Der vorderste hielt einen Ring im Munde, den er an den Strand zu den Füßen des Jünglings hinlegte. Voll Freude brachte er ihn dem König, und erwartete, dass er ihm den verheißenen Lohn gewähren würde. Die stolze Königstochter aber, als sie vernahm, dass er ihr nicht ebenbürtig war, verschmähte ihn und verlangte, er solle zuvor eine zweite Aufgabe lösen. Sie ging hinab in den Garten und streue selbst zehn Säcke voll Hirsen ins Gras. „Die muss er morgen, eh’ die Sonne hervorkommt, aufgelesen haben“, sprach sie, „und darf kein Körnchen fehlen.“ Der Jüngling setzte sich in den Garten und dachte nach, wie es möglich wäre, die Aufgabe zu lösen, aber er konnte nichts ersinnen, saß da ganz traurig, und erwartete, bei Anbruch des Morgens zum Tode geführt zu werden. Als aber die ersten Sonnenstrahlen in den Garten fielen, so sah er die zehn Säcke, alle wohl gefüllt, nebeneinander stehen, und kein Körnchen fehlte darin. Der Ameisenkönig war mit seinen tausend und tausend Ameisen in der Nacht angekommen, und die dankbaren Tiere hatten den Hirsen mit großer Emsigkeit gelesen und in die Säcke gesammelt. Die Königstochter kam selbst in den Garten herab, und sah mit Verwunderung, dass der Jüngling vollbracht hatte, was ihm aufgegeben war. Aber sie konnte ihr stolzes Herz noch nicht bezwingen und sprach: „Hat er auch die beiden Aufgaben gelöst, so soll er doch nicht eher mein Gemahl werden, bis er mir einen Apfel vom Baume des Lebens gebracht hat.“ Der Jüngling wusste nicht, wo der Baum des Lebens stand, er machte sich auf und wollte immerzu gehen, so lange ihn seine Beine trügen, aber er hatte keine Hoffnung, ihn zu finden. Als er schon durch drei Königreiche gewandert war und abends in einen Wald kam, setzte er sich unter einen Baum und wollte schlafen: da hörte er in den Ästen ein Geräusch und ein goldener Apfel fiel in seine Hand. Zugleich flogen drei Raben zu ihm herab, setzten sich auf seine Knie und sagten: „Wir sind die drei jungen Raben, die du vom Hungertod errettet hast; als wir groß geworden waren und hörten, dass du den goldenen Apfel suchtest, so sind wir über das Meer geflogen bis ans Ende der Welt, wo der Baum des Lebens steht, und haben dir den Apfel geholt. Voll Freude machte sich der Jüngling auf den Heimweg und brachte der schönen Königstochter den Apfel des Lebens und aßen ihn zusammen; da ward ihr Herz mit Liebe zu ihm erfüllt, und sie erreichten in ungestörtem Glück ein hohes Alter.

Das Tränenkrüglein

Einer jungen Frau war das einzige Kind gestorben. Sie weinte über alle Maßen und konnte sich gar nicht trösten. Jede Nacht lief sie hinaus auf das Grab und jammerte, dass es die Steine hätte erbarmen mögen. Nun sah sie einmal in der Nacht einen Zug von Kindern vorüberziehen. Ganz hinterdrein aber lief ein kleines Ding mit einem ganz durchnässten Hemdchen angetan. Das Kindlein trug in der Hand einen Krug mit Wasser. Es war ganz matt geworden und konnte den andern nicht folgen. Ängstlich blieb es vor einem Zaun stehen, über den die anderen Kinder kletterten.
Die Mutter erkannte in diesem Augenblick ihr Kind, eilte hinzu und hob es über den Zaun.
Während sie es so in den Armen hielt, sprach das Kind: „Du weinst mir meinen Krug sonst zu schwer und voll. Da sieh, ich habe schon mein ganzes Hemdchen damit beschüttet.“
Da weinte sich die Mutter noch einmal herzlich aus und dann nimmermehr.

Die goldene Gans

Ein Mann hatte drei Söhne, von denen zwei als klug und vernünftig galten. Den Jüngsten aber nannte man den Dummling, weil er einfältigen Herzens war. Einmal geschah es, dass der älteste in den Wald gehen wollte, um Holz zu hauen. Ehe er ging, gab ihm seine Mutter noch einen schönen feinen Eierkuchen mit und eine Flasche Wein, damit er nicht Hunger und Durst erleiden müsse. Als er in den Wald kam begegnete ihm ein altes, graues Männlein. Das Männlein bot ihm einen Guten Tag und sprach: "Gib mir ein Stück von deinem Eierkuchen und lass mich einen Schluck aus deiner Flasche trinken, denn ich bin hungrig und durstig."
Aber der Kluge antwortete: "Wenn ich dir meinen Kuchen gebe und meinen Wein, so habe ich selber nichts. Pack dich also", und ließ das Männlein stehen und ging seines Weges. Als er danach anfing, einen Baum zu schlagen, dauerte es nicht lange, und er hieb fehl. Statt in den Baum fuhr ihm die Axt in den Arm, so dass er heimgehen musste.
Darauf ging der zweite Sohn in den Wald, und wie dem Ältesten gab die Mutter auch ihm einen Eierkuchen mit und eine Flasche Wein. Dem zweiten Sohn begegnete gleichfalls das alte, graue Männchen und bat ihn um ein Stück seines Eierkuchens und einen Trunk Wein. Aber der zweite Sohn sprach: "Was ich dir gebe, das geht mir selber ab, pack dich also", und ließ das Männlein stehen und ging seines Weges. Die Strafe blieb nicht aus. Als er ein paar Hiebe am Baum getan hatte, hieb er sich ins Bein, so dass er nach Haus getragen werden musste.
Da sagte der Dummling: "Vater, lass mich einmal hinaus und Holz hauen."
"Deine Brüder", antwortete der Vater, "sind zu Schaden dabei gekommen. Lass davon ab, denn du verstehst nichts davon."
Der Dummling aber bat so lange, bis der Vater endlich sagte: "So geh hinaus; durch Schaden wirst du klug."
Darauf gab ihm die Mutter einen Kuchen, aber er war mit Wasser in der Asche gebacken, und dazu reichte sie ihm noch eine Flasche saures Bier. Als er in den Wald kam, begegnete ihm gleichfalls das alte, graue Männchen, grüßte ihn und sprach: "Gib mir ein Stück von deinem Kuchen und einen Trunk aus deiner Flasche, denn ich bin hungrig und durstig."
"Ich habe aber nur Aschenkuchen und saures Bier", erwiderte der Dummling, "wenn dir das recht ist, so wollen wir uns setzen und essen."
Sie setzten sich also nieder, und als der Dummling seinen Aschenkuchen herausholte, war aus ihm ein feiner Eierkuchen geworden, und das saure Bier hatte sich in guten Wein verwandelt. Nun aßen und tranken sie. Danach aber sprach das Männlein: "Weil du ein gutes Herz hast und von dem deinigen gerne schenktest, will ich dir Glück bescheren. Dort steht ein alter Baum; hau ihn ab, so wirst du in den Wurzeln etwas finden, was dir Freude machen wird." Darauf nahm das Männlein Abschied.
Der Dummling ging hin und fällte den Baum. Als der Baum niederfiel, saß in den Wurzeln eine Gans mit Federn aus reinem Gold. Er hob sie heraus und nahm sie mit. Unterwegs kam er an einem Wirtshaus vorbei. Als die drei Töchter des Wirtes die Gans bemerkten, wurden sie neugierig, denn es schien ihnen ein gar zu wunderlicher Vogel, was der Dummling da unter dem Arme trug, und sie hätten zu gerne eine von den goldenen Federn gehabt.
Die Älteste dachte: "Eine Gelegenheit wird sich schon finden, wo ich mir eine Feder ausziehen kann." Als der Dummling einmal hinausgegangen war, fasste sie die Gans beim Flügel, aber Finger und Hand blieben ihr daran hängen. Bald danach kam die zweite herbei und hatte auch keinen anderen Gedanken, als sich eine goldene Feder zu holen. Kaum aber hatte sie ihre Schwester berührt, so blieb sie an ihr hängen. Danach kam auch die dritte mit der gleichen Absicht. Da schrien die bei den andern: "Bleib weg, um Himmels Willen, bleib weg!" Aber die dritte begriff nicht, warum sie wegbleiben solle und dachte: "Sind die dabei, so kann ich auch dabei sein." Kaum hatte sie jedoch ihre zweite Schwester angerührt, so blieb sie an ihr hängen. Auf diese Weise mussten alle drei die Nacht bei der Gans verbringen.
Am andern Morgen nahm der Dummling die Gans unter den Arm, ging fort und kümmerte sich nicht um die drei Mädchen, die daran klebten. Sie mussten immer hinter ihm drein laufen, gerade so, wie es ihm in die Beine kam. Mitten auf dem Felde begegnete ihnen der Pfarrer. "Schämt ihr euch nicht, ihr garstigen Mädchen", rief er erzürnt, "was lauft ihr dem jungen Burschen durch die Felder nach? Schickt sich das?" Er fasste die Jüngste an der Hand, um sie zurückzuziehen. Kaum aber hatte er sie berührt, so blieb er gleichfalls hängen und musste selber hinterdreinlaufen. Nicht lange danach begegnete ihnen der Mesner. Verwundert sah er den Herrn Pfarrer und die drei Mädchen, denen er auf dem Fuße folgte. "Ei, Herr Pfarrer", rief er, "wo hinaus so geschwind? Vergesst nicht, dass wir heute noch eine Kindstaufe haben." Er lief auf ihn zu und fasste ihn am Rockärmel, blieb aber auch fest hängen. Als die fünf so hintereinander hertrabten, kamen zwei Bauern mit ihren Hacken vom Feld. Da rief sie der Pfarrer herbei und bat, sie möchten ihn und den Mesner befreien. Kaum aber hatten sie den Mesner angerührt, so blieben sie hängen und waren ihrer nun sieben, die dem Dummling mit der Gans nachliefen.
Wenig danach kamen sie in eine Stadt. Dort herrschte ein König, der eine so ernsthafte Tochter hatte, dass sie niemand zum Lachen bringen konnte. Er hatte deshalb ein Gesetz erlassen: wer sie zum Lachen bringen könne, der dürfe sie heiraten. Als der Dummling das hörte, ging er mit seiner Gans und ihrem Anhang ins Schloss und verlangte, vor die Königstochter geführt zu werden. Wie die Prinzessin die sieben Menschen immer hintereinander herlaufen sah, fing sie so sehr zu lachen an, dass sie gar nicht mehr aufhören wollte. Da verlangte sie der Dummling zur Frau, aber dem König gefiel der Schwiegersohn nicht. Er machte allerlei Einwendungen und sagte: "Bringe mir erst einen Mann, der einen Keller voll Wein austrinken kann." Der Dummling dachte an das graue Männchen, ging den Weg zurück, den er hergekommen war, und hinaus in den Wald. Auf der Stelle, wo er den Baum geschlagen hatte, sah er einen Mann sitzen mit einem ganz betrübten Gesicht. Der Dummling fragte ihn, was er sich denn so sehr zu Herzen nehme. Darauf antwortete der Mann: "Ich habe einen Riesendurst und kann ihn nicht löschen, denn kaltes Wasser vertrage ich nicht. Ein Fass Wein habe ich zwar schon ausgetrunken, aber was ist ein Tropfen auf einen heißen Stein!"
"Da kann ich dir helfen", erwiderte der Dummling, "komm nur mit mir, du sollst deinen Durst schon löschen."
Er führte ihn darauf in des Königs Keller, und der Mann machte sich über die großen Fässer und trank und trank, bis ihm die Hüften wehtaten. Ehe ein Tag herum war, hatte er den ganzen Keller leer getrunken. Abermals verlangte der Dummling die Prinzessin zur Frau, aber der König ärgerte sich, dass ein solch einfältiger Bursche, den jedermann einen Dummling nannte, seine Tochter erringen sollte, und stellte neue Bedingungen. "Schaff mir erst einen Mann herbei", sagte er, "der einen Berg voll Brot aufessen kann." Der Dummling besann sich nicht lange. Sogleich kehrte er zurück in den Wald, wo er dem Männlein begegnet war. Just auf demselben Platze saß ein Mann, der sich den Leib mit einem Riemen zusammenschnürte und ein gramvolles Gesicht schnitt und sagte: "Ich habe einen ganzen Backofen voll Raspelbrot gegessen, aber was hilft das, wenn man solch großen Hunger hat wie ich. Mein Magen bleibt leer, und ich muss mich einschnüren, wenn ich nicht Hungers sterben will."
Der Dummling war froh darüber. "Mach dich auf und geh mit mir", entgegnete er, "du sollst dich satt essen." Er führte ihn zum Hof des Schlosses. Dort hatte der König alles Mehl aus seinem Reich zusammenfahren und zu einem ungeheuren Berg zusammenbacken lassen. Der Mann aber aus dem Walde stellte sich davor, fing zu essen an, und in einem Tag war der ganze Berg verschwunden. Zum dritten Mal forderte der Dummling die Königstochter. Der König aber suchte wieder nach einer Ausflucht und verlangte ein Schiff, das zu Land und zu Wasser fahren könne. "Sobald du damit angesegelt kommst", so sprach er, "sollst du meine Tochter zur Gemahlin haben." Der Dummling ging geradewegs in den Wald. Dort saß das alte, graue Männchen, dem er seinen Kuchen gegeben hatte und sagte: "Du hast mir zu essen und zu trinken gegeben, ich will dir deshalb auch das Schiff geben, das der König von dir fordert. Das alles tue ich, weil du barmherzig zu mir gewesen bist." Darauf gab er ihm das Schiff, das zu Lande und zu Wasser fahren konnte, und als der König das Fahrzeug sah, konnte er seine Tochter nicht länger zurückhalten. Die Hochzeit wurde gefeiert, und nach des Königs Tod erbte der Dummling das Reich und lebte von da an noch lange Zeit vergnügt mit seiner Gemahlin.

Brüderchen und Schwesterchen

"Seit die Mutter tot ist", sagte das Brüderchen und nahm sein Schwesterchen an der Hand, "haben wir keine gute Stunde mehr. Unsere Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns fort. Die harten Brotkrusten, die übrigbleiben, sind unsere Speise. Fürwahr, dem Hündchen unter dem Tisch geht's besser, dem wirft sie doch manchmal einen guten Bissen zu. Ach, dass Gott erbarm, wenn das unsere Mutter wüsste! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen."
Den ganzen Tag wanderten sie über Wiesen, Felder und Steine, und wenn es regnete, sprach das Schwesterchen: "Gott und unsere Herzen weinen zusammen." Abends kamen sie in einen großen Wald und waren so müde vor Jammer, Hunger und dem langen Weg, dass sie sich in einen hohlen Baum setzten und bald auch schliefen.
Am anderen Morgen, als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach das Brüderchen: "Schwesterchen, mich dürstet, wenn ich nur ein Brünnlein wüsste, ich ginge und tränke sogleich. Ich meine, ich hörte eines rauschen.“ Es stand auf, nahm das Schwesterchen bei der Hand, und sie wollten das Brünnlein suchen. Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl bemerkt, wie die beiden Kinder fortgegangen waren. Heimlich war sie ihnen nachgeschlichen und hatte alle Brunnen im Walde verzaubert. Als sie nun ein Brünnlein fanden, das glitzernd über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken. Aber das Schwesterchen hörte, wie das Brünnlein rauschte: "Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger. Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.“
Da rief das Schwesterchen: "Ich bitte dich, Brüderchen, trinke nicht, sonst wirst du ein wildes Tier, das mich zerreißt.“ Da trank das Brüderchen nicht, obgleich es großen Durst hatte.
"Ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen“, sagte es. Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie die Quelle sprach: "Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf. Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.“
"Ich bitte dich, Brüderchen“, rief das Schwesterchen, "trinke nicht, sonst wirst du ein Wolf und frisst mich auf.“
Da trank das Brüderchen nicht und sprach: "So will ich warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muss ich trinken, du magst sagen, was du willst, denn mein Durst ist gar zu groß.“
Als sie nun zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie die Quelle rauschte: "Wer aus mir trinkt, wird ein Reh. Wer aus mir trinkt, wird ein Reh."
"Ach Brüderchen", sprach das Schwesterchen, "ich bitte dich, trinke nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort." Aber das Brüderchen hatte sich schon niedergekniet, zur Quelle gebeugt und vom Wasser getrunken. Und als die ersten Tropfen über seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.
Nun weinte das Schwesterchen über das arme, verzauberte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und saß traurig neben ihm. Endlich aber sprach das Mädchen: "Sei still, liebes Reh, ich will dich ja nimmermehr verlassen." Dann band es ihm ein Band um den Hals, rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran knüpfte es das Reh und führte es weiter und immer tiefer in den Wald hinein. Als sie lange, lange so gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus. Das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es: "Hier können wir bleiben und wohnen." Es suchte nach Laub und Moos, um dem Reh ein weiches Lager zu bereiten, und jeden Morgen ging es aus und sammelte für sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, für das Rehchen aber zartes Gras. Abends, wenn das Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens. Das war sein Kissen, und darauf schlief es sanft.
Einmal trug es sich zu, dass der König des Landes eine große Jagd im Walde hielt. Da schallte Hörnerblasen, Hundegebell und lustiges Jägergeschrei durch die Bäume, und das Rehlein hörte es und wäre gar zu gerne dabei gewesen. "Ach", sprach es zum Schwesterchen, "lass mich hinaus zur Jagd, ich kann's nicht länger aushalten." Lange bat es so, bis das Mädchen einwilligte. "Aber komm mir ja des Abends wieder, denn vor den wilden Jägern schließe ich meine Tür. Und damit ich dich erkenne", sagte das Schwesterchen, "klopf an und sprich: ‚Mein Schwesterlein, lass mich hinein.' Wenn du nicht so sprichst, schließ ich die Türe nicht auf." Das Rehchen sprang hinaus, und es fühlte sich frei und lustig in der frischen Luft.
Der König und seine Jäger sahen das schöne Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht erjagen, und wenn sie meinten, nun könnten sie es fangen, sprang es über das Gebüsch hinweg und war verschwunden. Als es dunkel wurde, lief das Rehchen zum Häuschen, klopfte und sprach: "Mein Schwesterlein, lass mich hinein." Da ging die Türe auf, es sprang hinein und ruhte die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am anderen Morgen aber begann die Jagd von neuem, und als das Hifthorn wieder tönte und das Hoho der Jäger, da hatte es keine Ruhe mehr. "Schwesterchen", sprach es, "mach mir auf, ich muss hinaus." Das Schwesterchen öffnete ihm die Türe, sagte aber: "Am Abend musst du wieder da sein und dein Sprüchlein sagen."
Als der König und seine Jäger das Reh mit dem Halsband sahen, jagten sie ihm alle nach, aber es war zu schnell und behänd. Das währte den ganzen Tag. Endlich aber, gegen Abend, hatten es die Jäger umzingelt und einer verwundete es am Fuß, so dass es nur langsam fortlaufen konnte. Da ging ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen, hörte, wie es rief: "Mein Schwesterlein, lass mich hinein", und sah auch, wie die Türe aufgetan und wieder geschlossen wurde. Der Jäger eilte zum König und erzählte ihm, was er gesehen und gehört hatte. Darauf antwortete der König: "Morgen soll noch einmal gejagt werden."
Als das Schwesterehen sah, dass sein Rehkälbchen verwundet war, erschrak es sehr. Es wusch ihm das Blut ab, legte Kräuter auf die Wunde und sprach: "Geh zu deinem Lager, liebes Rehchen, dass du wieder heil wirst." Die Wunde aber war so klein, dass das Reh am Morgen keinen Schmerz mehr spürte, und als draußen das Jagdhorn wieder klang, sprach es: "Ich kann's nicht aushalten, ich muss dabei sein. So bald wird mich auch keiner von den Jägern kriegen." Das Schwesterchen weinte. "Sie werden dich töten, und ich bin hier allein im Wald und verlassen von aller Welt. Ich lasse dich nicht hinaus."
"Dann sterbe ich hier vor Kummer", antwortete das Reh, "denn wenn ich das Hifthorn höre, so glaube ich, ich muss vor Sehnsucht zerspringen!" Da konnte das Schwesterchen nicht anders; schweren Herzens schloss es ihm die Türe auf, und das Reh sprang munter und fröhlich in den Wald hinein. Als es der König erblickte, gebot er seinen Jägern: "Jagt ihm den ganzen Tag nach bis in die Nacht, aber keiner tue ihm etwas zu leide."
Sobald die Sonne untergegangen war, sagte der König zum Jäger: "Nun komm und zeige mir das Waldhäuschen." Als er vor der Türe stand, klopfte er an und rief: "Lieb Schwesterlein, lass mich hinein." Die Türe ging auf, und der König trat hinein, und da stand ein Mädchen - so schön, wie er noch keines gesehen hatte. Das Mädchen erschrak, als es sah, dass nicht sein Reh, sondern ein Mann hereingetreten war, der eine goldene Krone auf dem Haupte trug. Aber der König blickte es freundlich an, reichte ihm die Hand und sprach: "Willst du mit mir kommen auf mein Schloss und meine Gemahlin sein?"
"Ach ja", antwortete das Mädchen, "aber das Rehchen muss auch mit, das verlass ich nicht."
Darauf erwiderte der König: "Es soll bei dir bleiben, solange du lebst, und es soll ihm an nichts fehlen."
Als es hereingesprungen kam, band es das Schwesterchen an das Binsenseil, um mit ihm zusammen das Waldhaus zu verlassen.
Der König setzte das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte es in sein Schloss, wo die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert wurde. So war das Schwesterchen nun die Frau Königin, das Rehlein aber wurde gehegt und gepflegt, und es sprang vergnügt im Schlossgarten umher.
Mittlerweile glaubte die böse Stiefmutter, um deretwillen die Kinder in die Welt hinausgezogen waren, das Schwesterchen sei von wilden Tieren im Walde zerrissen und das Brüderchen als Rehkalb von den Jägern totgeschossen worden. Als sie nun hörte, dass sie beide glücklich waren und es ihnen wohl erging, da wurden Neid und Missgunst in ihrem Herzen rege und ließen ihr keine Ruhe. Sie hatte keinen anderen Gedanken als den, wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könne. Ihre rechte Tochter, die hässlich wie die Nacht war und nur ein Auge hatte, machte ihr Vorwürfe und sprach: "Eine Königin zu werden, hätte mir allein gebührt."
"Sei nur still", erwiderte die Alte, "wenn's Zeit ist, will ich schon dafür sorgen."
Übers Jahr brachte die Königin ein Kind zur Welt, und da der König gerade auf der Jagd war, verwandelte sich die alte Hexe in eine Kammerfrau, betrat das Gemach, in dem die Königin lag und sprach zu ihr: "Das Bad ist fertig, es wird euch wohl tun und frische Kräfte geben; kommt geschwind, ehe es kalt wird." Ihre böse Tochter war auch bei der Hand, und so trugen sie die schwache Königin in die Badestube. Dann schlossen sie die Türe ab und liefen davon. In der Badestube aber hatten sie ein Höllenfeuer angefacht, dass die schöne junge Königin bald ersticken musste.
Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Haube auf und hieß sie, sich ins Bett der Königin zu legen. Sie verlieh ihr auch die Gestalt und das Ansehen der Königin, nur das fehlende Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit dies aber der König nicht merke, musste sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Auge hatte. Am Abend, als er heim kam und hörte, dass ihm ein Söhnlein geboren worden war, freute er sich herzlich und wollte sogleich ans Bett seiner Gemahlin treten. Da rief die Alte: "Lass die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen und muss Ruhe haben." Da entfernte sich der König und wusste nicht, dass eine falsche Königin im Bette lag.
Als es aber Mitternacht schlug und alles schlief, sah die Kinderfrau, die neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Türe aufging und die rechte Königin herein trat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es auf den Arm und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm das Kissen zurecht, legte es wieder in die Wiege und deckte es zu. Auch das Rehchen vergaß sie nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm den Rücken. Darauf ging sie schweigend wieder zur Türe hinaus. Am anderen Morgen fragte die Amme die Wächter, ob jemand während der Nacht das Schloss betreten habe, aber sie antworteten: " Nein, wir haben niemand gesehen."
Viele Nächte kam die Königin und sagte nie ein Wort. Die Amme sah sie immer, aber sie getraute sich nicht, dem König etwas davon zu sagen.
Als nun so eine Zeit verflossen war, begann die Königin einmal in der Nacht zu reden:
"Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr."
Die Amme antwortete ihr nicht, doch als sie verschwunden war, ging sie zum König und erzählte ihm alles. Da sprach der König: "Ach Gott, was ist das! In der nächsten Nacht will ich bei meinem Kinde wachen."
Am Abend setzte er sich neben die Wiege. Als es Mitternacht schlug, erschien die Königin wieder und sprach:
"Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr."
Sie pflegte das Kind, wie sie das gewöhnlich getan, und, ehe sie verschwand, ging sie in die Ecke zum Rehchen und streichelte es.
Der König getraute sich nicht, sie anzureden, aber er wachte auch in der folgenden Nacht. Und abermals sprach sie:
"Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr. "
Da konnte sich der König nicht länger zurückhalten, er erhob sich und sprach: "Du kannst niemand anderes sein als meine liebe Frau."
Da antwortete sie: "Ja, ich bin deine liebe Frau."
In diesem Augenblick hatte sie durch die Gnade Gottes das Leben wieder erhalten und war frisch und gesund. Darauf erzählte sie dem König die Freveltat, welche die böse Hexe und ihre Tochter an ihr verübt hatten. Alsbald ließ er beide vor Gericht stellen, und es wurde ihnen das Urteil gesprochen. Die Tochter wurde in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen; die Hexe aber wurde in ein Feuer gelegt und musste jämmerlich verbrennen. Als sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche Gestalt zurück. Von nun an lebten das Schwesterchen und das Brüderchen zusammen mit dem König glücklich und zufrieden bis an ihr Ende.

Die Kornähren

Es geschah zu den Zeiten, als der liebe Gott noch selbst auf Erden wandelte. Da wuchsen die Körner am Halme von unten bis oben hinaus. So lang der Halm war, so lang war auch die Ähre. Aber die Menschen in ihrem Überfluss achteten nicht darauf.
Eines Tages ging eine Frau mit ihrem Kind an einem Kornfeld vorbei. Das kleine Kind fiel in eine Pfütze und beschmutzte sein Kleidchen. Da riss die Frau eine Handvoll der schönen Ähren ab und wischte ihm damit den Schmutz ab.
Als der liebe Gott dies sah, wurde er zornig und sprach: „Fortan soll der Kornhalm keine Ähre mehr tragen; die Menschen sind der himmlischen Gaben nicht wert!“
Die Leute, die das hörten, erschraken, fielen auf die Knie und flehten: „Lass doch etwas in dem Halme stehen! Wenn wir es auch selbst nicht verdienen, so tu es doch der unschuldigen Hühner wegen, die sonst verhungern müssen!“
Und der liebe Gott dachte an das große Elend, das kommen würde, erbarmte sich über die Menschen und erfüllte ihre Bitte.
Also blieb noch oben am Halme die Ähre übrig, wie sie jetzt wächst.

Der treue Johannes

Es war einmal ein alter König, der war sterbenskrank. Da sprach er: "Lasst mir den getreuen Johannes kommen." Der getreue Johannes war sein liebster Diener und hieß so, weil er ihm sein Lebtag treu gewesen war. Als er vor das Bett kam, sagte der König zu ihm: "Mein getreuer Johannes, ich fühle, dass mein Ende naht, aber ich habe Sorge um meinen Sohn. Er ist noch jung an Jahren und noch recht unerfahren. Wenn du mir nicht versprichst, sein Pflegevater zu sein und ihn in allem zu unterrichten, was er wissen muss, so kann ich meine Augen nicht in Ruhe schließen."
Da antwortete der getreue Johannes: "Ich will ihn nicht verlassen und will ihm getreulich dienen, wenn's auch mein Leben kostete."
"So sterbe ich getrost und in Frieden", sagte der alte König und weiter dann: "Nach meinem Tode sollst du ihm das ganze Schloss zeigen, alle Kammern, Säle und Gewölbe und alle Schätze, die darinnen liegen. Nur die letzte Kammer sollst du ihm nicht zeigen, denn in ihr steht das Bild der Königstochter vom goldenen Dache verborgen. Wenn er das Bild erblickt, wird er eine heftige Liebe zu ihr empfinden, wird ohnmächtig niederfallen und ihretwegen in große Gefahr geraten. Davor sollst du ihn bewahren."
Als der treue Johannes dem alten König die Hand darauf gegeben hatte, legte der Sterbenskranke sein Haupt auf das Kissen und verschied. Kaum hatte man den alten König zu Grabe getragen, da erzählte der treue Johannes dem jungen König, was er seinem Vater auf dem Sterbelager versprochen hatte. "Das will ich gewisslich halten", sagte er, "und will dir treu sein, wie ich es ihm gewesen bin, und sollte es auch mein Leben kosten.“ Dann war die Trauerzeit vorüber, und der treue Johannes sprach: „Es ist nun so weit, dass du dein Erbe siehst. Ich will dir dein väterliches Schloss zeigen.“ Überall führte er ihn herum und ließ ihn alle Reichtümer und die prächtigen Kammern sehen. Nur das Gemach öffnete er nicht, worin das gefährliche Bild stand. Das Bild aber war darin so gestellt, dass man gerade darauf sah, wenn die Ture aufging, und war so herrlich geschaffen, dass man meinte, es lebe wahrhaftig und es gebe nichts Lieblicheres und Schöneres auf der ganzen Welt. Der junge König merkte wohl, dass der getreue Johannes immer an einer Tür vorüberging und sprach: "Warum schließt du mir diese Türe niemals auf?"
"Es ist etwas in der Kammer", antwortete Johannes, "vor dem du erschrickst."
Aber der König antwortete: "Ich habe das ganze Schloss gesehen, jetzt will ich auch wissen, was in dieser Kammer ist", ging also hin und wollte die Türe gewaltsam öffnen. Da hielt ihn der treue Johannes zurück und sagte: "Deinem Vater habe ich es vor seinem Tode versprochen, dass du nicht sehen sollst, was in der Kammer steht. Es könnte dir und mir zu großem Unheil geraten."
"Nein", erwiderte der junge König, "wenn ich nicht hineinkomme, so ist's mein sicheres Verderben. Tag und Nacht hätte ich keine Ruhe mehr, bis ich's mit meinen eigenen Augen gesehen hätte. Ich gehe nicht von der Stelle, bis du aufgeschlossen hast."
Da sah der getreue Johannes, dass er nichts zu ändern vermochte und suchte mit schwerem Herzen und unter vielem Seufzen aus dem großen Schlüsselbund den richtigen Schlüssel heraus. Als er die Tür geöffnet hatte, trat er zuerst hinein und wollte das Bildnis bedecken, dass es der König vor ihm nicht sehe. Aber der König stellte sich auf die Fußspitzen und blickte ihm über die Schulter. Als er das Bildnis der Jungfrau sah, das so herrlich war und von Gold und Edelsteinen glänzte, fiel er ohnmächtig zur Erde nieder. Der treue Johannes hob ihn auf, trug ihn zu seinem Bett und dachte voll Sorgen: "Das Unglück ist geschehen; Herr Gott, was soll daraus werden!" Dann stärkte er ihn mit Wein. Das erste Wort, das der junge König sprach, war: "Wer ist das schöne Bild?"
"Das ist die Königstochter vom goldenen Dache", antwortete der treue Johannes.
Da fuhr der König fort: "Wenn alle Blätter an den Bäumen Zungen hätten, so könnten sie nicht aussagen, wie groß meine Liebe zu ihr ist. Mein Leben setze ich daran, dass ich sie erlange. Du bist mein getreuer Johannes, du musst mir beistehen. "
Lange besann sich der treue Diener, wie die Sache angefangen werden könne, denn es war schwer, vor das Angesicht der Königstochter zu kommen. Endlich hatte er ein Mittel ausgedacht und sprach zum König: "Alles, was sie um sich hat, ist aus Gold; alle Tische, Stühle, Schüsseln, Becher und alles sonstige Hausgerät. In deinem Schatze liegen fünf Tonnen Goldes. Lass eine von den Goldschmieden deines Reichs zu Gefäßen und Gerätschaften, zu Vögeln, Gewild und wunderbaren Tieren verarbeiten, das wird ihr gefallen. Damit wollen wir hinfahren und unser Glück versuchen. " Sogleich hieß der König alle Goldschmiede holen. Tag und Nacht mussten sie arbeiten, bis endlich die herrlichsten Geräte fertig waren. Als alles auf ein Schiff geladen war, zog der treue Johannes Kaufmannskleider an; und auch der König musste so tun, um sich ganz unkenntlich zu machen. Dann fuhren sie über das Meer und fuhren so lange, bis sie zu der Stadt kamen, in der die Königstochter vom goldenen Dache wohnte. "Bleibe auf dem Schiffe zurück und warte auf mich", sagte der treue Johannes zum König, "vielleicht bringe ich die Königstochter mit. Sorgt, dass alles in Ordnung ist, lasst die Goldgefäße aufstellen und das ganze Schiff ausschmücken." Darauf suchte er sich allerlei von den goldenen Sachen zusammen, ruderte ans Land und ging geradewegs zum königlichen Schloss. Als er in den Schlosshof kam, stand ein schönes Mädchen am Brunnen mit zwei goldenen Eimern in der Hand. Wie sie das Wasser, das sie geschöpft hatte, forttragen wollte und sich umdrehte, gewahrte sie den fremden Mann.
"Wer bist du?" fragte sie ihn.
Da antwortete er: "Ich bin ein Kaufmann", und zeigte ihr das Goldzeug, das er bei sich trug. Sie setzte die Eimer nieder und betrachtete das schöne Gerät. "Das muss die Königstochter sehen", sprach die Kammerjungfer dann, "sie hat so große Freude an den goldenen Sachen, dass sie euch alles abkaufen wird."
Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinauf ins Schloss. Kaum hatte die Königstochter das goldene Gerät gesehen, da sagte sie vergnügt: "Es ist so schön gearbeitet, dass ich dir alles abkaufen will."
Aber der getreue Johannes erwiderte: "Ich bin nur der Diener eines reichen Kaufmanns. Was ich hier habe, ist nichts gegen das, was mein Herr auf seinem Schiff bereithält." Sie wollte alles heraufgebracht haben, er aber antwortete: "Dazu gehören viele Tage, so groß ist die Menge, und so viele Säle, um es aufzustellen, dass euer Schloss nicht Raum dafür hat." Das erregte nun ihre Neugier und Lust so sehr, dass sie endlich sagte: "Führe mich hin zu diesem Schiff. Ich will selbst hingehen und deines Herrn Schätze betrachten."
Der treue Johannes brachte sie zum Schiff und war ganz freudig. Als der König sie erblickte und sah, dass ihre Schönheit noch größer war, als das Bild sie dargestellt hatte, meinte er, das Herz müsse ihm zerspringen. Er führte sie hinunter in das Schiff. Der treue Johannes aber blieb zurück beim Steuermann und hieß das Schiff abstoßen. "Spannt alle Segel auf", sagte er, "dass es fliegt wie ein Vogel in der Luft." Der König aber zeigte ihr drinnen das goldene Geschirr, die Schüsseln, Becher, Näpfe, die Vögel und die wunderbaren Tiere. So verstrichen viele Stunden, während sie alles besah, und in ihrer Freude merkte sie nicht, dass das Schiff dahinfuhr. Endlich aber dankte sie dem Kaufmann und wollte heim. Wie sie aber zum Deck des Schiffes kam, sah sie, dass es fern vom Land auf hohem Meere ging und unter vollen Segeln.
"Ach", rief sie erschrocken, "ich bin betrogen, ich bin entführt und in die Gewalt eines Kaufmanns geraten. Lieber will ich sterben als das!"
Der König aber fasste sie bei der Hand und sprach: "Ich bin kein Kaufmann, ein König bin ich und nicht geringer an Geburt als du. Aber dass ich dich mit List entführt habe, das ist aus übergroßer Liebe geschehen. Das erste Mal, als ich dein Bildnis gesehen habe, bin ich ohnmächtig niedergefallen." Da tröstete sich die Königstochter vom goldenen Dache, ihr Herz wurde ihm geneigt, so dass sie gerne einwilligte, seine Gemahlin zu werden.
Während sie so auf dem hohen Meere dahinfuhren, trug es sich zu, dass der treue Johannes, als er vorn auf dem Schiffe saß, drei Raben in der Luft erblickte, die dahergeflogen kamen. Er horchte darauf, was sie miteinander sprachen, denn er verstand das wohl.
Der eine rief: "Ei, da führt er die Königstochter vom goldenen Dache heim."
"Ja", erwiderte der zweite, "aber er hat sie noch nicht."
Jetzt sprach der dritte: "Er hat sie doch, sie sitzt bei ihm im Schiffe."
Da fing der erste wieder an und rief: "Was hilft ihm das! Wenn sie ans Land kommen, wird ihm ein fuchsrotes Pferd entgegen springen. Er wird sich aufschwingen wollen, doch tut er das, so sprengt es mit ihm fort und in die
Luft hinein, dass er nimmermehr die Königstochter sieht."
Da fragte der zweite: "Ist gar keine Rettung?"
„0 ja, wenn ein anderer schnell aufsitzt, die Feuerwaffe, die in den Halftern steckt, herausnimmt und das Pferd damit totschießt, so ist der junge König gerettet. Aber wer weiß das! Und wer es weiß und sagt’s ihm, der wird zu Stein von den Fußzehen bis zum Knie."
Darauf fuhr der zweite fort: "Ich weiß noch mehr. Wenn das Pferd auch getötet wird, so behält der junge König doch nicht seine Braut, denn kommen sie zusammen ins Schloss, so liegt dort ein Brauthemd in einer Schüssel und sieht aus, als wärs von Gold und Silber gewirkt, ist aber nichts als Schwefel und Pech. Wenn er's anzieht, verbrennt es ihn bis auf Mark und Knochen."
"Ist da gar keine Rettung?", fragte der dritte.
"Gewiss", erwiderte der zweite, "wenn einer mit Handschuhen das Hemd packt und es ins Feuer wirft, dass es verbrennt, dann ist der junge König gerettet. Aber was hilft's! Wer es weiß und sagt's ihm, der wird vom Knie bis zum Herzen zu Stein."
"Ich weiß noch mehr", fügte der dritte hinzu, "wird das Brauthemd auch verbrannt, so hat der junge König seine Braut doch noch nicht, denn wenn der Tanz nach der Hochzeit beginnt und die junge Königin tanzt, wird sie plötzlich erbleichen und wie tot niederfallen. Hebt sie nicht einer auf und saugt drei Tropfen Blut aus ihrer rechten Brust und speit sie wieder aus, so muss sie sterben. Aber verrät das einer, der es weiß, so wird er zu Stein vom Wirbel bis zur Zehe."
Als die Raben das miteinander gesprochen hatten, flogen sie weiter. Der getreue Johannes, der alles wohl verstanden hatte, wurde traurig, denn verschwieg er seinem Herrn, was er gehört hatte, so machte er ihn unglücklich. Entdeckte er es ihm, so war sein eigenes Leben verwirkt. Endlich aber sprach er zu sich: "Meinen Herrn will ich retten, und sollte ich selbst darüber zugrunde gehen."
Als sie nun ans Land kamen, geschah es, wie die Raben vorher gesagt hatten. Ein prächtiger, fuchsroter Gaul sprengte daher.
"Wohlan", rief der König, "das Pferd soll mich ins Schloss tragen." Er wollte sich darauf setzen, aber der treue Johannes kam ihm zuvor, schwang sich schnell hinauf, zog das Gewehr aus den Halftern und tötete das Tier. Da schalten die anderen Diener des Königs, die dem treuen Johannes nicht gut gesinnt waren: "Wie schändlich, das schöne Tier zu töten, das den König in sein Schloss tragen sollte!"
Doch der König befahl: "Schweigt und lasst ihn gehen; er ist mein getreuer Johannes. Wer weiß, wozu das gut gewesen ist!"
Nun gingen sie ins Schloss, und da stand im Saal eine Schüssel und das Brauthemd lag darin und sah aus, als wäre es von Gold und Silber gewirkt. Der junge König wollte es ergreifen, aber der treue Johannes schob ihn weg, packte es mit Handschuhen an und trug es geschwind ins Feuer, dass es verbrannte. Wieder fingen die anderen Diener zu murren an und sagten: "Seht, nun verbrennt er sogar des Königs Brauthemd!"
Aber der junge König befahl: "Lasst ihn gehen; er ist mein getreuer Johannes. Wer weiß, wozu das gut gewesen ist."
Alsbald wurde die Hochzeit gefeiert. Der Tanz hob an, und auch die Braut trat hinzu. Achtsam schaute ihr der treue Johannes ins Angesicht. Auf einmal erbleichte sie und fiel wie tot zur Erde. Eilends sprang er hinzu, hob sie auf und trug sie in eine Kammer. Dort legte er sie nieder, kniete vor ihr und sog die drei Blutstropfen aus ihrer rechten Brust und spie die Tropfen dann aus. Da atmete sie wieder und erholte sich. Der junge König aber, der alles mit angesehen hatte und nicht wusste, weshalb der getreue Johannes so gehandelt hatte, wurde zornig darüber und befahl: "Werft ihn ins Gefängnis."
Am nächsten Morgen wurde der getreue Johannes verurteilt und zum Galgen geführt. Als er oben stand und gerichtet werden sollte, sprach er: "Jeder, der sterben muss, darf vor seinem Ende noch einmal reden. Gebt auch mir dieses Recht."
"Es soll dir vergönnt sein", entgegnete der König. Da erwiderte der treue Johannes: "Ich bin dir immer treu gewesen. Man hat mich zu Unrecht verurteilt." Darauf berichtete er, wie er auf dem Meer das Gespräch der Raben gehört und wie er, um seinen Herrn zu retten, all das tun habe müssen, was geschehen sei.
Da rief der König: ,,0 du, mein treu er Johannes, Gnade, Gnade! Bringt ihn herunter!" Aber der treue Johannes war mit dem letzten Wort, das er geredet hatte, leblos herabgefallen und zu Stein geworden.
Darüber trugen nun der König und die Königin großes Leid. "Ach, wie habe ich so große Treue so übel belohnt!", jammerte der König, ließ das steinerne Bild aufheben und in seinem Schlafgemach neben sein Bett stellen. So oft er es ansah, weinte er und seufzte: "Könnte ich dich doch wieder lebendig machen, mein getreuer Johannes!"
Nach einiger Zeit gebar die Königin zwei Söhnlein. Er waren Zwillinge und ihre ganze Freude. Einmal, als die Königin in der Kirche war und die zwei Kinder beim Vater saßen und spielten, sah der König wieder das steinerne Bild voll Trauer an und rief seufzend: "Könnte ich dich doch wieder lebendig machen, mein getreuer Johannes!"
Da begann der Stein zu reden und sagte: "Du kannst mich wieder lebendig machen, wenn du dein Liebstes opfern willst."
"Alles, was ich auf der Welt habe", antwortete der König, "will ich hingeben für dich."
"So schlage mit eigner Hand deinen Kindern die Köpfe ab und bestreiche mich mit ihrem Blute, dann erhalte ich das Leben wieder", fuhr der Stein fort. Als der König hörte, dass er seine Kinder mit eigner Hand töten solle, erschrak er. Dann aber dachte er an die große Treue seines Dieners und daran, dass der getreue Johannes für ihn gestorben war, zog sein Schwert und tat, wie der Stein ihm geheißen. Als er mit dem Blute der Kinder das Steinbild bestrichen hatte, stand der getreue Johannes plötzlich wieder frisch und gesund vor ihm. "Deine Treue, oh König", sagte er, "soll nicht unbelohnt bleiben." Er nahm die Häupter der Kinder, setzte sie auf die Leiber der Getöteten und bestrich die Wunde mit ihrem Blut. Davon wurden sie im Augenblick wieder heil, sprangen herum und spielten fort, als wäre ihnen nichts geschehen. Der König war darüber voller Freude. Als er die Königin kommen sah, versteckte er den getreuen Johannes und die beiden Kinder in einem großen Schrank.
"Hast du gebetet in der Kirche?", fragte er sie.
"Ja", antwortete sie, "aber ich habe beständig an den treuen Johannes gedacht und dass er so unglücklich durch uns geworden ist."
Da erwiderte er: "Liebe Frau, wir können ihm das Leben wiedergeben, aber das kostet uns das Leben unserer beiden Söhne. Wir müssen sie opfern."
Die Königin erschrak im Herzen und wurde bleich. Dann aber antwortete sie: "Wir sind es ihm schuldig um seiner großen Treue willen." Da freute er sich, dass sie dachte, wie er gedacht hatte, schloss den Schrank auf, holte die Kinder und den treuen Johannes heraus und sagte: "Gott sei gelobt, er ist erlöst und unsere Söhne haben wir auch wieder." Darauf erzählte er ihr alles, was sich zugetragen hatte. Von nun an lebten sie zusammen in Glück und Freude bis an das Ende ihrer Tage.

Fundevogel

Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er schreien, als ob’s ein kleines Kind wäre. Er ging dem Schreien nach und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf saß ein kleines Kind. Es war aber die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in ihrem Schoße gesehen: da war er hingeflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen und auf den hohen Baum gesetzt.
Der Förster stieg hinauf, holte sich das Kind herunter und dachte: „Du willst das Kind mit nach Haus nehmen und mit deinem Lenchen zusammen aufziehn.“ Er brachte es also heim, und die zwei Kinder wuchsen miteinander auf. Das aber, das auf dem Baum gefunden worden war, und weil es ein Vogel weggetragen hatte, wurde Fundevogel geheißen. Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, dass wenn eins das andre nicht sah, ward es traurig.
Der Förster hatte aber eine alte Köchin, die nahm eines Abends zwei Eimer und fing an Wasser zu schleppen, und ging nicht einmal, sondern viele Male hinaus an den Brunnen. Lenchen sah es und sprach: „Hör einmal, alte Sanne, was trägst du denn so viel Wasser zu?“
„Wenn du’s keinem Menschen wiedersagen willst, so will ich dir’s wohl sagen.“
Da sagte Lenchen, nein, sie wolle es keinem Menschen wiedersagen, so sprach die Köchin: „Morgen früh, wenn der Förster auf der Jagd ist, da koche ich das Wasser, und wenn’s im Kessel siedet, werfe ich den Fundevogel hinein und will ihn darin kochen.
Des andern Morgens in aller Frühe stieg der Förster auf und ging auf die Jagd, und als er wag war, lagen die Kinder noch im Bett. Da sprach Lenchen zum Fundevogel: „Verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht. „
So sprach der Fundevogel: „Nun und nimmermehr.“
Da sprach Lenchen: „Ich will es dir nur agen, die alte Sanne schleppte gestern Abend so viel Eimer Wasser ins Haus; da fragte ich sie, warum sie das täte; so sagte sie, wenn ich’s keinem Menschen sagen wollte, so wollte sie es mir sagen. Sprach ich, ich wollte es gewiss keinem Menschen sagen. Da sagte sie, morgen früh, wenn der Vater auf die Jagd wäre, wollte sie den Kessel voll Wasser sieden, dich hinterherwerfen und kochen. Wir wollen aber geschwind aufsteigen, uns anziehen und zusammen fortgehen.“
Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich geschwind an und gingen fort. Wie nun das Wasser im Kessel kochte, ging die Köchin in die Schlafkammer, wollte den Fundevogel holen und hineinwerfen. Aber als sie hineinkam und zu den Betten trat, waren die Kind3r alle beide fort. Da wurde ihr grausam angst, und sie sprach vor sich: „Was will ich nun sagen, wenn der Förster heimkommt und sieht, dass die Kinder weg sind? Eschwind hinten nach, dass wir sie wiederkriegen.“
Da schickte die Köchin drei Knechte nach, die sollten laufen und die Kinder einfangen. Die Kinder saßen vor dem Wald, und als sie die drei Knechte von weitem laufen sahen, sprach Lenchen zum Fundevogel: „Verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht.“
So sprach Fundevogel: „Nun und nimmermehr.“
Da sagte Lenchen: „Werde du zum Rosenstöckchen und ich zum Röschen darauf!“ Wie nun die drei Knechte vor den Wald kamen, so war nichts da als ein Rosenstrauch und ein Röschen obendrauf, die Kinder aber nirgends.
Da sprachen sie: „Hier ist nichts zu machen“ und gingen heim und sagten der Köchin, sie hätten nichts in der Welt gesehen als nur ein Rosenstöckchen und ein Röschen obendrauf.
Da schalt die alte Köchin: „Ihr Einfaltspinsel, ihr hättet das Rosenstöckchen entzwei schneiden sollen und das Röschen abbrechen und mit nach Haus bringen, geschwind und tut’s!“
Sie mussten also zum zweiten Mal hinaus und suchen. Die Kinder sahen sie aber von weitem kommen.
Da sprach Lenchen: „Fundevogel, verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht.“
Fundevogel sagte: „Nun und nimmermehr.“
Sprach Lenchen: „So werde du eine Kirche und ich die Krone darin!“
Wie nun die drei Knechte dahin kamen, war nichts da als eine Kirche und eine Krone darin.
Sie sprachen also zueinander: „Was sollen wir hier machen? Lass uns nach Hause gehen!“
Wie sie nach Hause kamen, fragte die Köchin, ob sie nichts gefunden hätten, so sagten sie nein, sie hätten nichts gefunden als eine Kirche, da wäre eine Krone darin gewesen.
„Ihr Narren“, schalt die Köchin, „warum habt ihr nicht die Kirche zerbrochen und die Krone mit heimgebracht?“
Nun machte sich die alte Köchin selbst auf die Beine und ging mit den drei Knechten den Kindern nach. Die Kinder sahen aber die drei Knechte von weitem kommen, und die Köchin wackelte hinten nach.
Da sprach Lenchen: „Fundevogel, verläst du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht.“
Da sprach der Fundevogel: „Nun und nimmermehr.“
Sprach Lenchen: „Werde zum Teich und ich die Ente drauf!“
Die Köchin aber kam herzu, und als sie den Teich sah, legte sie sich darüber hin und wollte ihn aussaufen. Aber die Ente kam schnell geschwommen, fasste sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser hinein. Da musste die alte Hexe ertrinken. Da gingen die Kinder zusammen nach Haus und waren herzlich froh. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch.

Das Hirtenbüblein

Es war einmal ein Hirtenbübchen, das war wegen seiner weisen Antworten, die es auf alle Fragen gab, weit und breit berühmt. Der König des Landes hörte auch davon, glaubte es nicht und ließ das Bübchen kommen. Da sprach er zu ihm: "Kannst du mir auf drei Fragen, die ich dir vorlegen will, Antwort geben, so will ich dich ansehen wie mein eigen Kind, und du sollst bei mir in meinem königlichen Schloss wohnen!"
Da sprach das Büblein: "Wie lauten die drei Fragen?"
Der König sagte: "Die erste lautet: Wie viel Tropfen Wasser sind in dem Weltmeer?"
Das Hirtenbüblein antwortete: "Herr König, lasst alle Flüsse auf der Erde verstopfen, damit kein Tröpflein mehr daraus ins Meer läuft, das ich nicht erst gezählt habe, so will ich Euch sagen, wie viel Tropfen im Meere sind!"
Da sprach der König: "Die andere Frage lautet: Wie viel Sterne stehen am Himmel?"
Das Hirtenbübchen sagte: "Gebt mir einen großen Bogen weißes Papier!" und dann machte es mit der Feder so viele feine Punkte darauf, dass sie kaum zu sehen und fast gar nicht zu zählen waren und dass einem die Augen vergingen, wenn man darauf blickte.
Darauf sprach es: "So viel Sterne stehen am Himmel, wie hier Punkte auf dem Papier! Zählt sie nur!" Aber niemand war dazu imstande.
Nun sprach der König: "Die dritte Frage lautet: Wie viel Sekunden hat die Ewigkeit?"
Da sagte das Hirtenbüblein: "In Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe; dahin kommt alle hundert Jahr ein Vögelein und wetzt sein Schnäblein daran, und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei."
Da sprach der König: "Du hast die drei Fragen aufgelöst wie ein Weiser und sollst fortan bei mir in meinem königlichen Schlosse wohnen, und ich will dich ansehen wie mein eigenes Kind."

Die Bremer Stadtmusikanten

Ein Mann besaß einmal einen Esel. Viele Jahre hatte der Grauschimmel die Säcke unverdrossen zur Mühle getragen. Aber nun gingen seine Kräfte zu Ende, und die Arbeit wurde ihm zu schwer. Da dachte sein Herr daran, ihm den Garaus zu machen. Aber der Esel merkte, woher der Wind wehte, und lief fort. Er machte sich auf den Weg nach Bremen. Dort, so glaubte er, könne er wohl Stadtmusikant werden. Als er eine Weile fortgegangen war, fand er einen Jagdhund am Wege liegen. Der Hund japste wie einer, der sich todmüde gelaufen hat.
"Was japst du so, Packan?" fragte der Esel.
"Ach", klagte der Hund, "weil ich alt bin und jeden Tag schwächer werde und auch auf der Jagd nicht mehr meinen Mann stelle, hat mich mein Herr totschlagen wollen. Ich habe also Reißaus genommen, aber womit soll ich nun mein Brot verdienen?"
"Weißt du was", erwiderte der Esel, "geh mit mir nach Bremen. Ich werde dort Stadtmusikant; lass dich auch bei der Musik anstellen. Ich spiele die Laute, und du schlägst die Pauke."
Dem Hund gefiel der Vorschlag, und so gingen sie zusammen weiter. Nicht lange danach sahen sie eine Katze am Wege sitzen. Sie machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
"Was ist dir denn in die Quere gekommen, alter Bartputzer?" sprach der Esel.
"Wer kann noch lustig sein", entgegnete die Katze, "wenn es einem an den Kragen geht. Meine Frau hat mich ersäufen wollen, weil ich in meinem Alter lieber hinter dem Ofen sitze und spinne, als nach Mäusen herumzujagen. Ich habe mich zwar noch fortgemacht, aber nun ist guter Rat teuer. Wo soll ich hin?"
"Du verstehst dich doch auf die Nachtmusik", antwortete der Esel, "geh mit uns nach Bremen, dort kannst du Stadtmusikant werden." Der Rat dünkte der Katze gut, und sie ging also mit. Bald danach kamen die drei Flüchtigen an einem Bauernhof vorbei. Auf dem Tor saß der Haushahn und krähte aus Leibeskräften.
"Du schreist ja, dass es einem durch Mark und Bein geht", rief der Esel, "was hast du denn vor?"
"Gut Wetter habe ich prophezeit", erwiderte der Hahn, "aber weil morgen am Sonntag Gäste kommen, so hat die Hausfrau doch kein Erbarmen mit mir. Sie hat der Köchin aufgetragen, dass sie mir heut Abend den Kopf abschneiden soll, denn sie will mich morgen in der Suppe essen. Drum schrei ich aus vollem Hals, solang ich noch kann."
"Ei was, du Rotkopf", sagte der Esel, "zieh lieber mit uns. Wir gehen nach Bremen; etwas Besseres als den Tod findest du überall. Du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen musizieren, so gibt das einen guten Klang." Der Hahn ließ sich den Vorschlag gefallen, und so gingen sie alle vier zusammen fort.
Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tag nicht erreichen. Des Abends gelangten sie in einen Wald, wo sie übernachten wollten. Der Esel und der Hund legten sich unter einen großen Baum, die Katze kletterte ins Geäst, der Hahn aber flog bis in die Spitze des Baumes, wo es am sichersten für ihn war. Ehe er einschlief, sah er sich noch einmal nach allen vier Himmelsrichtungen um. Plötzlich dünkte ihn, er sehe in der Ferne ein kleines Licht. Er rief seinen Gesellen zu, nicht gar weit von hier müsse ein Haus sein, denn in der Ferne schimmere Licht.
"So müssen wir uns aufmachen", sprach der Esel, "denn hier ist die Herberge schlecht." Auch der Hund meinte, ein paar Knochen und etwas Fleisch daran täten ihm nach diesem Marsche gut. Also machten sie sich auf den Weg nach der Gegend, aus der das Licht schimmerte. Bald sahen sie es größer und heller werden, und endlich standen sie vor einem hell erleuchteten Haus. Es war ein Räuberhaus. Der Esel, welcher der größte war, näherte sich dem Fenster und schaute hinein.
"Was siehst du, Grauschimmel?" fragte der Hahn.
"Einen gedeckten Tisch", antwortete der Esel, "und Räuber sitzen daran und lassen sich's wohl sein."
"Das wäre was für uns", seufzte der Hahn. Sie begannen zu beraten, wie sie es anfangen müssten, um die Räuber aus dem Haus zu jagen, und fanden endlich auch ein Mittel. Der Esel sollte sich mit den Vorderfüßen auf das Fenster stellen, der Hund auf des Esels Rücken springen, die Katze auf den Hund klettern, und dann sollte der Hahn oben auffliegen und sich der Katze auf den Kopf setzen. So taten sie auch. Danach fingen sie auf ein Zeichen an ihre Musik zu machen. Der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute und der Hahn krähte. Dann stürzten sie durch das Fenster in die Stube hinein, dass die Scheiben klirrten. Bei dem entsetzlichen Geschrei fuhren die Räuber in die Höhe, und da sie glaubten, ein Gespenst sei hereingekommen, flohen sie in größter Furcht hinaus in den Wald. Nun setzten sich die vier Gesellen an den Tisch, nahmen mit dem vorlieb, was die Räuber übriggelassen hatten, und aßen, als ob sie vier Wochen hungern müssten. Danach löschten sie das Licht und suchten sich eine Schlafstätte, jeder nach seiner Art. Der Esel legte sich auf den Mist, der Hund hinter die Türe, die Katze auf den Herd an die warme Asche, und der Hahn setzte sich auf den Hahnenbalken. Weil sie müde waren von ihrem langen Weg, schliefen sie auch bald ein.
Als die Räuber nach Mitternacht im Haus kein Licht mehr brennen sahen und auch alles ruhig blieb, sprach der Hauptmann zu seinen Gesellen: "Wir hätten uns doch nicht so ins Bockshorn jagen lassen sollen." Er befahl einem seiner Gesellen, zum Haus zu gehen und nachzusehen. Der Räuber fand alles still. Er ging in die Küche, um ein Licht anzuzünden. Weil er die glühenden, feurigen Augen der Katze für glimmende Kohlen hielt, zog er ein Schwefelhölzchen heraus, dass es daran Feuer fangen solle. Aber die Katze verstand keinen Spaß und sprang ihm ins Gesicht und spie und kratzte. Da erschrak er gewaltig und wollte zur Hintertür hinaus. Aber der Hund, der dort lag, sprang auf und biss ihn ins Bein. Und als er über den Hof am Mist vorbei rannte, versetzte ihm der Esel noch einen tüchtigen Schlag mit dem Hinterfuß. Der Hahn aber, der vom Lärm aus dem Schlaf geweckt und munter geworden war, rief von seinem Balken herab: Kikeriki. Der Räuber lief, so rasch er konnte, zu seinem Hauptmann zurück und sprach: "Im Haus sitzt eine gräuliche Hexe. Sie hat mich angehaucht und mir mit ihren langen Fingern das Gesicht zerkratzt. Und vor der Türe steht ein Mann mit einem Messer. Er hat mich ins Bein gestochen. Auf dem Hofe liegt ein schwarzes Ungetüm, das hat mit einer Holzkeule nach mir geschlagen. Oben auf dem Dache aber sitzt der Richter, der hat gerufen: "Bringt mir den Schelm, bringt mir den Schelm.
Von nun an getrauten sich die Räuber nicht mehr ins Haus. Den vier Bremer Musikanten gefiel es aber so wohl darin, dass sie ihr Lebtag nicht wieder hinauswollten.

Bruder Lustig

Es tobte einmal ein großer Krieg, und als der Krieg zu Ende war, bekamen viele Soldaten ihren Abschied. Nun bekam der Bruder Lustig auch seinen Abschied und sonst nichts als ein kleines Laibchen Kommissbrot und vier Kreuzer an Geld. Damit zog er fort. Der heilige Petrus aber hatte sich als ein armer Bettler an den Weg gesetzt, und wie der Bruder Lustig daherkam, bat er ihn um ein Almosen.
Er antwortete: "Lieber Bettelmann, was soll ich dir geben? Ich bin Soldat gewesen und habe meinen Abschied bekommen und habe sonst nichts als das kleine Kommissbrot und vier Kreuzer Geld; wenn das alle ist, muss ich betteln, so gut wie du. Doch geben will ich dir was."
Darauf teilte er den Laib in vier Teile und gab dem Apostel einen davon und auch einen Kreuzer. Der heilige Petrus bedankte sich, ging weiter und setzte sich in einer anderen Gestalt wieder als Bettelmann dem Soldaten an den Weg, und als er zu ihm kam, bat er ihn, wie das vorige Mal, um eine Gabe. Der Bruder Lustig sprach wie vorher und gab ihm wieder ein Viertel von dem Brot und einen Kreuzer. Der heilige Petrus bedankte sich und ging weiter, setzte sich aber zum dritten Mal in einer anderen Gestalt als Bettler an den Weg und sprach den Bruder Lustig an. Der Bruder Lustig gab ihm auch das dritte Viertel Brot und den dritten Kreuzer. Der heilige Petrus bedankte sich, und der Bruder Lustig ging weiter und hatte nicht mehr als ein Viertel Brot und einen Kreuzer. Damit ging er in ein Wirtshaus, aß das Brot und ließ sich für den Kreuzer Bier dazu geben. Als er fertig war, zog er weiter, und da ging ihm der heilige Petrus gleichfalls in der Gestalt eines verabschiedeten Soldaten entgegen und redete ihn an: "Guten Tag, Kamerad, kannst du mir nicht ein Stück Brot geben und einen Kreuzer zu einem Trunk?"
"Wo soll ich's hernehmen", antwortete der Bruder Lustig, "ich habe meinen Abschied und sonst nichts als einen Laib Kommisbrot und vier Kreuzer an Geld bekommen. Drei Bettler sind mir auf der Landstraße begegnet, davon hab' ich jedem ein Viertel von meinem Brot und einen Kreuzer Geld gegeben. Das letzte Viertel hab' ich im Wirtshaus gegessen und für den letzten Kreuzer dazu getrunken. Jetzt habe ich nichts mehr, und wenn du auch nichts mehr hast, so können wir miteinander betteln gehen."
"Nein", antwortete der heilige Petrus, "das wird just nicht nötig sein. Ich verstehe mich ein wenig auf die Doktorei, und damit will ich mir schon so viel verdienen, als ich brauche."
"Ja", sagte der Bruder Lustig, "davon verstehe ich nichts, also muss ich allein betteln gehen."
"Nun komm nur mit", sprach der heilige Petrus. "Wenn ich was verdiene, sollst du die Hälfte davon haben."
"Das ist mir wohl recht", sagte der Bruder Lustig. Also zogen sie miteinander fort.
Bald kamen sie an ein Bauernhaus und hörten darin gewaltig jammern und schreien; da gingen sie hinein.
Der Mann lag drinnen auf den Tod krank und war nah am Verscheiden, und die Frau heulte und weinte ganz laut. "Lasst euer Heulen und Weinen", sprach der heilige Petrus, "ich will den Mann wieder gesund machen." Er nahm eine Salbe aus der Tasche und heilte den Kranken augenblicklich, so dass er aufstehen konnte und ganz gesund war. Da sprachen Mann und Frau in großer Freude: "Wie können wir euch lohnen? Was sollen wir euch geben?" Der heilige Petrus aber wollte nichts nehmen, und je mehr ihn die Bauersleute baten, desto mehr weigerte er sich. Der Bruder Lustig aber stieß den heiligen Petrus an und sagte: "So nimm doch was, wir brauchen's ja."
Endlich brachte die Bäuerin ein Lamm und sprach zu dem heiligen Petrus, das müsste er annehmen, aber er wollte es nicht. Da stieß ihn der Bruder Lustig in die Seite und sprach: "Nimm's doch, dummer Teufel, wir brauchen's ja." Da sagte der heilige Petrus endlich: "Ja, das Lamm will ich nehmen, aber ich trag's nicht; wenn du's willst, so musst du es tragen."
"Das hat keine Not", sprach der Bruder Lustig, "das will ich schon tragen", und nahm's auf die Schulter. Nun gingen sie fort und kamen in einen Wald. Inzwischen war das Lamm dem Bruder Lustig schwer geworden, er aber war hungrig. Also sprach er zu dem heiligen Petrus: "Schau, da ist ein schöner Platz, da könnten wir das Lamm kochen und verzehren."
"Mir ist's recht", antwortete der heilige Petrus, "doch kann ich mit der Kocherei nicht umgehen. Willst du kochen, so hast du da einen Kessel, ich will derweil auf und ab gehen, bis es gar ist. Du darfst aber nicht eher zu essen anfangen, als bis ich wieder zurück bin. Ich will schon zur rechten Zeit kommen."
"Geh nur", sagte Bruder Lustig, "ich verstehe mich aufs Kochen, ich will's schon machen." Da ging der heilige Petrus fort, und der Bruder Lustig schlachtete das Lamm, machte Feuer an, warf das Fleisch in den Kessel und kochte. Das Lamm war aber schon gar und der Apostel noch immer nicht zurück. Da nahm es der Bruder Lustig aus dem Kessel, zerschnitt es und fand das Herz.
"Das soll das Beste sein", sprach er und versuchte es, zuletzt aber aß er es ganz auf. Endlich kam der heilige Petrus zurück und sprach: "Du kannst das ganze Lamm allein essen, ich will nur das Herz davon, das gib mir."
Da nahm Bruder Lustig Messer und Gabel, tat, als suchte er eifrig in dem Lammfleisch herum, konnte aber das Herz nicht finden. Endlich sagte er kurzweg: "Es ist kein's da."
"Nun, wo soll's denn sein?", sagte der Apostel.
"Das weiß ich nicht", antwortete Bruder Lustig, "aber schau, was sind wir alle beide für Narren, suchen das Herz vom Lamm, und fällt keinem von uns ein, dass ein Lamm ja kein Herz hat!"
"Ei", sprach der heilige Petrus, "das ist was ganz Neues, jedes Tier hat ja ein Herz, warum sollt ein Lamm kein Herz haben?"
"Nein, gewisslich, Bruder, ein Lamm hat kein Herz, denk nur recht nach, so wird dir's einfallen, es hat im Ernst kein's."
"Nun, es ist schon gut", sagte der heilige Petrus, "ist kein Herz da, so brauch' ich auch nichts vom Lamm, du kannst's allein essen." "Was ich halt nicht aufessen kann, das nehm' ich mit in meinem Ranzen", sprach der Bruder Lustig, aß das halbe Lamm und steckte das übrige in seinen Ranzen.
Sie gingen weiter, da machte der heilige Petrus, dass ein großes Wasser quer über den Weg floss und sie hindurch mussten. Sprach der heilige Petrus: "Geh du nur voran."
"Nein", antwortete der Bruder Lustig, "geh du voran", denn er dachte: "Wenn dem das Wasser zu tief ist, so bleib ich zurück." Da schritt der heilige Petrus hindurch, und das Wasser ging ihm nur bis ans Knie. Nun wollte Bruder Lustig auch hindurch, aber das Wasser stieg immer höher und reichte ihm schließlich bis an den Hals.
Da rief er: "Bruder, hilf mir."
Der heilige Petrus sagte: "Willst du auch gestehen, dass du das Herz von dem Lamm gegessen hast?"
"Nein", antwortete er, "ich hab' es nicht gegessen." Da stieg das Wasser noch höher und reichte ihm bis an den Mund. "Hilf mir, Bruder", rief der Soldat.
Sprach der heilige Petrus noch einmal: "Willst du auch gestehen, dass du das Herz vom Lamm gegessen hast?" "Nein", antwortete er, "ich hab' es nicht gegessen." Der heilige Petrus wollte ihn jedoch nicht ertrinken lassen, ließ das Wasser wieder fallen und half ihm hinüber.
Nun zogen sie weiter und kamen in ein Reich, da hörten sie, dass die Königstochter todkrank läge.
"Holla, Bruder", sprach der Soldat zum heiligen Petrus, "das ist ein Fang für uns, wenn wir die gesund machen, so ist uns auf ewige Zeiten geholfen." Da war ihm der heilige Petrus nicht geschwind genug. "Nun, heb' die Beine auf, Bruderherz", sprach er zu ihm, "dass wir noch zu rechter Zeit hinkommen." Der heilige Petrus ging aber immer langsamer, wie auch der Bruder Lustig ihn trieb und schob, bis sie endlich hörten, die Königstochter sei gestorben. "Da haben wir's", sprach der Bruder Lustig, "das kommt von deinem schläfrigen Gang."
"Sei nur still", antwortete der heilige Petrus, "ich kann noch mehr als Kranke gesund machen, ich kann auch Tote wieder zum Leben erwecken."
"Nun, wenn das stimmt", sagte der Bruder Lustig, "so lass ich mir's gefallen. Das halbe Königreich musst du uns aber zum wenigsten damit verdienen." Darauf gingen sie in das königliche Schloss, wo alles in großer Trauer war. Der heilige Petrus aber sagte zu dem König, er wolle die Tochter wieder lebendig machen. Da ward er zu ihr geführt, und dann sprach er: "Bringt mir einen Kessel mit Wasser", und wie der gebracht war, hieß er jedermann hinausgehen, und nur der Bruder Lustig durfte bleiben. Darauf schnitt er alle Glieder der Toten los und warf sie ins Wasser, machte Feuer unter den Kessel und ließ sie kochen. Und wie alles Fleisch von den Knochen herabgefallen war, nahm er das schöne weiße Gebein heraus und legte es auf eine Tafel und reihte und fügte es nach seiner natürlichen Ordnung zusammen. Als das geschehen war, trat er davor und sprach dreimal: "Im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit, Tote, steh auf!" Und beim dritten Mal erhob sich die Königstochter lebendig, gesund und schön. Nun war der König darüber in großer Freude und sprach zum heiligen Petrus: "Begehre deinen Lohn, und wenn's mein halbes Königreich wäre, so will ich dir's geben."
Der heilige Petrus aber antwortete: "Ich verlange nichts dafür."
"Oh, du Hans Narr!", dachte der Bruder Lustig bei sich, stieß seinen Kameraden in die Seite und sprach: "Sei doch nicht so dumm, wenn du nichts willst, so brauch ich doch was." Der heilige Petrus aber wollte nichts. Doch weil der König sah, dass der andere gerne was wollte, ließ er ihm vom Schatzmeister seinen Ranzen mit Gold anfüllen.
Sie zogen darauf weiter, und wie sie in einen Wald kamen, sprach der heilige Petrus zum Bruder Lustig: "Jetzt wollen wir das Gold teilen."
"Ja", antwortete er, "das wollen wir tun." Da teilte der heilige Petrus das Gold, und teilte es in drei Teile.
Dachte der Bruder Lustig: "Was er wieder für einen Sparren im Kopf hat! Macht drei Teile und unser sind zwei." Der heilige Petrus aber sprach: "Nun habe ich genau geteilt, ein Teil für mich, ein Teil für dich, und ein Teil für den, der das Herz vom Lamm gegessen hat."
"Oh, das hab' ich gegessen", antwortete der Bruder Lustig und strich geschwind das Gold ein, "das kannst du mir glauben."
"Wie kann das wahr sein", sprach der heilige Petrus, "ein Lamm hat ja kein Herz."
"Ei was, Bruder, wo denkst du hin. Ein Lamm hat ja ein Herz, so gut wie jedes Tier, warum sollte das allein kein's haben?"
"Nun, es ist schon gut", sagte der heilige Petrus, "behalt das Gold allein, aber ich bleibe nicht mehr bei dir und will meinen Weg allein gehen."
"Wie du willst, Bruderherz", antwortete der Soldat, "leb wohl."
Da ging der heilige Petrus eine andere Straße, Bruder Lustig aber dachte: "Es ist gut, dass er abtrabt, es ist doch ein wunderlicher Heiliger." Nun hatte er zwar Geld genug, wusste aber nicht damit umzugehen, vertat es, verschenkte es, und wie eine Zeit herum war, hatte er wieder nichts. Da kam er in ein Land, wo er hörte, dass die Königstochter gestorben wäre.
"Holla", dachte er, "das kann gut werden, die will ich wieder lebendig machen und mir's bezahlen lassen, dass es eine Art hat." Ging also zum König und bot ihm an, die Tote wieder zu erwecken. Nun hatte der König gehört, dass ein abgedankter Soldat herumziehe und die Gestorbenen wieder lebendig mache und dachte, der Bruder Lustig sei dieser Mann. Doch weil er kein Vertrauen zu ihm hatte, fragte er erst seine Räte; die sagten aber, er könne es wagen, da seine Tochter doch tot wäre. Nun ließ sich Bruder Lustig Wasser im Kessel bringen, hieß jedermann hinausgehen, schnitt die Glieder ab, warf sie ins Wasser und machte Feuer darunter, gerade wie er es beim heiligen Petrus gesehen hatte. Das Wasser fing an zu kochen, und das Fleisch fiel herab, da nahm er das Gebein heraus und tat es auf die Tafel. Er wusste aber nicht, in welcher Ordnung es liegen musste, und legte alles verkehrt durcheinander. Dann stellte er sich davor und sprach dreimal: "Im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit, Tote, steh auf", sprach's aber umsonst.
"Du Teufelsmädel, steh auf", rief er, "steh auf, oder es geht dir nicht gut."
Wie er das gesprochen, kam der heilige Petrus auf einmal in seiner vorigen Gestalt, als verabschiedeter Soldat, durchs Fenster hereingegangen und sprach: "Du gottloser Mensch, was treibst du da, wie kann die Tote auferstehen, da du ihr Gebein so untereinander geworfen hast?"
"Bruderherz, ich hab's gemacht, so gut ich konnte", antwortete er. "Diesmal will ich dir aus der Not helfen; aber das sag ich dir, wenn du noch einmal so etwas unternimmst, wirst du unglücklich. Auch darfst du von dem König nicht das Geringste dafür begehren oder annehmen." Darauf legte der heilige Petrus die Gebeine in ihre rechte Ordnung und sprach dreimal: "Im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit, Tote, steh auf." Und die Königstochter stand auf und war gesund und schön wie vorher. Nun ging der heilige Petrus wieder durch's Fenster hinaus. Der Bruder Lustig war froh, dass es so gut abgelaufen war, ärgerte sich aber doch, dass er nichts dafür nehmen sollte. "Ich möchte nur wissen", dachte er, "was der für Mucken im Kopf hat, denn was er mit der einen Hand gibt, das nimmt er mit der anderen. Da ist kein Verstand drin. " Nun bot der König dem Bruder Lustig an, was er haben wollte. Zwar durfte er nichts nehmen, doch brachte er es durch Anspielung und Listigkeit dahin, dass ihm der König seinen Ranzen mit Gold füllen ließ, und damit zog er ab. Als er hinauskam, stand vor dem Tor der heilige Petrus und sprach: "Schau, was du für ein Mensch bist. Habe ich dir nicht verboten, etwas zu nehmen, und nun hast du den Ranzen doch voll Gold?"
"Was kann ich dafür", antwortete Bruder Lustig, "wenn mir's hineingesteckt wird."
"Das sag ich dir, dass du nicht zum zweiten Mal solche Dinge unternimmst, sonst soll es dir schlimm ergehen."
"Ei, Bruder, sorg doch nicht, jetzt hab ich Gold, was soll ich mich da mit dem Knochenwaschen abgeben."
"Ja", sprach der heilige Petrus, "das Gold wird kaum lange dauern! Damit du aber hernach nicht wieder auf unerlaubten Wegen gehst, so will ich deinem Ranzen die Kraft geben, dass alles, was du dir hineinwünschst, auch darin sein soll. Leb wohl, du siehst mich nun nicht wieder."
"Gott befohlen", sprach der Bruder Lustig und dachte, "ich bin froh, dass du fortgehst, du wunderlicher Kauz, ich will dir wohl nicht nachgehen." An die Wunderkraft aber, die seinem Ranzen verliehen war, dachte er nicht weiter.
Bruder Lustig zog mit seinem Gold umher und vertat und verjubelte es wie das erste Mal. Als er nun nichts mehr als vier Kreuzer hatte, kam er an einem Wirtshaus vorbei und dachte, das Geld muss fort und ließ sich für drei Kreuzer Wein und einen Kreuzer Brot geben. Wie er dasaß und trank, kam ihm der Geruch von gebratenen Gänsen in die Nase. Bruder Lustig schaute und guckte und sah, dass der Wirt zwei Gänse in der Ofenröhre stehen hatte. Da fiel ihm ein, dass ihm sein Kamerad gesagt hatte, was er sich in seinen Ranzen wünsche, das sollte darin sein. "Holla, das musst du mit den Gänsen versuchen!"
Also ging er hinaus, und vor der Türe sprach er: "So wünsch ich die zwei gebratenen Gänse auf der Ofenröhre in meinen Ranzen." Wie er das gesagt hatte, schnallte er ihn auf und schaute hinein, da lagen sie beide darin. "Ach, so ist's recht", sprach er, "nun bin ich ein gemachter Mann." Er ging fort auf eine Wiese und holte den Braten hervor. Wie er so im besten Essen war, kamen zwei Handwerksburschen daher und sahen die eine Gans, die noch nicht angerührt war, mit hungrigen Augen an. Da dachte der Bruder Lustig: "Mit einer hast du genug" und rief die zwei Burschen herbei und sprach: "Da nehmt die Gans und verzehrt sie auf meine Gesundheit." Sie bedankten sich, gingen damit ins Wirtshaus, ließen sich eine Halbe Wein und ein Brot geben, packten die geschenkte Gans aus und fingen an zu essen. Die Wirtin sah zu und sprach zu ihrem Mann: "Die zwei essen eine Gans, sieh doch nach, ob's nicht eine von unsern aus der Ofenröhre ist." Der Wirt lief hin, da war die Ofenröhre leer. "Was, ihr Diebsgesindel, so wohlfeil wollt ihr Gänse essen?", schrie er. "Gleich bezahlt, oder ich will euch mit grünem Haselsaft waschen!" Die zwei sprachen: "Wir sind keine Diebe, ein abgedankter Soldat hat uns die Gans draußen auf der Wiese geschenkt."
"Ihr sollt mir keine Nase drehen, der Soldat ist hier gewesen, aber als ein ehrlicher Kerl zur Tür hinausgegangen, auf den hab ich achtgehabt. Ihr seid die Diebe und sollt bezahlen!" Da sie aber nicht bezahlen konnten, nahm er den Stock und prügelte sie zur Tür hinaus. Bruder Lustig ging seiner Wege und kam an einen Ort, da stand ein prächtiges Schloss und nicht weit davon ein schlechtes Wirtshaus. Er ging in das Wirtshaus und bat um ein Nachtlager, aber der Wirt wies ihn ab und sprach: "Es ist kein Platz mehr da, das Haus ist voll vornehmer Gäste." "Das nimmt mich wunder", sprach der Bruder Lustig, "dass sie zu euch kommen und nicht in das prächtige Schloss gehen."
"Ja", antwortete der Wirt, "es hat was an sich, dort eine Nacht zu liegen. Wer's versucht hat, ist nicht lebendig wieder herausgekommen."
"Wenn's andere versucht haben", sagte der Bruder Lustig, "will ich's auch versuchen."
"Das lasst nur bleiben", sprach der Wirt, "es geht euch an den Hals."
"Es wird nicht gleich an den Hals gehen", sagte der Bruder Lustig, "gebt mir nur die Schlüssel und brav Essen und Trinken mit." Nun gab ihm der Wirt die Schlüssel und Essen und Trinken, und damit ging der Bruder Lustig ins Schloss, ließ sich's gut schmecken, und als er endlich schläfrig wurde, legte er sich auf die Erde, denn es war kein Bett da. Er schlief auch bald ein. In der Nacht aber wurde er von einem großen Lärm aufgeweckt, und wie er sich ermunterte, sah er neun hässliche Teufel in dem Zimmer, die hatten einen Kreis um ihn gemacht und tanzten um ihn herum. Sprach der Bruder Lustig: "Nun tanzt, solange ihr wollt, aber komm mir keiner zu nah!" Die Teufel aber drangen immer näher auf ihn ein und traten ihm mit ihren garstigen Füßen fast ins Gesicht. "Habt Ruh, ihr Teufelsgespenster", sprach er, aber sie trieben's immer ärger. Da wird der Bruder Lustig bös und rief: "Holla, ich will bald Ruhe stiften!" Er kriegte ein Stuhlbein und schlug mitten hinein. Aber neun Teufel gegen einen Soldaten war doch zu viel, und wenn er auf den vorderen zuschlug, so packten ihn die anderen hinten bei den Haaren und rissen ihn erbärmlich. "Teufelspack", rief er, "jetzt wird mir's zu arg. Wartet ab! Alle neune in meinen Ranzen hinein!" Husch, steckten sie darin, und nun schnallte er ihn zu und warf ihn in eine Ecke. Da war's auf einmal still, und Bruder Lustig legte sich wieder hin und schlief bis in den hellen Morgen. Nun kamen der Wirt und der Edelmann, dem das Schloss gehörte, und wollten sehen, wie es ihm ergangen wäre. Als sie ihn gesund und munter erblickten, erstaunten sie und fragten: "Haben euch denn die Geister nichts getan?"
"Warum nicht gar", antwortete Bruder Lustig, "ich habe sie alle neune in meinem Ranzen. Ihr könnt euer Schloss wieder ganz ruhig bewohnen, es wird von nun an keiner mehr darin umgehen!" Da dankte ihm der Edelmann, beschenkte ihn reichlich und bat ihn, in seinen Diensten zu bleiben, er wollte ihn auf sein Lebtag versorgen.
"Nein", antwortete er, "ich bin an das Herumwandern gewöhnt, ich will weiterziehen." Da ging der Bruder Lustig fort, trat in eine Schmiede und legte den Ranzen, worin die neun Teufel waren, auf den Amboss und bat den Schmied und seine Gesellen zuzuschlagen. Die schlugen mit ihren großen Hämmern aus allen Kräften zu, dass die Teufel ein erbärmliches Gekreisch erhoben. Wie er danach den Ranzen aufmachte, waren achte tot, einer aber, der in einer Falte gesessen hatte, war noch lebendig, schlüpfte heraus und fuhr wieder in die Hölle.
Darauf zog der Bruder Lustig noch lange in der Welt herum, und wer's wüsste, könnte viel davon erzählen. Endlich aber wurde er alt und dachte an sein Ende, da ging er zu einem Einsiedler, der als ein frommer Mann bekannt war und sprach zu ihm: "Ich bin das Wandern müde und will nun trachten, in das Himmelreich zu kommen."
Der Einsiedler antwortete: "Es gibt zwei Wege, der eine ist breit und angenehm und führt zur Hölle, der andere ist eng und rau und führt zum Himmel."
"Da müsst' ich ein Narr sein", dachte der Bruder Lustig, "wenn ich den engen und rauen Weg gehen sollte." Machte sich auf und ging den breiten und angenehmen Weg und kam endlich zu einem großen schwarzen Tor, und das war das Tor der Hölle.
Bruder Lustig klopfte an, und der Torwächter guckte, wer da wäre. Wie er aber den Bruder Lustig sah, erschrak er, denn er war gerade der neunte Teufel, der mit in dem Ranzen gesteckt hatte und mit einem blauen Auge davon gekommen war. Darum schob er den Riegel geschwind wieder vor, lief zum Obersten der Teufel und sprach: "Draußen ist ein Kerl mit einem Ranzen und will herein, aber lasst ihn beileibe nicht herein, er wünscht sonst die ganze Hölle in seinen Ranzen. Er hat mich einmal garstig darin hämmern lassen." Also wurde dem Bruder Lustig zugerufen, er sollte wieder gehen, er käme nicht herein.
"Wenn sie mich da nicht wollen", dachte er, "will ich sehen, ob ich im Himmel ein Unterkommen finde, irgendwo muss ich doch bleiben." Kehrte also um und zog weiter, bis er vor das Himmelstor kam, wo er auch anklopfte. Der heilige Petrus saß gerade dabei als Torwächter. Der Bruder Lustig erkannte ihn gleich und dachte, hier findest du einen alten Freund, da wird's besser gehen."
Aber der heilige Petrus sprach: "Ich glaube gar, du willst in den Himmel?"
"Lass mich doch ein, Bruder, ich muss doch wo einkehren, hätten sie mich in der Hölle aufgenommen, so wär' ich nicht hierher gegangen."
"Nein", sagte der heilige Petrus, "du kommst nicht herein."
"Nun, willst du mich nicht einlassen, so nimm auch deinen Ranzen wieder, dann will ich gar nichts von dir haben, sprach der Bruder Lustig.
"So gib ihn her", sagte der heilige Petrus. Da reichte er den Ranzen durchs Gitter in den Himmel hinein, und der heilige Petrus nahm ihn und hängte ihn neben seinen Sessel. Da sprach der Bruder Lustig: "Nun wünsch ich mich selbst in meinen Ranzen hinein." Husch, war er darin und saß nun im Himmel, und der heilige Petrus musste ihn darin lassen.

Strohhalm, Kohle und Bohne

In einem Dorfe wohnte eine arme alte Frau, die hatte ein Gericht Bohnen zusammengebracht und wollte sie kochen. Sie machte also auf ihrem Herd ein Feuer zurecht, und damit es desto schneller brennen sollte, zündete sie es mit einer Handvoll Stroh an. Als sie die Bohnen in den Topf schüttelte, entfiel ihr unbemerkt eine, die auf dem Boden neben einen Strohhalm zu liegen kam; bald danach sprang auch eine glühende Kohle vom Herd zu den beiden herab.
Da fing der Strohhalm an und sprach: „Liebe Freunde, von wannen kommt ihr her?“
Die Kohle antwortete: Ich bin zu gutem Glück dem Feuer entsprungen, und hätte ich das nicht mit Gewalt durchgesetzt, so war mir der Tod gewiss: ich wäre zu Asche verbrannt.“
Die Bohne sagte: „Ich bin auch noch mit heiler Haut davongekommen, aber hätte mich die Alte in den Topf gebracht, ich wäre ohne Barmherzigkeit zu Brei gekocht worden, wie meine Kameraden..
„Wäre mir denn ein besser Schicksal zuteil geworden?“, sprach das Stroh, „alle meine Brüder hat die Alte in Feuer und Rauch aufgehen lassen, sechzig hat sie auf einmal gepackt und ums Leben gebracht. Glücklichwerweise bin ich ihr zwischen den Fingern durchgeschlüpft.“
„Was sollen wir aber nun anfangen?“, sprach die Kohle.
„Ich meine“, antwortete die Bohne, „weil wir so glücklich dem Tode entronnen sind, wollen wir uns als gute Gesellen zusammenhalten und, damit uns hier nicht wieder ein neues Unglück ereilt, auswandern und in ein fremdes Land ziehen.“
Der Vorschlag gefiel den beiden andern, und sie machten sich miteinander auf den Weg. Bald aber kamen sie an einen kleinen Bach, und da keine Brücke oder Steg da war, so wussten sie nicht, wie sie hinüberkommen sollten. Der Strohhalm fand guten Rat und sprach: „Ich will mich quer überlegen, so könnt ihr auf mir wie auf einer Brücke hinübergehen.“
Der Strohhalm streckte sich also von einem Ufer zum andern, und die Kohle, die von hitziger Natur war, trippelte auch ganz keck auf die neugebaute Brücke. Als sie aber in die Mitte gekommen war und unter ihr das Wasser rauschen hörte, ward ihr angst: sie blieb stehen und getraute sich nicht weiter. Der Strohhalm aber fing an, zu brennen, zerbrach in zwei Stücke und fiel in den Bach; die Kohle rutschte nach, zischte wie sie ins Wasser kam und gab den Geist auf.
Die Bohne, die vorsichtigerweise noch auf dem Ufer zurückgeblieben war, musste über die Geschichte lachen, konnte nicht aufhören, und lachte so gewaltig, dass sie zerplatzte. Nun war es ebenfalls um sie geschehen, wenn nicht zu gutem Glück ein Schneider, der auf der Wanderschaft war, sich an dem Bach ausgeruht hätte. Weil er ein mitleidiges Herz hatte, so holte er Nadel und Zwirn heraus und nähte sie zusammen. Die Bohne bedankte sich bei ihm aufs schönste; aber da er schwarzen Zwirn gebraucht hatte, so haben seit der Zeit alle Bohnen eine schwarze Naht.

Der Wolf und die sieben jungen Geißlein

Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein. Sie hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder lieb hat. Eines Tages wollte sie in den Wald und Futter holen. Sie rief alle sieben herbei und sprach: "Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut vor dem Wolf, denn wenn er ins Haus hereinkommt, frisst er euch alle mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an seiner rauen Stimme und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn sogleich erkennen."
"Liebe Mutter", sagten die Geißlein, "wir wollen uns schon in acht nehmen. Du kannst ohne Sorge fortgehen."
Da meckerte die Alte und machte sich getrost auf den Weg.
Nicht lange danach klopfte es an die Haustür und eine Stimme rief: "Macht auf, liebe Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem etwas mitgebracht." Aber die Geißlein hörten an der rauen Stimme, dass es der Wolf war. "Wir machen nicht auf", riefen sie, "du bist nicht unsere Mutter, denn sie hat eine feine und liebliche Stimme, aber die deine ist rau. Du bist der Wolf." Da ging der Wolf fort zu einem Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide. Er aß sie und machte damit seine Stimme fein. Dann kehrte er zurück, klopfte erneut an die Tür und rief: "Macht auf, liebe Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem etwas mitgebracht." Aber der Wolf hatte seine schwarze Pfote auf das Fensterbrett gelegt. Das sahen die Geißlein und riefen: "Unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß wie du. Wir machen dir nicht auf, denn du bist der Wolf." Jetzt lief der Unhold zu einem Bäcker und sprach: "Ich habe mir den Fuß aufgestoßen, streich mir Teig darüber." Als ihm der Bäcker die Pfote bestrichen hatte, lief er zum Müller und sagte: "Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote." Der Müller aber dachte: "Der Wolf will einen betrügen" und weigerte sich. Der Wolf aber sprach: "Wenn du es nicht tust, so fresse ich dich." Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß.
Nun ging der Bösewicht zum dritten Mal zu den Geißlein, klopfte an und sagte: "Macht mir auf, Kinder, euer liebes Mütterchen ist heimgekommen und hat jedem etwas aus dem Walde mitgebracht.“
„Zeig uns erst deine Pfote", riefen die Geißlein, "damit wir wissen, dass du unser liebes Mütterchen bist." Da legte er die Pfote auf das Fensterbrett, und als sie sahen, dass sie weiß war, glaubten sie ihm, was er sagte, und machten die Türe auf. Wer aber hereinkam, war der Wolf. Sie erschraken und wollten sich verstecken. Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel und das siebte in den Uhrenkasten. Aber der Wolf fand sie doch und machte nicht langes Federlesen. Eines nach dem andern verschluckte er. Nur das jüngste im Uhrenkasten fand er nicht. Als der Wolf sich so gesättigt hatte, trollte er sich fort, legte sich draußen auf der grünen Wiese unter einen Baum und schlief ein.
Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde zurück. Wie erschrak sie, als die Haustüre sperrangelweit offen stand! Der Tisch, die Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben und Decken und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, konnte sie aber nirgends finden. Nacheinander rief sie alle beim Namen, doch niemand antwortete ihr. Endlich, als sie nach dem jüngsten rief, ertönte eine feine Stimme: "Liebe Mutter, ich stecke im Uhrenkasten." Sie holte das Geißlein heraus, und es erzählte ihr, dass der Wolf alle anderen Geißlein gefressen habe.
In ihrem Jammer ging sie aus dem Haus, und das jüngste Geißlein lief mit. Als sie auf die Wiese kamen, lag der Wolf unter dem Baum und schnarchte, dass die Äste zitterten. Von allen Seiten betrachtete sie ihn und sah, dass sich in seinem dicken Bauche etwas regte und bewegte. "Ach Gott", dachte sie, "sollten meine armen Kinder, die er zum Abendbrot hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein?" Da musste das Geißlein nach Hause laufen, um Schere, Nadel und Zwirn zu holen. Geschwind schnitt sie dann dem Ungetüm den Wanst auf. Kaum hatte sie einen Schnitt getan, da streckte auch schon ein Geißlein den Kopf heraus, und als sie weiter schnitt, sprangen alle sechse nacheinander heraus und hatten nicht den kleinsten Schaden erlitten, denn das Ungetüm hatte sie in der Gier ganz hinuntergeschluckt. Da herzten sie ihre liebe Mutter und hüpften vor Freude umher. Die alte Geiß aber sagte: "Jetzt geht und sucht mir Wackersteine. Damit wollen wir dem gottlosen Tier den Bauch füllen, solange es noch im Schlafe liegt." Eilends schleppten die sieben Geißlein die Steine herbei und füllten ihm damit den Bauch. Dann nähte ihn die Alte flink wieder zu, dass er nichts merkte und sich nicht einmal regte.
Als der Wolf endlich ausgeschlafen hatte, machte er sich auf die Beine. Weil ihm aber die Steine im Bauch so großen Durst erregten, wollte er zu einem Brunnen gehen und trinken. Wie er aber anfing, sich hin und her zu bewegen, stießen die Steine in seinem Bauch aneinander, dass es gewaltig rappelte. Da rief er:
"Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?
Ich meinte, es wären sechs Geißlein
und sind doch lauter Wackerstein."
Als er an den Brunnen kam und sich über das Wasser bückte und trinken wollte, zogen ihn die schweren Steine hinein, und er musste jämmerlich ersaufen. Wie das die sieben Geißlein sahen, kamen sie herbei gelaufen, riefen laut: "Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!" und tanzten mit ihrer Mutter vor Freude um den Brunnen herum.

Die drei Brüder

Es war ein Mann, der hatte drei Söhne und weiter nichts als das Haus, worin er wohnte. Nun hätte jeder gerne nach seinem Tod das Haus gehabt; dem Vater war aber einer so lieb wie der andere, und da wusste er nicht, wie er’s anfangen sollte. Verkaufen wollte er das Haus nicht, weil’s von seinen Voreltern war, sonst hätte er das Geld unter die Söhne geteilt. Da fiel ihm endlich ein Rat ein, und er sprach zu ihnen: „Geht in die Welt und versucht euch! Lerne jeder sein Handwerk! Wenn ihr wiederkommt, dann soll der das Haus haben, der das beste Meisterstück macht.“
Da waren die Söhne zufrieden, und der älteste wollte ein Hufschmied, der zweite ein Barbier, der dritte aber ein Fechtmeister werden. Darauf bestimmten sie eine Zeit, zu der sie alle wieder nach Haus kommen wollten, und zogen fort. Es traf sich auch, dass jeder einen tüchtigen Lehrmeister fand, bei dem er etwas Rechtschaffenes lernte. Der Schmied musste des Königs Pferde beschlagen und dachte: Nun kann dir`s nicht fehlen, du kriegst das Haus.
Der Barbier rasierte lauter vornehme Herren und meinte auch, das Haus wäre schon sein.
Der Fechtmeister kriegte manchen Hieb, biss aber die Zähne zusammen und ließ sich’s nicht verdrießen, denn er dachte bei sich: Fürchtest du dich vor einem Hieb, so kriegst du das Haus nimmermehr.
Als nun die Zeit um war, kamen sie bei ihrem Vater wieder zusammen, sie wussten aber nicht, wie sie die beste Gelegenheit finden sollten, ihre Kunst zu zeigen, saßen beisammen und ratschlagten.
Wie sie so saßen, kam auf einmal ein Hase übers Feld dahergelaufen.
„Ei“, sagte der Barbier, „der kommt wie gerufen“, nahm Becken und Seife, schlug so lange Schaum, bis der Hase in die Nähe kam, dann seifte er ihn im vollen Laufe ein und rasierte ihm ein Stutzbärtchen; dabei schnitt er ihn nicht und tat ihm an keinem haar weh.
„Das gefällt mir“, sagte der Vater, „wenn sich die andern nicht gewaltig anstrengen, so ist das Haus dein.“
Es währte nicht lange, da kam ein Herr in einem Wagen dahergebraust in vollem Jagen. „Nun sollt Ihr sehen, Vater, was ich kann“, sprach der Hufschmied, sprang dem Wagen nach, riss dem Pferd das in einem fortjagte, die vier Hufeisen ab und schlug ihm auch im Jagen vier neue wieder an.
„Du bist ein ganzer Kerl“, sprach der Vater, „du machst deine Sache so gut wie dein Bruder; ich weiß nicht, wem ich das Haus geben soll.“
Da sprach der dritte: „Vater, lasst mich auch einmal gewähren!“
Weil es aber anfing zu regnen, zog er seinen Degen und schwenkte ihn über seinem kopf, dass kein Tropfen auf ihn fiel, als der Regen stärker wurde und endlich so stark, als ob man mit Mulden vom Himmel gösse, schwang er den Degen immer schneller und blieb so trocken, als säße er unter Dach und Fach. Als der Vater das sah, erstaunte er und sprach: „Du hast das beste Meisterstück vollbracht, das Haus ist dein.“
Die beiden andern Brüder waren damit zufrieden. Weil sie einander aber liebhatten, blieben sie alle drei zusammen im Haus und trieben ihr Handwerk. Da sie so geschickt waren, verdienten sie viel Geld. So lebten sie vergnügt bis in ihr Alter zusammen.

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren

Eine arme: Frau brachte einst ein Söhnlein zur Welt.
Es war aber ein Sonntagskind und deshalb wurde ihm geweissagt, es werde in seinem vierzehnten Jahr die Tochter eines Königs zur Frau bekommen. Nun geschah es, dass der König durch das Dorf ritt ohne dass ihn jemand erkannte. Als er die Leute fragte, was Neues geschehen sei, antworteten sie: "In diesen Tagen ist ein Kind mit einer Glückshaut geboren worden, ein Sonntagskind, dem alles zum Glück ausschlägt. Es ist ihm auch geweissagt, dass es in seinem vierzehnten Jahr die Königstochter zur Frau bekommen soll." Der König, der ein böses Herz hatte und sich über die Weissagung ärgerte, ging zu den Eltern des Kindes" stellte sich freundlich und sprach: "Ihr armen Leute, überlasst mir euer Kind, ich will es versorgen." Anfangs weigerten sie sich. Als aber der fremde Mann schweres Gold dafür bot, willigten sie endlich ein. "Es ist ein Glückskind", dachten sie, " und es wird auch dies zu seinem Besten sein." Der König nahm das Kind und ritt mit ihm fort, bis er an ein tiefes Wasser kam. Dort nahm er das Körbchen, in dem das Kind lag und warf es hinein. Aber das Körbchen ging nicht unter, sondern schwamm fort wie ein kleines Schiff. Bis zwei Meilen vor des Königs Hauptstadt trug es das Wasser. Endlich aber blieb es am
Wehr einer Mühle hängen. Glücklicherweise stand ein Müllersbursche dort und zog das Körbchen mit einem Haken aus dem Wasser, weil er glaubte, etwas Kostbares darin zu finden. Als er es aber näher besah, fand er einen schönen Knaben darin. Er brachte ihn zu den Müllersleuten, und weil die Müllerin keine Kinder hatte, sprach sie zu ihrem Mann: "Gott hat uns das Kind beschert, lass uns den Findling an Kindesstatt annehmen."
Einmal trug es sich zu, dass der König bei einem Gewitter in die Mühle trat und die Müllersleute fragte, ob der große Junge ihr Sohn sei. "Nein", antworteten sie, "es ist ein Findling; vor vierzehn Jahren haben wir ihn in einem Körbchen am Wehr gefunden. Der Müllersbursche hat ihn aus dem Wasser gezogen." Da erkannte der König, dass der Junge niemand anderes sein konnte als das Glückskind, das er ins Wasser geworfen hatte, und sprach: "Ihr guten Leute. Ich will dem Jungen zwei Goldstücke zum Lohn geben, wenn er einen Brief zur Frau Königin trägt." "Wie der König gebietet", erwiderten die Leute, und hießen den Jungen sich bereitmachen. Alsbald schrieb der König einen Brief an die Königin. Darin aber stand:
"Sobald der Knabe mit diesem Briefe anlangt, soll er getötet und begraben werden, und das alles soll geschehen, ehe ich zurückkomme."
Der Knabe machte sich mit diesem Briefe auf den Weg, verirrte sich aber und kam abends in einen großen Wald. In der Dunkelheit sah er ein kleines Licht. Er ging darauf zu und gelangte zu einem kleinen Haus. Als er eintrat, sah er eine alte Frau am Feuer sitzen. Sie erschrak und sprach: "Wo kommst du her, und wo willst du hin?"
"Ich komme von der Mühle", antwortete er, "und will zur Frau Königin. Ich soll ihr einen Brief überbringen. Weil ich mich aber im Wald verirrt habe, so wünschte ich, dass ich hier übernachten könnte."
"Armer Junge", entgegnete die Alte, "du bist in ein Räuberhaus geraten. Wenn die Räuber heimkommen, bringen sie dich um."
"Ich fürchte mich nicht vor ihnen", sagte der Junge. "Außerdem bin ich so müde, dass ich nicht weiterkann." Er streckte sich auf eine Bank und schlief ein. Bald danach kamen die Räuber zurück und sahen den schlafenden Knaben. "Es ist ein unschuldiges Kind", sagte die Alte, "es hat sich im Walde verirrt, und ich habe es aus Barmherzigkeit aufgenommen. Es sollte einen Brief zur Frau Königin tragen." Die Räuber erbrachen den Brief und lasen ihn. Als sie erfuhren, dass der Knabe nach des Königs Befehl umgebracht werden solle, empfanden die hartherzigen Räuber Mitleid. Der Hauptmann zerriss den Brief und schrieb einen andern. Darin aber stand, sobald der Knabe ankomme, solle er sogleich mit der Königstochter vermählt werden. Bis zum anderen Morgen ließen die Räuber den Jungen auf der Bank liegen. Als er aufgewacht war, gaben sie ihm den Brief und wiesen ihn auf den rechten Weg. Sobald die Königin den Brief empfangen und gelesen hatte, tat sie, wie darin stand. Sie ließ ein prächtiges Hochzeitsfest anstellen und ihre Tochter mit dem Sonntagskind vermählen.
Nach einiger Zeit kam der König wieder in sein Schloss zurück und erkannte, dass sich die Weissagung erfüllt hatte und das Sonntagskind mit seiner Tochter vermählt war. "Wie ist das zugegangen?" fragte er zornig. "Ich habe in meinem Brief einen ganz anderen Befehl erteilt." Da zeigte ihm die Königin den Brief, und der König merkte wohl, dass sein Brief mit einem anderen vertauscht worden war. Er fragte den Jüngling, was er mit dem Briefe getan habe, den er ihm anvertraut hatte. "Ich weiß von nichts", antwortete der Jüngling, "er muss in der Nacht, als ich in dem Waldhaus geschlafen habe, vertauscht worden sein."
Zornig antwortete der König: "So leicht sollst du meine Tochter nicht bekommen. Wer sie haben will, der muss mir aus der Hölle drei goldene Haare vom Haupt des Teufels holen. Bringst du mir, was ich verlange, so sollst du meine Tochter behalten." In Wahrheit hoffte der König, den Jüngling so auf immer loszuwerden. Das Glückskind aber antwortete: "Vor dem Teufel fürchte ich mich nicht, und die goldenen Haare werde ich dir holen." Darauf nahm er Abschied und machte sich auf die Wanderschaft.
Der Weg führte ihn zu einer großen Stadt, wo ihn der Torwächter fragte, welches Gewerbe er betreibe und was er alles wisse. "Ich weiß alles", antwortete das Glückskind.
"So kannst du uns einen Gefallen tun", erwiderte der Wächter, "wenn du uns sagst, warum unser Marktbrunnen, aus dem sonst Wein sprudelte, versiegt ist und nicht einmal mehr Wasser spendet."
"Das sollt ihr erfahren", entgegnete der Jüngling, "wartet nur, bis ich wieder zurückkomme." Er ging weiter bis zu einer anderen Stadt. Dort wollte der Torwächter wieder wissen, welches Gewerbe er treibe und was er alles kenne und wisse. "Ich weiß alles", antwortete er.
"So kannst du uns einen Gefallen tun", sagte der Torwächter, "und uns erklären, warum ein Baum in unserer Stadt, der sonst goldene Apfel trug, nicht einmal mehr grüne Blätter hervor treibt."
"Das sollt ihr erfahren", entgegnete er, "wartet nur, bis ich wieder zurückkomme." Er ging weiter und kam schließlich zu einem großen Wasser, über das er hinüber musste. Auch dort fragte ihn der Fährmann, welches Gewerbe er treibe und was er wisse. "Ich weiß alles", antwortete er.
"So kannst du mir einen Gefallen tun", sagte der Fährmann, "und mir erklären, warum ich immer hin- und herfahren muss und niemals abgelöst werde."
"Das sollst du erfahren", sprach er, "warte nur, bis ich wieder zurückkomme."
Als er das Wasser überquert hatte und weitergegangen war, fand er den Eingang zur Hölle. Schwarz und rußig war es darin, und der Teufel war nicht zu Hause. Nur des Teufels Großmutter saß dort in einem breiten Sorgenstuhl. Sie sah gar nicht so böse aus.
"Was willst du?" sprach sie zu ihm.
"Ich wollte gerne drei goldene Haare von des Teufels Kopf", antwortete er, "sonst kann ich meine Frau nicht behalten."
"Das ist etwas viel verlangt", sagte sie, "wenn der Teufel keim kommt und findet dich, so geht es dir an den Kragen. Aber du dauerst mich. Ich will sehen, ob ich dir helfen kann." Sie verwandelte ihn in eine Ameise und sagte: "Kriech in eine meiner Rockfalten, dort bist du sicher."
"Ja", entgegnete er, "das ist schon gut, aber drei Dinge hätte ich noch gerne gewusst: warum ein Brunnen, aus dem sonst Wein sprudelte, versiegt ist und nicht einmal mehr Wasser gibt. Und warum ein Baum, der goldene Apfel trug, jetzt nicht einmal mehr Laub treibt, und warum ein Fährmann immer hinüber- und herüberfahren muss und nicht abgelöst wird."
"Das sind schwere Fragen", sprach sie, "aber halte dich nur still und ruhig und hab acht darauf, was der Teufel spricht, wenn ich ihm die drei goldenen Haare ausreiße."
Am Abend kam der Teufel nach Haus. Kaum war er eingetreten, da merkte er, dass die Luft nicht rein war. "Ich rieche Menschenfleisch", sagte er, "hier ist es nicht richtig." Er witterte und spähte in allen Ecken und suchte, konnte aber nichts finden. Die Großmutter schalt ihn aus. "Eben habe ich alles in Ordnung gebracht, und nun wirfst du mir alles durcheinander. Immer hast du Menschenfleisch in der Nase. Setz dich nieder und iss dein Abendbrot." Als er gegessen und getrunken hatte, wurde er müde und legte der Großmutter den Kopf in den Schoß. Es dauerte nicht lange, so war er eingeschlafen und schnarchte. Da fasste die Alte ein goldenes Haar, riss es aus und legte es neben sich. "Au!", schrie der Teufel, "was tust du da?"
"Ich habe einen schweren Traum gehabt", antwortete des Teufels Großmutter, "da habe ich dir in die Haare gefasst."
"Wovon hast du denn geträumt?", fragte der Teufel.
"Mir hat geträumt", sagte die Großmutter, "ein Marktbrunnen, aus dem sonst Wein quoll, sei versiegt, und es habe nicht einmal Wasser daraus quellen wollen. Was ist wohl schuld daran?"
"Hihi, wenn sie es wüssten!" lachte der Teufel. "Es sitzt eine Kröte unter einem Stein im Brunnen. Wenn sie die Kröte töten, wird der Wein auch wieder fließen." Wieder begann er einzuschlummern, und schließlich schnarchte er so laut, dass die Fenster zitterten. Da riss sie ihm das zweite Haar aus.
"Hu! Was machst du!", schrie der Teufel zornig.
"Nimm mir's nicht übel, ich habe es im Traum getan."
"Wovon hast du denn schon wieder geträumt?" fragte er.
"Mir hat geträumt", sagte des Teufels Großmutter, "in einem Königreich stehe ein Obstbaum, der trug bisher goldene Apfel, jetzt aber treibt er nicht einmal mehr grünes Laub. Wie ist das wohl zu erklären?"
"Hihi, wenn sie es wüssten!" lachte der Teufel. "An der Wurzel nagt eine Maus, wenn sie die Maus töten, wird der Baum wieder goldene Apfel tragen, nagt sie aber noch länger, so verdorrt der Baum. Aber lass mich mit deinen Träumen in Ruhe." Die Großmutter sprach ihm gut zu, bis er eingeschlafen war und wieder schnarchte, dass die Fenster zitterten. Da fasste sie das dritte goldene Haar und riss es ihm aus. Wütend fuhr der Teufel in die Höhe, aber sie besänftigte ihn nochmals und sprach: "Wer kann für böse Träume."
"Wovon hast du denn diesmal geträumt?" fragte er neugierig. "Mir hat von einem Fährmann geträumt, der sich beklagt, dass er immer hin- und herfahren müsse und nicht abgelöst werde. Was ist wohl schuld daran?"
"Hihi, der Dummbart!", lachte der Teufel. "Wenn einer kommt und will hinüberfahren, so muss er ihm die Stange in die Hand geben, dann muss der andere Fährmann sein, und er ist frei." Wieder schlief er ein, und da des Teufels Großmutter die drei goldenen Haare hatte und der Teufel ihr auch die drei Fragen beantwortet hatte, so ließ sie ihn schlafen, bis der Tag anbrach.
Als der Teufel wieder fortgezogen war, holte die Alte die Ameise aus der Rockfalte und gab dem Glückskind seine menschliche Gestalt zurück. "Da hast du die drei goldenen Haare", sprach sie; "was der Teufel zu den drei Fragen gesagt hat, wirst du wohl vernommen haben."
"Ja", antwortete der Jüngling, "ich habe alles gehört und will es wohl behalten."
"So ist dir geholfen", sagte sie, "und nun kannst du deiner Wege ziehen." Er bedankte sich bei der Alten für die Hilfe in der Not, verließ die Hölle und war vergnügt, dass ihm alles so wohl geglückt war. Auf seinem Wege nach Haus begegnete er als erstem dem Fährmann. Er sollte ihm die versprochene Antwort geben. "Fahr mich erst hinüber", sagte das Glückskind, "dann will ich dir verraten, wie du erlöst werden kannst." Drüben am anderen Ufer gab er ihm des Teufels Rat: "Wenn wieder einer kommt und will übergefahren sein, so gib ihm nur die Stange in die Hand." Er ging weiter und kam zu der Stadt, worin der unfruchtbare Baum stand. Auch dort wollte der Wächter die versprochene Antwort haben. Da sagte er zu ihm: "Töte die Maus, die an seiner Wurzel nagt, so wird er wieder goldene Apfel tragen." Der Wächter bedankte sich und schenkte ihm zur Belohnung zwei mit Gold beladene Esel. Zuletzt kam er zu der Stadt, deren Brunnen versiegt war. Da sprach er zu dem Wächter: "Es sitzt eine Kröte im Brunnen unter einem Stein. Wenn ihr sie tötet, wird er wieder reichlich Wein geben." Der Wächter dankte und schenkte ihm gleichfalls zwei mit Gold beladene Esel.
Endlich langte das Glückskind daheim bei seiner Gemahlin an, die sich herzlich freute, als sie ihn wiedersah. Er brachte dem König, was er verlangt hatte, die drei goldenen Haare des Teufels. Als der König die vier Esel mit dem Gold sah, wurde er ganz vergnügt und sprach: "Du kannst meine Tochter behalten, denn du hast alle meine Bedingungen erfüllt, aber sage mir, woher hast du das viele Gold?"
"Ich bin über einen Fluss gefahren", antwortete der Jüngling, "und dort habe ich es mitgenommen, es liegt dort statt des Sandes am Ufer."
"Kann ich mir auch davon holen?", fragte der König voller Begier.
"So viel ihr nur wollt", antwortete er, "ihr trefft am Fluss einen Fährmann, von dem lasst euch überfahren, dann könnt ihr drüben eure Säcke füllen." In aller Eile machte sich der böse, habsüchtige König auf den Weg. Am Flusse winkte er den Fährmann heran; er solle ihn übersetzen. Der Fährmann kam und ließ ihn einsteigen. Am jenseitigen Ufer aber gab er ihm die Ruderstange in die Hand und sprang davon. Von nun an musste der König des Fährmanns Werk verrichten zur Strafe für sein böses Herz.

Die sieben Raben

Ein Mann hatte sieben Söhne, aber keine Tochter.
Endlich, nach langer Zeit, schenkte ihm seine Frau ein Kind, und als es zur Welt kam, war es ein Mädchen. Seine Freude war groß. Aber das Kind war klein und schmächtig und sollte deshalb die Nottaufe erhalten. Der Vater schickte einen seiner Knaben zur Quelle, damit er Taufwasser hole. Die anderen sechs aber liefen mit, und weil jeder der erste beim Wasserschöpfen sein wollte, fiel ihnen der Krug in den Brunnen. Ratlos standen sie, und keiner von ihnen getraute sich heim. Darüber wurde der Vater ungeduldig und dachte: "Gewiss haben sie das Wasserholen über einem Spiel vergessen." Und weil er fürchtete, das Mädchen müsse ohne Taufe sterben, rief er ärgerlich: "Ich wollte, dass die Jungen gleich zu Raben würden." Kaum hatte er das Wort gesprochen, so vernahm er ein Geschwirr über seinem Haupte. Er blickte in die Höhe und sah sieben kohlschwarze Raben davonfliegen.
So traurig die Eltern über den Verlust ihrer sieben Söhne waren, so trösteten sie sich doch einigermaßen an ihrem Töchterchen, das bald zu Kräften kam und mit jedem Tage schöner wurde. Lange Zeit wusste es nicht, dass es Geschwister gehabt hatte, denn die Eltern hüteten sich, darüber zu sprechen. Eines Tages aber hörte es Leute von sich sprechen und vernahm, dass es Schuld am Unglück seiner sieben Brüder habe. Betrübt ging es zu Vater und Mutter und fragte sie, ob es wirklich Brüder gehabt habe und wo sie hingeraten seien. Die Eltern konnten das Geheimnis nicht länger verschweigen und meinten, das sei des Himmels Verhängnis gewesen. Allein, das Mädchen machte sich täglich ein Gewissen daraus und glaubte, es müsse seine Geschwister erlösen. Es fand keine Ruhe und Rast. Heimlich machte es sich auf und ging in die weite Welt hinaus, um seine Brüder auszuspüren und zu befreien. Außer einem Fingerring, den es zum Andenken an die Eltern trug, nahm es einen Laib Brot mit, ein Krüglein Wasser und ein Stühlchen, um ausruhen zu können.
Nun ging es immerzu bis ans Ende der Welt. Da kam es zur Sonne, aber die Sonne war heiß und fürchterlich und fraß die kleinen Kinder. Eilig lief es weg, bis es zum Mond gelangte. Aber der Mond war kalt, grausam und bös, und als er das Kind witterte, sprach er: "Ich rieche Menschenfleisch." Da machte es sich eilig fort und kam endlich zu den Sternen. Die Sterne waren ihm freundlich und gut, und jeder saß auf seinem eigenen Stühlchen. Der Morgenstern aber stand auf, gab ihm ein Knöchelchen in die Hand und sprach: "Du musst zum Glasberg gehen. Im Glasberg sitzen deine Brüder. Wenn du aber das Knöchelchen nicht hast, kannst du den Glasberg nicht aufschließen." Da nahm das Mädchen das Knöchelchen, wickelte es in ein Tuch und wanderte so lange weiter, bis es vor dem Glasberg stand. Das Tor war verschlossen. Aber als es das Tuch aufmachte, um das Knöchelchen hervorzuholen, war es leer. Es hatte das Geschenk der guten Sterne verloren. Da nahm das gute Schwesterchen ein Messer, schnitt sich ein kleines Fingerchen ab, steckte es in das Schloss und öffnete damit das Tor, denn es wollte ja seine Brüder erretten. Auf einmal kam ihm ein Zwerglein entgegen. "Mein Kind", sprach es, "was suchst du?" "Meine Brüder, die sieben Raben", antwortete es. Darauf erwiderte der Zwerg: "Die Herren Raben sind nicht zu Haus, aber wenn du warten willst, bis sie kommen, so tritt ein." Er trug die Speise der Raben herein auf sieben winzigen Tellern und in sieben winzigen Bechern, und von jedem Teller aß das Mädchen ein Bröcklein und trank aus jedem Becher ein Schlückchen. In den letzten winzigen Becher aber ließ es den Fingerring fallen, den es von den Eltern bekommen hatte. Plötzlich hörte es in der Luft ein Geschwirr. "Jetzt kommen die Herren Raben heimgeflogen ", sprach der Zwerg. Sie traten ein, und wollten essen und trinken. Da sprach einer nach dem anderen: "Wer hat von meinem Teller gegessen und wer hat aus meinem Becher getrunken? Das ist eines Menschen Mund gewesen." Als der siebte seinen Becher leer getrunken hatte, rollte ihm der Fingerring entgegen. Er sah ihn an und erkannte, dass es ein Ring von Vater und Mutter war. "Wollte Gott, unsere Schwester stünde da, so wären wir erlöst", seufzte er. Als das Mädchen, das lauschend hinter der Türe stand, den Wunsch des Bruders hörte, trat es
hervor, und da bekamen die sieben Raben ihre menschliche Gestalt wieder. Sie herzten und küssten sich vor Freude und zogen fröhlich heim.

Daumesdick

Es lebte einmal ein armer Bauer. Des Abends saß er am Herd und schürte das Feuer, und seine Frau saß daneben und spann. "Wie ist es doch so traurig, dass wir keine Kinder haben", seufzte er; "es ist so still bei uns, wo es in andern Häusern gar laut und lustig hergeht."
"Ja", erwiderte die Frau, "wenn's nur ein einziges wäre und wenn es auch ganz klein wäre, so wollt ich schon zufrieden sein." Nun geschah es, dass die Frau erkrankte und nach sieben Monaten ein Kind zur Welt brachte, das zwar an allen Gliedern vollkommen, aber nicht länger als ein Daumen war. Da sprachen die beiden: "Es ist so, wie wir es gewünscht haben, und es soll unser liebes Kind sein", und sie nannten es Daumesdick. Obwohl sie es an Speise und Trank nicht fehlen ließen, wurde das Kind nicht größer, sondern blieb, wie es in der ersten Stunde gewesen war. Doch schaute es mit verständigen Augen drein und erwies sich bald als ein kluges und behändes Wesen, dem alles glückte, was es begann.
Eines Tages wollte der Bauer in den Wald, um Holz zu fällen. ,,0, dass einer da wäre, der mir den Wagen nachführte!", sprach er vor sich hin.
"Ei, Vater", rief Daumesdick, "den Wagen will ich euch schon bringen, verlasst euch drauf, er soll zur bestimmten Zeit im Walde sein."
"Wie sollte das zugehen", lachte der Vater, "du bist viel zu klein, um das Pferd zu führen."
"Das tut nichts, Vater, lasst nur die Mutter anspannen, ich setze mich dem Pferd ins Ohr und rufe ihm zu, wohin es gehen soll."
"Gut", erwiderte der Vater, "einmal will ich's mit dir versuchen."
Als die Stunde kam, spannte die Mutter an und setzte Daumesdick ins Ohr des Pferdes. Dann rief der Kleine „Jü“ und „Jo“ und „Hott“ und „He“. Das ging ganz ordentlich, und der Wagen fuhr den rechten Weg zum Walde. Nun trug es sich zu, als er eben um eine Ecke bog und Hü und Hott rief, dass zwei fremde Männer daherkamen.
"Du lieber Himmel", sagte der eine, "da fährt ein Wagen, und ein Fuhrmann ruft dem Pferde zu und ist nirgends zu sehen."
"Lasst uns dem Karren folgen und sehen, wo er hält", antwortete der andere, "denn das geht nicht mit rechten Dingen zu." Der Wagen fuhr vollends in den Wald hinein und hielt an dem Platze, wo der Bauer beim Holzhauen war. Als Daumesdick seinen Vater erblickte, rief er ihm zu: "Da bin ich, Vater, nun hol mich herunter." Der Vater holte sein Söhnlein aus dem Ohr des Pferdes und freute sich über den geschickten Kutscher. Als die beiden fremden Männer den Daumesdick erblickten, wussten sie nicht, was sie vor Verwunderung sagen sollten. Heimlich sprach der eine zum andern: "Der kleine Kerl könnte unser Glück machen, wenn wir ihn in einer großen Stadt für Geld sehen ließen. Wir wollen ihn kaufen." Sie wandten sich an den Bauern und sprachen: "Verkauft uns den kleinen Mann, er soll's gut bei uns haben."
"Nein", erwiderte der Vater, "er ist mein Herzblatt und mir nicht feil für alles Gold in der Welt."
Kaum hatte aber Daumesdick von dem Handel gehört, da kroch er an den Rockfalten seines Vaters hinauf, stellte sich auf die Schulter und wisperte ihm ins Ohr: "Verkauf mich nur, Vater, ich komme schon wieder zurück." Gesagt, getan - und für ein schönes Stück Geld verkaufte der Bauer seinen Sohn an die beiden Männer.
"Wo willst du sitzen?" sprachen sie zu ihm.
"Tragt mich abwechselnd auf dem Rand eurer Hüte", antwortete er, "da kann ich auf- und ab spazieren und mir die Gegend betrachten."
Sie taten ihm den Willen und als Daumesdick Abschied von seinem Vater genommen hatte, machten sie sich mit ihm auf den Weg. So gingen sie, bis es dämmerig wurde. Da sprach der Kleine: "Hebt mich einmal herunter, es ist nötig." Der Mann nahm den Hut ab und setzte den Kleinen auf einen Acker am Weg. Dort sprang und kroch er ein wenig zwischen den Schollen hin und her, plötzlich schlüpfte er in ein Mausloch, das er erspäht hatte.
„Guten Abend, ihr Herren", spottete er noch, ehe er verschwand, "geht nur ohne mich heim." Sie liefen herbei undi stachen mit Stöcken in das Mausloch, aber es war vergebliche Mühe. Daumesdick hatte sich tief hinein verkrochen. Und da es bald ganz dunkel wurde, so mussten die bei den verärgert und mit leerem Beutel weiterziehen.
Als Daumesdick merkte, dass sie fortgegangen waren, kroch er aus dem unterirdischen Gang wieder hervor. Es war aber so finster, dass er auf dem Acker nicht weiterkam. Zum Glück stieß er an ein leeres Schneckenhaus. "Gottlob", dachte er, "da kann ich die Nacht ungefährdet zubringen" und setzte sich hinein. Er wollte eben einschlafen, da hörte er zwei Männer vorübergehen. "Wie werden wir's anfangen", sprach der eine, "damit wir den reichen Pfarrer um Geld und Silber bringen?"
"Das kann ich dir sagen", rief Daumesdick aus seinem Schneckenhaus.
"Was war das?" sprach der eine Dieb erschrocken, "ich hörte jemand sprechen." Sie blieben stehen und horchten. Alsbald rief Daumesdick: "Nehmt mich mit, so will ich euch helfen."
"Wo bist du denn?"
"Sucht nur auf der Erde und achtet darauf, wo die Stimme herkommt", erwiderte er. Endlich fanden ihn die Diebe und hoben ihn in die Höhe. "Du kleiner Wicht", sagten sie, "wie willst du uns denn helfen?"
"Ei", entgegnete er, "ich krieche zwischen den Eisenstäben in die Kammer des Pfarrers und reiche euch heraus, was ihr haben wollt."
"Wohlan!" riefen sie fröhlich. "Wir wollen sehen, was du kannst."
Beim Pfarrhaus angekommen, kroch Daumesdick in die Kammer, schrie aber gleich aus Leibeskräften: "Wollt ihr alles haben, was hier ist?"
Die Diebe erschraken. "Sprich doch leise", flüsterten sie, "damit niemand erwacht."
Aber Daumesdick tat, als hätte er sie nicht verstanden, und schrie von neuem: "Was wollt ihr? Wollt ihr alles haben, was hier ist?"
Das vernahm die Köchin, die in der Stube daneben schlief. Sogleich richtete sie sich im Bett auf und begann zu lauschen. Die Diebe aber waren vor Schrecken ein Stück des Weges zurückgelaufen, endlich fassten sie wieder Mut und dachten, der kleine Kerl wolle sie necken. Sie kamen zurück und flüsterten ihm zu: "Nun mach ernst und reich uns etwas heraus."
Da schrie Daumesdick noch einmal, so laut er konnte: "Ich will euch ja alles geben, reicht nur die Hände herein." Das vernahm die horchende Magd ganz deutlich, sie sprang deshalb aus dem Bett und stürzte zur Tür herein. Darauf liefen die Diebe fort und rannten, als ob der wilde Jäger hinter ihnen wäre. Daumesdick aber hatte sich in die Scheune hinaus verzogen, um einen schönen Platz zum Schlafen zu finden, denn er wollte bei Tagesanbruch wieder heim zu seinen Eltern.
Als der Tag graute, stieg die Magd aus dem Bett, um das Vieh zu füttern. Ihr erster Gang war in die Scheune, wo sie einen Armvoll Heu packte und gerade auch das Büschel, in dem der arme Daumesdick im Schlafe lag. Er schlief so fest, dass er nichts davon merkte und nicht eher aufwachte, als bis er in dem Maul der Kuh war, die ihn mit dem Heu aufgelesen hatte. Da hieß es aufpassen, dass er nicht zwischen die Zähne kam und zermalmt wurde. Aber schließlich musste er doch mit in den Magen hinunterrutschen. Das Quartier gefiel ihm schlecht, denn nirgends schien die Sonne herein, und es kam auch immer mehr neues Heu zur Türe herein, so dass der Platz immer enger wurde. Da rief er in seiner Angst, so laut er konnte: "Bringt mir kein frisches Futter mehr, bringt mir kein frisches Futter mehr." Als die Magd, die gerade beim Melken war, die Stimme hörte, die sie auch in der Nacht vernommen hatte, ohne jemand gesehen zu haben, erschrak sie so, dass sie vom Melkschemel glitt und die Milch verschüttete. In Hast und Angst lief sie zu ihrem Herrn. "Ach Gott, Herr Pfarrer", jammerte sie, "die Kuh hat geredet."
"Du bist verrückt", antwortete der Pfarrer, ging aber doch selbst in den Stall und wollte nachsehen, was es dort gebe. Kaum aber hatte er den Fuß hineingesetzt, so rief Daumesdick aufs Neue: "Bringt mir kein frisches Futter mehr, bringt mir kein frisches Futter mehr." Da erschrak der Pfarrer selbst und dachte, ein böser Geist sei in die Kuh gefahren und befahl daher, dass man sie schlachte. Das wurde auch sogleich getan. Den Magen aber, worin Daumesdick steckte, warf man auf den Mist. Der kleine Kerl hatte große Mühe, sich hindurchzuarbeiten, doch brachte er es so weit, dass er frische Luft bekam. Aber als er eben sein Haupt herausstrecken wollte, lief ein hungriger Wolf hinzu und verschlang den ganzen Magen auf einen Satz. Daumesdick verlor den Mut nicht. "Vielleicht lässt der Wolf mit sich reden", dachte er und rief ihm aus dem Wanste zu: "Lieber Wolf, ich weiß dir einen herrlichen Fraß." "Wo ist der zu holen?", fragte der Wolf. Da beschrieb ihm Daumesdick seines Vaters Haus. "Du musst durch die Gosse hineinkriechen", sagte er, "und wirst Kuchen, Speck und Wurst finden, so viel du essen willst." Das ließ sich der Wolf nicht zweimal sagen. In der Nacht drängte er sich zur Gosse hinein und fraß in der Vorratskammer nach Herzenslust. Als er satt war, wollte er wieder fort, aber er war so dick geworden, dass er auf dem gleichen Wege nicht wieder hinaus konnte. Damit hatte Daumesdick gerechnet. Plötzlich fing er im Leib des Wolfes gewaltig zu schreien und zu toben an.
"Willst du still sein", drohte der Wolf, "du weckst mir alle Leute auf."
"Ei was", erwiderte der Kleine, "du hast dich satt gefressen, jetzt will ich auch lustig sein." Von neuem fing er aus allen Kräften zu schreien an. Davon erwachten Vater und Mutter. Als sie sahen, dass ein Wolf in der Vorratskammer lag, holte der Mann eine Axt und die Frau eine Sense.
"Bleib hier hinten", sprach der Mann, als sie in die Kammer drangen, "wenn ich ihm einen Schlag versetzt habe und er davon noch nicht tot ist, so musst du auf ihn einhauen und ihm den Leib zerschneiden." Das hörte Daumesdick. "Lieber Vater", rief er so laut er konnte, "ich bin hier, ich stecke im Leib des Wolfes." "Bist du's Daumesdick! Gottlob, dass wir dich wieder gefunden haben", sagte der Vater voller Freude. Er hieß die Frau die Sense wegtun, damit Daumesdick keinen Schaden erleide. Danach holte er aus und schlug dem Wolf auf den Kopf, dass er tot niederstürzte. Dann schnitten ihm die beiden den Leib auf und zogen den Kleinen heraus.
"Ach", sprach der Vater, "was haben wir für Sorgen um dich ausgestanden."
"Ja, Vater, ich bin viel in der Welt herumgekommen", antwortete er, "gottlob, dass ich wieder frische Luft atme." "Wo bist du denn überal1 gewesen?"
"Ei", sagte er, "ich war in einem Mauseloch, im Bauch einer Kuh und im Wanst eines Wolfes. Nun bleib ich aber bei euch."
"Und wir verkaufen dich auch nicht wieder, nicht um alle Reichtümer der Welt", sprachen die Eltern und herzten und küssten ihn. Danach gaben sie ihm zu essen und zu trinken und ließen ihm neue Kleider machen, denn die seinen waren ihm auf dieser gefährlichen und weiten Reise in die Welt verdorben

Der Arme und der Reiche

Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden , unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, dass er eines Abend müde war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das
andere klein und ärmlich anzusehen. Das große gehörte einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herrgott: "Dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen; bei ihm will ich übernachten!"
Als der Reiche an seine Tür klopfen hörte, machte er das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche.
Der Herr antwortete: "Ich bitte um ein Nachtlager."
Der Reiche guckte den Wandersmann vom Haupt bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach: "Ich kann Euch nicht aufnehmen; meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Tür klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht Euch anderswo ein Unterkommen!"
Damit schlug er sein Fenster zu und ließ den lieben Gott stehen.
Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken und ging hinüber zu dem kleinen Haus. Kaum hatte er angeklopft, so klinkte der Arme schon sein Türchen auf und bat den Wandersmann einzutreten. "Bleibt die Nacht über bei mir", sagte er, "es ist schon finster, und heute könnt Ihr doch nicht weiterkommen!" Das gefiel dem lieben Gott, und er trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte ihm die Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte sich's bequem machen und vorliebnehmen; sie hätten nicht viel, aber was es wäre, gäben sie von Herzen gern. Dann setzte sie Kartoffeln ans Feuer, und derweil sie kochten, melkte sie ihre Ziege, damit sie ein wenig Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der liebe Gott nieder und aß mit ihnen, und die schlichte Kost schmeckte ihm gut; denn es waren vergnügte Gesichter dabei.
Nachdem sie gegessen hatten und es Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren Mann und sprach: "Höre, lieber Mann, wir wollen uns heute Nacht eine Streu machen, damit der arme Wanderer sich in unser Bett legen und ausruhen kann; er ist den ganzen Tag über gegangen, da wird einer müde."
"Von Herzen gern", antwortete er, "ich will's ihm anbieten", ging zu dem lieben Gott und bat ihn, wenn's ihm recht wäre, möchte er sich in ihr Bett legen und seine Glieder ordentlich ausruhen.
Der liebe Gott wollte den beiden Alten ihr Lager nicht nehmen; aber sie ließen nicht ab, bis er es endlich tat und sich in ihr Bett legte; sich selbst aber breiteten sie eine Streu auf die Erde. Am andern Morgen standen sie vor Tag schon auf und kochten dem Gast ein Frühstück, so gut sie es hatten. Als nun die Sonne durchs Fensterlein schien und der liebe Gott aufgestanden war, aß er wieder mit ihnen und wollte dann seines Weges ziehen.
Als er in der Tür stand, kehrte er sich um und sprach: "Weil ihr so mitleidig und fromm seid, so wünscht euch dreierlei, das will ich euch erfüllen."
Da sagte der Arme: "Was soll ich mir sonst wünschen als die ewige Seligkeit, und dass wir zwei, so lang wir leben, gesund dabei bleiben und unser notdürftiges tägliches Brot haben; fürs dritte weiß ich mir nichts zu wünschen."
Der liebe Gott sprach: "Willst du dir nicht ein neues Haus für das alte wünschen?"
„0 ja", sagte der Mann, "wenn ich das auch noch erhalten kann, so wär' mir's wohl lieb!"
Da erfüllte der Herr ihre Wünsche, verwandelte ihr altes Haus in ein neues, gab ihnen nochmals seinen Segen und zog weiter.
Es war schon voller Tag, als der Reiche aufstand. Er legte sich ins Fenster und sah gegenüber ein neues, reinliches Haus mit roten Ziegeln, wo sonst eine alte Hütte gestanden hatte. Da machte er große Augen, rief seine Frau herbei und sprach: "Sag' mir, was ist geschehen? Gestern Abend stand noch die alte, elende Hütte, und heute steht da ein schönes, neues Haus! Lauf hinüber und höre, wie das gekommen ist!"
Die Frau ging und fragte den Armen aus.
Er erzählte ihr: "Gestern Abend kam ein Wanderer, der suchte Nachtherberge, und heute morgen beim Abschied hat er uns drei Wünsche gewährt, die ewige Seligkeit, Gesundheit in diesem Leben und das notdürftige tägliche Brot dazu, und zuletzt noch statt unserer alten Hütte ein schönes, neues Haus."
Die Frau des Reichen lief eilig zurück und erzählte ihrem Manne, wie alles gekommen war.
Der Mann sprach: "ich möchte mich zerreißen und zerschlagen! Hätte ich das nur gewusst! Der Fremde ist zuvor hier gewesen und hat bei uns übernachten wollen; ich habe ihn aber abgewiesen!"
"Eil' dich", sprach die Frau, "und setze dich auf dein Pferd, so kannst du den Mann noch einholen, und dann musst du dir auch drei Wünsche gewähren lassen!"
Der Reiche befolgte den guten Rat, jagte mit seinem Pferd davon und holte den lieben Gott noch ein. Er redete fein und lieblich und bat, er möcht's nicht übelnehmen, dass er nicht gleich wäre eingelassen worden; er hätte den Schlüssel zur Haustür gesucht, derweil wäre er weggegangen; wenn er des Weges zurückkäme, müsste er bei ihm einkehren.
"Ja", sprach der liebe Gott, "wenn ich einmal zurückkomme, will ich es tun."
Da fragte der Reiche, ob er nicht auch drei Wünsche tun dürfte, wie sein Nachbar. Ja, sagte der liebe Gott, das dürfte er wohl; es wäre aber nicht gut für ihn, und er sollte sich lieber nichts wünschen. Der Reiche meinte, er wollte sich schon etwas aussuchen, das zu seinem Glücke gereiche, wenn er nur wüsste, dass es erfüllt würde.
Da sprach der liebe. Gott: "Reit heim, und drei Wünsche, die du tust, die sollen in Erfüllung gehen!"
Nun hatte der Reiche, was er verlangte, ritt heimwärts und fing an nachzusinnen, was er sich wünschen sollte. Wie er sich so bedachte und die Zügel fallen ließ, fing das Pferd an zu springen, so dass er immerfort in seinen Gedanken gestört wurde und sie gar nicht zusammenbringen konnte. Er klopfte ihm an den Hals und sagte: "Sei ruhig, Liese!" Aber das Pferd machte aufs neue Männchen. Da ward er zuletzt ärgerlich und rief ganz ungeduldig: "So wollt' ich, dass du den Hals zerbrächest!" Als er das Wort ausgesprochen hatte, plump, fiel er auf die Erde, und das Pferd lag tot und regte sich nicht meh.
Damit war der erste Wunsch erfüllt.
Weil er aber von Natur geizig war, wollte er das Sattelzeug nicht im Stich lassen, schnitt's ab, hängte es auf seinen Rücken und musste nun zu Fuß gehen.
"Du hast noch zwei Wünsche übrig", dachte er und tröstete sich damit. Wie er nun langsam durch den Sand dahinging und zu Mittag die Sonne heiß brannte, ward's ihm so warm und verdrießlich zumute. Der Sattel drückte ihn auf den Rücken; auch war ihm noch immer nicht eingefallen, was er sich wünschen sollte.
"Wenn ich mir auch alle Reiche und Schätze der Welt wünsche", sprach er zu sich selbst, "so fällt mir hernach noch allerlei ein, dieses und jenes, das weiß ich im voraus. Ich will's aber so einrichten, dass mir gar nichts mehr zu' wünschen - übrigbleibt!" Manchmal meinte er, jetzt hätte er es gefunden; aber hernach schien es ihm doch zu wenig. Da kam ihm so in die Gedanken, was es seine Frau jetzt gut hätte; die säße daheim in einer kühlen Stube und ließe sich's wohl schmecken. Das ärgerte ihn ordentlich, und ohne dass er's wusste, sprach er so hin: "Ich wollte, die säße daheim auf dem Sattel und könnte nicht herunter, statt dass ich ihn da auf meinem Rücken schleppe!" Und wie das letzte Wort aus seinem Munde kam, so war der Sattel von seinem Rücken verschwunden, und er merkte, dass sein zweiter Wunsch auch in Erfüllung gegangen war.
Da ward ihm erst recht heiß. Er fing an zu laufen und wollte sich daheim ganz einsam in seine Kammer setzen und auf etwas Großes für den letzten Wunsch sinnen. Als er aber ankommt und die Tür aufmacht, sitzt da seine Frau mitten in der Stube auf dem Sattel und kann nicht herunter, jammert und schreit. Da sprach er: "Gib dich zufrieden! Ich will dir alle Reichtümer der Welt herbeiwünschen, nur bleib da sitzen!" Sie schalt ihn aber einen Schafskopf und sprach: "Was helfen mir alle Reichtümer der Welt, wenn ich auf dem Sattel sitze! Du hast mich darauf gewünscht, du musst mir auch wieder herunterhelfen!" Er mochte wollen oder nicht, er musste den dritten Wunsch tun, dass sie vom Sattel ledig wäre und heruntersteigen könnte, und der Wunsch ward alsbald erfüllt. Also hatte er nichts davon als Arger, Mühe, Scheltworte und ein verlorenes Pferd; die Armen aber lebten vergnügt, still und fromm bis an ihr seliges Ende.

Die drei Männlein im Walde

Es war ein Mann, dem starb seine Frau, und eine Frau, der starb ihr Mann; und der Mann hatte eine Tochter, und die Frau hatte auch eine Tochter. Die Mädchen waren miteinander bekannt und gingen zusammen spazieren und kamen hernach zu der Frau ins Haus. Da sprach sie zu des Mannes Tochter: "Höre, sag' deinem Vater, ich wollt' ihn heiraten; dann sollst du jeden Morgen dich in Milch waschen und sollst Wein trinken, meine Tochter aber soll sich in Wasser waschen und Wasser trinken!" Das Mädchen ging nach Haus und erzählte seinem Vater, was die Frau gesagt hatte. Da ging er zu der Witwe und freite sie, und die Hochzeit ward gehalten.
Am andern Morgen, als die beiden Mädchen sich aufmachten, da stand vor des Mannes Tochter Milch zum Waschen und Wein zum Trinken, vor der Frau Tochter aber stand Wasser zum Waschen und Wasser zum Trinken. Am zweiten Morgen stand Wasser zum Waschen und Wasser zum Trinken so gut vor des Mannes Tochter wie vor der Frau Tochter. Und am dritten Morgen stand Wasser zum Waschen und Wasser zum Trinken vor des Mannes Tochter, und Milch zum Waschen und Wein zum Trinken vor der Frau Tochter, und dabei blieb's. Die Frau ward ihrer Stieftochter spinnefeind und wusste nicht, wie sie es ihr von einem Tag zum andern schlimmer machen sollte. Auch war sie neidisch, weil ihre Stieftochter schön und lieblich war, ihre rechte Tochter aber hässlich und widerlich.
Einmal im Winter, als es steinhart gefroren hatte und Berg und Tal voll geschneit lagen, machte die Frau ein Kleid von Papier, rief das Mädchen und sprach: "Da, zieh das Kleid an, geh hinaus in den Wald, und hol' mir ein Körbchen voll Erdbeeren; ich habe Verlangen danach!"
"Du lieber Gott", sagte das Mädchen, "im Winter wachsen ja keine Erdbeeren! Die Erde ist gefroren, und der Schnee hat auch alles zugedeckt. Und warum soll ich in dem Papierkleide gehen? Es ist draußen so kalt, dass einem der Atem friert; da weht ja der Wind hindurch, und die Dornen reißen mir's vom Leib!" "Willst du mir noch widersprechen?", sagte die Stiefmutter. "Mach', dass du fort kommst, und lass dich nicht eher wieder sehen, als bis du das Körbchen voll Erdbeeren hast!" Dann gab sie ihm noch ein Stückchen hartes Brot und sprach: "Davon kannst du den Tag über essen", und dachte: "Draußen wird's erfrieren und verhungern und mir nimmermehr wieder vor die Augen kommen!"
Nun war das Mädchen gehorsam, tat das Papierkleid an und ging mit dem Körbchen hinaus. Da war nichts als Schnee die Weite und Breite, und es war kein grünes Hälmchen zu merken. Als es in den Wald kam, sah es ein kleines Häuschen, daraus guckten drei kleine Haulemännerchen. Es wünschte ihnen die Tageszeit und klopfte bescheidentlich an die Tür.
Sie riefen: "Herein!", und es trat in die Stube und setzte sich auf die Bank am Ofen; da wollte es sich wärmen und sein Frühstück essen. Die Haulemännerchen sprachen: "Gib uns auch etwas davon!"
"Gern!", sprach es, teilte sein Stückchen Brot entzwei und gab ihnen die Hälfte.
Sie fragten: "Was willst du zur Winterzeit in deinem dünnen Kleidchen hier im Wald?"
"Ach", antwortete es, "ich soll ein Körbchen voll Erdbeeren suchen und darf nicht eher nach Hause kommen, als bis ich es mitbringe!"
Als es sein Brot gegessen hatte, gaben sie ihm einen Besen und sprachen: "Kehr' damit an der Hintertür den Schnee weg!"
ls es aber draußen war, sprachen die drei Männerchen untereinander: "Was sollen wir ihm schenken, weil es so artig und gut ist und sein Brot mit uns geteilt hat?"
Da sagte der erste: "Ich schenk' ihm, dass es jeden Tag schöner wird!"
Der zweite sprach: "Ich schenk' ihm, dass Goldstücke ihm aus dem Mund fallen, so oft es ein Wort spricht!"
Der dritte sprach: "Ich schenk' ihm, dass ein König kommt und es zu seiner Gemahlin nimmt!"
Das Mädchen aber tat, wie die Haulemännerchen gesagt hatten, kehrte mit dem Besen den Schnee hinter dem kleinen Hause weg, und es wollte seinen Augen nicht trauen, als es da lauter reife Erdbeeren fand, die ganz dunkelrot aus dem Schnee hervorkamen. Da raffte es in seiner Freude sein Körbchen voll, dankte den kleinen Männern, gab jedem die Hand und lief nach Haus und wollte der Stiefmutter das Verlangte bringen. Als es eintrat und "Guten Abend" sagte, fiel ihm gleich ein Goldstück aus dem Mund. Darauf erzählte es, was ihm im Walde begegnet war; aber bei jedem Worte, das es sprach, fielen ihm die Goldstücke aus dem Mund, so dass bald die ganze Stube damit bedeckt ward.
"Nun sehe einer den Übermut", rief die Stiefschwester, "das Geld so hinzuwerfen!" Aber heimlich war sie neidisch darüber und wollte auch hinaus in den Wald und Erdbeeren suchen.
Die Mutter sagte: "Nein, mein liebes Töchterchen, es ist zu kalt; du könntest mir erfrieren!"
Weil das Mädchen ihr aber keine Ruhe ließ, gab sie endlich nach, nähte ihm einen prächtigen Pelzrock, den es anziehen musste, und gab ihm Butterbrot und Kuchen mit auf den Weg.
Das Mädchen ging in den Wald und gerade auf das kleine Häuschen zu. Die drei kleinen Haulemänner guckten wieder; aber es grüßte sie nicht, und ohne sich nach ihnen umzusehen und ohne sie zu grüßen, stolperte es in die Stube hinein, setzte sich an den Ofen und fing an, sein Butterbrot und seinen Kuchen zu essen.
"Gib uns etwas davon!", riefen die Kleinen; aber es antwortete: "Es reicht für mich selber nicht zu! Wie kann ich andern noch davon abgeben?"
Als es nun fertig war mit dem Essen, sprachen sie: "Da hast du einen Besen; kehr' uns draußen vor der Hintertür den Schnee weg!"
"Ei, kehrt euch selber", antwortete es; "ich bin eure Magd nicht!"
Als es sah, dass sie ihm nichts schenken wollten, ging es zur Tür hinaus. Da sprachen die kleinen Männer untereinander: "Was sollen wir ihm schenken, weil es so unartig ist und ein böses, neidisches Herz hat, das niemand etwas gönnt?"
Der erste sprach: "Ich schenk' ihm, dass es jeden Tag hässlicher wird!"
Der zweite sprach: "Ich schenk' ihm, dass ihm bei jedem Wort, das es spricht, eine Kröte aus dem Munde springt!"
Der dritte sprach: "Ich schenk' ihm, dass es eines unglücklichen Todes stirbt!"
Das Mädchen suchte draußen nach Erdbeeren; als es aber keine fand, ging es verdrießlich nach Haus. Als es aber den Mund auftat und seiner Mutter erzählen wollte, was ihm im Walde begegnet war, da sprang ihm bei jedem Wort eine Kröte aus dem Mund, so dass alle einen Abscheu vor ihm bekamen.
Nun ärgerte sich die Stiefmutter noch viel mehr und dachte nur darauf, wie sie der Tochter des Mannes alles Herzeleid antun wollte, deren Schönheit doch alle Tage größer ward. Endlich nahm sie einen Kessel, setzte ihn zum Feuer und sott Garn darin. Als es gesotten war, hängte sie es dem armen Mädchen auf die Schulter und gab ihm eine Axt dazu, damit sollte es auf den gefrorenen Fluss gehen, ein Eisloch hauen und das Garn schlittern. Es war gehorsam, ging hin und hackte ein Loch in das Eis, und als es mitten im Hacken war, kam ein prächtiger Wagen daher gefahren, worin der König saß. Der Wagen hielt still, und der König fragte: "Mein Kind, wer bist du, und was machst du da?"
"Ich bin ein armes Mädchen und schlittere Garn!"
Da fühlte der König Mitleiden, und als er sah, wie es so gar schön war, sprach er: "Willst du mit mir fahren?"
"Ach ja, von Herzen gern!", antwortete es; denn es war froh, dass es der Mutter und der Schwester aus den Augen kommen sollte.
Also stieg es in den Wagen und fuhr mit dem König davon, und als sie auf sein Schloss gekommen waren, ward die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert, wie es die kleinen Männlein dem Mädchen geschenkt hatten. über ein Jahr gebar die junge Königin einen Sohn, und als die Stiefmutter von dem großen Glücke gehört hatte, so kam sie mit ihrer Tochter in das Schloss und tat, als wollte sie einen Besuch machen. Als aber der König einmal hinausgegangen und sonst niemand zugegen war, packte das böse Weib die Königin am Kopf, und ihre Tochter packte sie an den Füßen, hoben sie aus dem Bett und warfen sie zum Fenster hinaus in den vorbei fließenden Strom. Darauf legte sich ihre hässliche Tochter ins Bett, und die Alte deckte sie zu bis über den Kopf. Als der König wieder zurückkam und mit seiner Frau sprechen wollte, rief die Alte: "Still, still! Jetzt geht das nicht! Sie liegt in starkem Schweiß; ihr müsst sie heute ruhen lassen!" Der König dachte nichts Böses dabei und kam erst am andern Morgen wieder, und als er mit seiner Frau sprach und sie ihm Antwort gab, sprang bei jedem Wort eine Kröte hervor, während sonst ein Goldstück herausgefallen war. Da fragte er, was das wäre; aber die Alte sprach, das hätte sie von dem starken Schweiß gekriegt, und es würde sich schon wieder verlieren.
In der Nacht aber sah der Küchenjunge, wie eine Ente durch die Gosse geschwommen kam, die sprach: "König, was machst du? Schläfst du, oder wachst du?"
Und als er keine Antwort gab, sprach sie: "Was machen meine Gäste?"
Da antwortete der Küchenjunge: "Sie schlafen feste."
Sie fragte weiter: "Was macht mein Kindelein?"
Da antwortete er: "Es schläft in der Wiege fein."
Da ging sie in der Königin Gestalt hinauf, gab ihm zu trinken, schüttelte ihm sein Bettchen, deckte es zu und schwamm als Ente wieder durch die Gosse davon. So kam sie zwei Nächte.
In der dritten sprach sie zu dem Küchenjungen: "Geh und sage dem König, dass er sein Schwert nimmt und es auf der Schwelle dreimal über mir schwingt!"
Da lief der Küchenjunge und sagte es dem König. Der kam mit seinem Schwert und schwang es dreimal über dem Geist, und beim dritten Mal stand seine Gemahlin vor ihm, frisch, lebendig und gesund, wie sie vorher gewesen war.
Nun war der König in großer Freude. Er hielt aber die Königin in einer Kammer verborgen bis auf den Sonntag, an dem das Kind getauft werden sollte. Und als es getauft war, sprach er: "Was gehört einem Menschen, der den andern aus dem Bett trägt und ins Wasser wirft?"
"Nichts Besseres," antwortete die Alte, "als dass man den Bösewicht in ein Fass steckt, das mit Nägeln ausgeschlagen ist, und den Berg hinab ins Wasser rollt!"
Da sagte der König: "Du hast dein Urteil gesprochen!", ließ ein solches Fass holen und die Alte mit ihrer Tochter hineinstecken; dann ward der Boden zugehämmert und das Fass bergab gekollert, bis es in den Fluss rollte
.

Hans im Glück

Sieben Jahre hatte Hans bei seinem Herrn gedient, da sprach er zu ihm: "Herr, meine Zeit ist um, ich möchte gerne wieder heim zu meiner Mutter, gebt mir also meinen Lohn."
Darauf antwortete der Herr: "Du hast mir treu und ehrlich gedient und dein Lohn soll deinem Dienste gleichen", und schenkte ihm ein Stück Gold, das so groß war wie Hansens Kopf. Hans zog ein Tuch aus der Tasche, wickelte den Klumpen hinein, hob ihn auf die Schulter und machte sich auf den Weg nach Haus. Wie er so dahinging und immer ein Bein vor das andere setzte, begegnete ihm ein Reiter, der frisch und fröhlich auf einem munteren Pferde vorübertraben wollte.
"Ach", sprach der Hans ganz laut, "wie schön ist doch das Reiten! Da sitzt einer wie auf einem Stuhl, stößt 'sich an keinen Stein, spart die Schuhe und kommt fort und weiß nicht wie."
Der Reiter, der das gehört hatte, hielt an und rief: "Ei, Hans, warum läufst du denn zu Fuß?"
"Ich muss ja wohl, erwiderte der Hans, "denn ich habe da einen schweren Klumpen heimzutragen. Er ist zwar aus Gold, aber ich kann den Kopf dabei nicht geradehalten, auch drückt er mir auf die Schultern."
"Weißt du was", entgegnete der Reiter, "wir wollen tauschen. Ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir deinen Klumpen."
"Von Herzen gern", antwortete Hans, "aber ich sage euch, es ist schon eine Last, die ihr da schleppen müsst."
Der Reiter stieg ab, nahm das Gold und half dem Hans aufs Pferd. Dann gab er ihm die Zügel in die Hände und sprach: "Wenns recht geschwind gehen soll, Hans, dann musst du mit der Zunge schnalzen und hopp-hopp rufen."
Hans war seelenfroh, als er auf dem Pferde saß und so frank und frei dahin ritt. Nach einer Weile dachte er, nun könne es schneller gehen. Er begann mit der Zunge zu schnalzen und hopp-hopp zu rufen. Darauf setzte sich das Pferd in starken Trab, und ehe sich's der Hans versah, hatte ihn das Pferd abgeworfen. Da lag er in einem Graben, der die Acker von der Landstraße trennte. Das Pferd wäre durchgegangen, hätte es nicht ein Bauer aufgehalten, der gerade des Weges kam und eine Kuh vor sich hertrieb. Hans suchte seine Glieder zusammen und machte sich wieder auf die Beine. Er war verdrießlich und sprach zu dem Bauern: "Das Reiten ist doch ein schlechter Spaß, zumal wenn man auf solch eine Mähre gerät wie die meine. Das Vieh stößt und wirft einen herab, dass man den Hals brechen kann. Nie und nimmermehr setze ich mich auf ein Pferd. Da lob ich mir eure Kuh. Da kann einer gemächlich hinterher gehen und hat obendrein Milch und Butter und Käse von ihr. Was gäb ich darum, wenn ich solch eine Kuh hätte!"
"Nun", sprach der Bauer, "wenn du so großen Gefallen an ihr hast, so lass mich die Kuh mit deinem Pferde tauschen." Mit Freuden willigte Hans ein. Der Bauer schwang sich aufs Pferd und ritt eilig davon.
Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glücklichen Tausch. "Hab ich nur ein Stück Brot, und daran wird mir's doch nicht fehlen, so kann ich, so oft mir's beliebt, Butter und Käse dazu essen. Und hab ich Durst, so melk ich meine Kuh und trinke Milch. Herz, was verlangst du also mehr?" Als er zu einem Wirtshaus kam, machte er Halt, aß in der großen Freude alles, was er bei sich trug, sein ganzes Mittag- und Abendbrot, und ließ sich für seinen letzten Heller ein halbes Glas Bier einschenken. Dann trieb er seine Kuh weiter, immer dem Dorfe seiner Mutter zu. Je näher der Mittag kam, desto drückender wurde die Hitze, und der Weg ging über eine weite Heide. Es wurde ihm so heiß, dass ihm vor Durst die Zunge am Gaumen klebte. "Ich muss mir Abhilfe schaffen", dachte Hans, "ich will meine Kuh melken und mich an der frischen Milch erquicken." Er band das Tier an einen dürren Baum, und da er keinen Eimer hatte, so stellte er seine Ledermütze unter, aber wie er sich auch bemühte, die Kuh gab keinen Tropfen Milch. Und weil er sich ungeschickt dabei anstellte, so versetzte ihm das ungeduldige Tier endlich einen solchen Schlag vor den Kopf, dass er zu Boden taumelte und sich eine Zeitlang gar nicht mehr darauf besinnen konnte, wo er war. Glücklicherweise kam gerade ein Metzger daher, der auf einem Schubkarren ein junges Schwein liegen hatte. "Was sind das für Streiche!", rief er und half dem guten Hans auf die Beine. Hans erzählte ihm, was vorgefallen war.
Der Metzger reichte ihm seine Flasche und sprach: "Da trink erst einmal und erhol dich. Die Kuh gibt keine Milch, denn sie ist alt und taugt höchstens noch zum Ziehen oder zum Schlachten."
"Ei, ei", erwiderte Hans und strich sich die Haare über den Kopf, "wer hätte das gedacht! Es gibt freilich Fleisch, wenn man so ein Tier abschlachten kann. Aber ich mache mir aus Kuhfleisch nicht viel, es ist mir nicht saftig genug. Ja, wer solch ein junges Schwein hätte! Schweinefleisch schmeckt doch ganz anders, und wenn ich erst an die Würste denke!"
"Höre, Hans", sagte der Metzger, "dir zuliebe will ich tauschen und will dir das Schwein für die Kuh lassen."
" Gott lohne solche Freundschaft", antwortete Hans, übergab dem Metzger die Kuh, ließ sich das junge Schwein vom Karren losmachen und nahm den Strick in die Hand, woran es gebunden war. Darauf zog er weiter und dachte daran, wie ihm doch alles nach Wunsch gehe, wenn ihm eine Verdrießlichkeit begegne. Unterwegs gesellte sich ihm ein Bursche zu, der eine schöne, weiße Gans unterm rechten Arme trug. Hans fing von seinem Glück zu erzählen an und dass er immer vorteilhaft getauscht habe.
"Und ich", sagte der Bursche, "ich bringe die Gans zu einem Kindstaufschmaus. Hebt nur einmal", fuhr er fort und packte die Gans bei den Flügeln, "wie schwer sie ist. Acht Wochen lang ist die bestimmt genudelt worden. Wer in einen solchen Braten beißt, muss sich das Fett von beiden Seiten abwischen."
"Ja", sprach Hans und wog sie mit der einen Hand, "die Gans hat ihr Gewicht, aber mein Schwein ist auch keine schlechte Sache." Indessen sah sich der Bursche nach allen Seiten bedenklich um und schüttelte den Kopf. "Hört", fing er darauf an, "mit eurem Schweine stimmt was nicht. In dem Dorfe, durch das ich gekommen bin, ist eben dem Schultheiß ein Schwein gestohlen worden. Ich fürchte, ich fürchte, ihr haltet's in der Hand. Er hat schon Leute ausgeschickt, und es wäre ein schlimmer Handel, wenn sie euch mit dem Schwein erwischten. Ihr werdet dafür in ein finsteres Gefängnis gesteckt."
"Ach Gott", sprach der Hans, und es wurde ihm angst und bange, "helft mir aus der Not. Ihr wisst hierherum besser Bescheid als ich. Lasst mir eure Gans und ich gebe euch mein Schwein."
"Da muss ich etliches aufs Spiel setzen", sagte der Bursche, "aber ich will nicht daran schuld sein, dass ihr noch ins Unglück kommt." Er nahm also den Strick in die Hand und trieb das Schwein auf einem Seitenwege fort, so rasch er konnte. Der gute Hans aber ging mit der Gans unterm Arme der Heimat zu und fühlte sich nun aller Sorgen enthoben. "Wenn ich's recht überlege", sprach er zu sich selbst, "so habe ich bei dem Tausch einen Vorteil gewonnen, zunächst gewinne ich einen guten Braten, danach erhalte ich eine Menge Fett. Damit habe ich Gänsefettbrot auf ein Vierteljahr. Auch die schönen, weißen Federn sind nicht zu verachten, denn die lass ich mir in mein Kopfkissen stopfen, und darauf will ich schlafen wie im Himmel. Welche Freude wird doch meine Mutter an mir haben!"
Als er durch das letzte Dorf gekommen war, stand ein Scherenschleifer am Weg mit seinem Karren. Sein Rad schnurrte, und er sang dazu ein Liedchen:
"Ich schleife die Schere und drehe geschwind und hänge mein Mäntelchen nach dem Wind."
Hans blieb stehen und sah ihm zu. Endlich redete er ihn an: "Euch geht es wohl gut, da ihr so lustig bei eurem Schleifen seid?"
"Ja", antwortete der Scherenschleifer, "mein Handwerk hat einen goldenen Boden. Ein rechter Scherenschleifer ist ein Mann, der immer Geld in der Tasche findet. Aber wo hast du denn die schöne Gans gekauft?"
"Ich hab sie nicht gekauft, sondern für ein Schwein getauscht."
"Und das Schwein?"
"Das hab ich für eine Kuh erhalten."
"Und die Kuh?" fragte der Scherenschleifer.
"Die Kuh hab ich für ein Pferd bekommen."
"Und das Pferd?"
"Dafür hab ich einen Klumpen Gold gegeben so groß wie mein Kopf."
"Und das Gold?"
"Ei", sagte Hans, "das war mein Lohn für sieben Jahre Arbeit."
"Du hast dir jederzeit zu helfen gewusst", erwiderte der Scherenschleifer, "und wenn du's jetzt noch fertigbringst, dass du das Geld in der Tasche springen hörst, wenn du aufstehst, so hast du dein Glück gemacht."
"Wie soll ich das anfangen?" fragte Hans. "Du musst ein Scherenschleifer werden wie ich; dazu brauchst du nichts weiter als einen Wetzstein. Alles andere findet sich schon von selbst. Da hab ich einen; er ist zwar ein wenig schadhaft, aber dafür brauchst du mir auch nichts weiter als deine Gans zu geben. Bist du damit einverstanden?" "Wie könnt ihr noch fragen", entgegnete Hans, "ihr macht mich ja zum glücklichsten Menschen auf der Welt, denn habe ich Geld, so oft ich in die Tasche greife, was brauch ich da sonst noch zu sorgen?" Hans reichte ihm also die Gans und empfing dafür den Wetzstein.
"Nun", sagte der Scherenschleifer und hob einen gewöhnlichen schweren Feldstein auf, der neben ihm am Boden lag, "da hast du noch einen tüchtigen Stein dazu, auf dem sich alte Nägel gerade klopfen lassen. Nimm ihn und bewahr ihn auch gut."
Hans lud sich den Stein auf die Schulter und ging vergnügten Herzens weiter. Vor Freude leuchteten seine Augen. "Ich bin wahrhaftig als Sonntagskind geboren", rief er aus, "denn alles, was ich wünsche, trifft auch ein."
Indessen, weil er seit Tagesanbruch auf den Beinen gewesen war, begann er müde zu werden. Außerdem plagte ihn allmählich der Hunger. Endlich konnte er auch nur noch mit Mühe weitergehen, und dabei drückten ihn die Steine ganz erbärmlich. Da konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie gut das wäre, wenn er sie jetzt nicht gerade zu tragen brauchte. Wie eine Schnecke schlich er weiter und traf auf einen Brunnen. Er wollte sich mit einem frischen Trunk laben und dann ausruhen. Bedächtig legte er die Steine neben sich auf den Rand des Brunnens. Dann bückte er sich, um zu trinken, stieß aber aus Versehen an die Steine, so dass sie in die Tiefe plumpsten. Als Hans sie im Wasser versinken sah, sprang er vor Freude auf, kniete dann nieder und dankte Gott, dass er ihn auf eine so gute Art und ohne dass er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit habe, die ihm zuletzt so hinderlich gewesen waren. ,,So glücklich wie ich", rief er aus, gibt es keinen Menschen mehr unter der Sonne." Mit leichtem Herzen und frei von aller Last machte er sich dann auf den Weg, bis er daheim bei seiner Mutter war
.

Der Frieder und das Catherlieschen

Als der Frieder und das Catherlieschen geheiratet hatten, lebten sie zusammen, wie das bei jungen Eheleuten üblich ist. Eines Tages sprach der Frieder: "Catherlieschen, ich muss hinaus auf den Acker. Wenn ich wiederkomme, soll etwas Gebratenes auf dem Tisch stehen und auch ein frischer Trunk für den Durst."
"Geh nur, Friederchen", antwortete die Frau, "geh nur, ich will dir's schon recht machen." Um die Essenszeit holte sie eine Wurst aus dem Rauchfang, tat sie in eine Bratpfanne, legte Butter dazu und stellte sie übers Feuer. Die Wurst fing zu braten und zu brutzeln an, und das Catherlieschen stand dabei, hielt den Pfannenstiel in der Hand und machte sich seine Gedanken. Da fiel ihm ein, es könne, bis die Wurst gar sei, im Keller eine Kanne Bier zapfen. Es nahm also eine Kanne, ging in den Keller und zapfte Bier. Das Bier lief in die Kanne, und Catherlieschen sah dabei zu, da fiel ihm ein: "Der Hund ist oben nicht an der Kette, er könnte die Wurst aus der Pfanne holen!" Im Hui war es die Kellertreppe hinauf, aber der Spitz hatte die Wurst schon im Maul und schleifte sie auf der Erde fort. Das Catherlieschen, nicht faul, jagte ihm nach, aus dem Haus und ein gutes Stück übers Feld. Doch der Hund war schneller als die Frau und ließ auch die Wurst nicht fahren. "Hin ist hin", sprach das Catherlieschen nach einer Weile, kehrte um, weil es sich müde gelaufen hatte und ging hübsch langsam, denn es wollte sich abkühlen nach der Anstrengung. Während dieser Zeit lief das Bier aus dem Fass, denn das Catherlieschen hatte den Hahn vergessen abzudrehen, und als die Kanne voll und sonst kein Platz mehr da war, lief das Bier in den Keller, bis das ganze Fass leergelaufen war. Schon auf der Treppe sah die Frau das Unglück. "Was fängst du jetzt an?", dachte sie, "dass es der Frieder nicht merkt?" Sie besann sich eine Weile; endlich fiel ihr ein, auf dem Boden stehe noch ein Sack mit schönem Weizenmehl, und den könne sie herabholen und in das Bier schütten. "Ja", sprach das Catherlieschen, "wer zur rechten Zeit etwas spart, der hat es danach in der Not." Es stieg also auf den Boden, holte den Sack herab und warf ihn gerade auf die Kanne voll Bier, dass sie umstürzte und der Trunk des Frieders auch im Keller schwamm. "Ganz recht", dachte das Catherlieschen, "wo eins ist, muss das andere auch sein", und streute das Mehl im ganzen Keller umher. Als es fertig damit war, freute es sich über seine Arbeit und sagte: "Wie es doch jetzt so reinlich und sauber hier aussieht!"
Um die Mittagszeit kam der Frieder heim. "Nun, Frau, was hast du mir zurechtgemacht?", fragte er.
"Ach, Friederchen", antwortete sie, "ich wollte dir ja eine Wurst braten, aber während ich das Bier dazu zapfte, hat sie der Hund aus der Pfanne weggeholt, und während ich dem Hunde nach sprang, ist das Bier ausgelaufen, und als ich das Bier mit dem Weizenmehl auf trocknen wollte, habe ich die Kanne auch noch umgestoßen. Aber sei nur zufrieden, der Keller ist wieder ganz trocken." Da sprach der Frieder: ,,0 Catherlieschen, das hättest du nicht tun sollen! Du lässt dir die Wurst stehlen und das Bier aus dem Fass laufen und vergeudest obendrein noch unser feinstes Mehl!"
"Ach, Friederchen", antwortete sie, "hätte ich das doch gewusst, es wäre mir nicht vorgekommen, aber du hast mir nichts davon gesagt."
Darauf dachte der Mann: "Wenn das so mit deiner Frau weitergeht, dann musst du dich besser vorsehen."
Nun hatte er eine hübsche Summe Taler zusammengebracht und in Goldstücke umgewechselt.
"Catherlieschen", sprach er zu ihr, "siehst du, das sind lauter Goldfüchse; ich will sie in einen Topf tun und im Stall unter der Raufe vergraben. Aber dass du mir ja nicht daran gehst, sonst schlägt dir's übel aus."
Da sprach sie: "Nein, Friederchen, das will ich gewiss nicht tun."
Als der Frieder aus dem Haus war, kamen Krämer, die irdene Töpfe verkauften und fragten bei der Frau, ob sie nichts zu tauschen hätte, oder etwas kaufen wolle.
,,0 ihr lieben Leute", sagte das Catherlieschen, "ich kann nichts kaufen, denn im habe kein Geld. Aber wenn ihr Goldfüchse brauchen könnt, so will ich etwas von euch erstehen."
"Goldfümse?", fragten sie, "warum nicht? Lasst sie einmal sehen."
"Geht in den Stall", antwortete das Catherlieschen, "und grabt unter der Raufe, so werdet ihr die Goldfüchse finden, mir hat's mein Mann verboten, ihnen nahe zu kommen."
Die Spitzbuben gingen hin, gruben und fanden den Topf mit den Goldstücken. Da packten sie den Topf mitsamt dem Gold, liefen fort und ließen Töpfe und Näpfe im Hause stehen. Inzwischen meinte das Catherlieschen, es müsse das neue Geschirr auch verwenden. Weil nun in der Küche ohnehin kein Mangel daran war, schlug es jedem Topf den Boden aus und steckte die Töpfe als Zierrat auf die Zaunpfähle rings um das Haus. Bald darauf kam der Frieder.
"Catherlieschen", sagte er, "was hast du denn da gemacht?"
"Ich hab's für die Goldfüchse eingetauscht, die unter der Raufe steckten, aber ich bin selber nicht mitgegangen. Die Krämer haben sie selbst heraus graben müssen."
,,0 Frau", jammerte der Frieder, "die Goldfüchse waren unser ganzes Vermögen. Das hättest du nicht tun sollen." "Friederchen", erwiderte sie, "das habe ich nicht gewusst, du hättest es mir vorher sagen sollen."
Eine Weile stand sie und besann sich, dann sagte sie: "Hör, Frieder, das Geld wollen wir schon wieder kriegen. Lass uns hinter den Dieben herlaufen."
"So komm", entgegnete der Frieder, "nimm aber Butter und Käse mit, dass wir auf dem Weg was zu essen haben." Sie machten sich also auf den Weg, und weil der Frieder besser zu Fuß war als die Frau, trollte das Catherlieschen immer hintennach. "Ist mein Vorteil", dachte es, "wenn wir umkehren, habe ich schon ein Stück voraus." Nun kam es an einen Berg, wo der Weg tiefe Furchen zeigte. "Sieh einer das", dachte das Catherlieschen, "wie haben sie doch das arme Erdreich geschunden und zerrissen! Das wird sein Lebtag nicht wieder heil." Mitleidigen Herzens holte es seine Butter aus der Tasche und bestrich die Furchen des Weges damit. Als es sich aber bei seiner barmherzigen Arbeit bückte, fiel ihm ein Käse aus der Tasche und rollte den Berg hinab. Da dachte das Catherlieschen: "Jetzt habe ich den Weg herauf gemacht, und jetzt gehe ich nicht wieder hinunter; mag ein anderer hinlaufen und den Käse holen." Also nahm es den zweiten Käse und rollte ihn hinab. Als nichts zurückkam, ließ es auch noch einen dritten Käse hinunterrollen und dachte: "Vielleicht warten sie auf Gesellschaft und gehen nicht gern allein." Da aber alle drei ausblieben, sprach es: "Ich weiß nicht, was ich darüber denken soll! Doch kann's ja sein, der dritte hat den Weg nicht gefunden und sich verirrt, ich will deshalb den vierten Käse schicken, dass er die anderen herbeiruft." Der vierte machte es aber nicht besser als der dritte. Da wurde das Catherlieschen ärgerlich und warf auch den fünften und sechsten Käse hinab, und das waren die letzten. Eine Zeitlang blieb es stehen und wartete. Als aber keiner der Käse zurückkehrte, dachte es: "Ich gehe meiner Wege, ihr könnt mir nachlaufen, ihr habt jüngere Beine als ich." Das Catherlieschen ging weiter und fand den Frieder, der nach einiger Zeit stehen geblieben war und gewartet hatte, weil er gern etwas essen wollte.
"Gib einmal her, was du mitgenommen hast", sagte er. Sie reichte ihm das trockene Brot.
"Wo sind Butter und Käse?", fragte der Mann.
"Ach Friederchen", erwiderte sie, "mit der Butter hab ich die Wegfurchen geschmiert, und die Käse werden bald kommen; einer lief mir fort, da hab ich ihm die anderen nachgeschickt; damit sie ihn zurückrufen."
"Das hättest du nicht tun sollen, Catherlieschen", zürnte der Frieder. "Gewiss, gewiss", antwortete sie, "wenn ich's vorher gewusst hätte. Aber du hättest mir's zuerst sagen müssen."
Sie aßen zusammen das trockene Brot, und der Frieder sagte: "Catherlieschen, hast du auch unser Haus verschlossen, als du fortgegangen bist?"
"Nein", antwortete sie, "das hättest du mir vorher sagen sollen." "So geh wieder heim und verschließ erst das Haus", sagte er, "und bring auch etwas anderes zu essen mit, ich will hier auf dich warten." Die Frau lief zurück und dachte: "Etwas anderes will er essen, so will ich ein Tuch voll Hutzeln mitnehmen und einen Krug Essig zum Trunk."
Zu Hause riegelte das Catherlieschen die Obertüre zu, die Untertüre aber hob es aus, nahm sie auf die Schulter und glaubte, wenn es die Türe in Sicherheit gebracht habe, müsse auch das Haus wohlverwahrt sein. Sie ließ sich Zeit auf dem Weg und dachte: "Desto länger ruht sich Friederchen aus." Als sie ihn wieder erreicht hatte, sagte sie: "Friederchen, da hast du die Haustüre, jetzt kannst du das Haus damit selber verwahren."
,,0 Gott, 0 Gott", jammerte er, "was habe ich für eine kluge Frau! Hebt die Türe unten aus, dass alles hineinlaufen kann und riegelt sie oben zu. Jetzt ist's zu spät, noch einmal nach Haus zu gehen, aber da du die Türe bis hierher getragen hast, so kannst du sie auch weitertragen."
"Die Türe will ich tragen, Friederchen", sagte sie, "aber die Hutzeln und der Essigkrug werden mir zu schwer, ich hänge sie an die Tür, mag sie die Türe tragen."
Nun gingen sie in den Wald und suchten nach den Spitzbuben, aber sie fanden sie nicht. Weil es dunkel wurde, stiegen sie auf einen Baum, um dort die Nacht zu verbringen. Kaum aber saßen sie oben, so kamen die Kerle daher, die forttragen, was nicht freiwillig mitgehen will. Sie ließen sich gerade unter dem Baum nieder, auf dem der Frieder und das Catherlieschen saßen, zündeten ein Feuer an und wollten ihre Beute teilen. Catherlieschen hatte die Türe noch immer auf der Schulter. Und weil sie so schwer drückte, dachte es, die Hutzeln seien schuld und sprach: "Friederchen, ich muss die Hutzeln hinunterwerfen."
"Nein, Catherlieschen, jetzt nicht", antwortete er, "sie könnten uns verraten."
"Ach, Friederchen", seufzte die Frau, "ich muss, sie drücken mich gar zu sehr."
"Nun, so tu's, in Henkers Namen", sagte er. Da rollten die Hutzeln zwischen den Asten hinab, und die Kerle unten sprachen: "Das kommt von den Vögeln."
Eine Weile danach jammerte das Catherlieschen erneut, weil die Türe noch immer drückte. "Ach, Friederchen", seufzte es, "ich muss den Essig ausschütten."
"Nein, Catherlieschen, das darfst du nicht, es könnte uns verraten."
"Ach, Friederchen, ich muss, er drückt mich gar zu sehr."
"Nun so tu's in Henkers Namen!" sagte er. Da schüttete das Catherlieschen den Essig aus, dass er die Kerle bespritzte. Sie sprachen untereinander: "Der Tau tröpfelt schon herunter."
Endlich dachte das Catherlieschen: "Sollte es wohl die Türe sein, die mich so drückt?" und sprach: "Friederchen, ich muss die Türe hinunterwerfen."
"Nein, Catherlieschen, jetzt nicht", sagte er, sie könnte uns verraten."
"Ach Friederchen, ich muss, sie drückt mich gar zu sehr."
"Nein, Catherlieschen", antwortete er. "Halt sie ja fest."
"Ach, Friederchen", seufzte die Frau, "ich lass sie fallen."
"Ei", antwortete Frieder ärgerlich, "so lass sie fallen in Teufels Namen!" Da fiel sie herunter mit starkem Gepolter, und die Kerle unten riefen: "Der Teufel kommt vom Baum herab", rissen aus und ließen alles im Stich. Frühmorgens, als die zwei hinunter stiegen, fanden sie ihr Gold wieder und trugen es zusammen heim.
Als sie wieder zu Hause waren, sprach der Frieder zu seiner Frau: "Catherlieschen, nun musst du aber auch fleißig sein und arbeiten."
"Ja, Friederchen", antwortete sie, "ich will aufs Feld gehen und Frucht schneiden."
Als das Catherlieschen auf dem Felde war, sprach es zu sich: "Ess ich, eh ich schneide, oder schlaf ich, eh ich schneide? Heisa, ich will eher essen." Da aß das Catherlieschen, wurde über dem Essen schläfrig und fing an zu schneiden und schnitt im halben Traume alle seine Kleider entzwei, Schürze, Rock und Hemd. Als das Catherlieschen nach langem Schlafe erwachte, stand es halb nackig da und sprach zu sich: "Bin ich's, oder bin ich's nicht? Ach, ich bin's nicht!"
Unterdessen war es Nacht geworden, da lief das Catherlieschen ins Dorf zurück, klopfte an ihres Mannes Fenster und rief: "Friederchen, ist das Catherlieschen schon drin?"
"Ja, ja", antwortete der Frieder, "es wird wohl drin liegen und schlafen."
Da sagte es: "So ist's gut, dann bin ich gewiss schon zu Haus", und lief fort.
Draußen fand das Catherlieschen Spitzbuben, die stehlen wollten. Es trat auf sie zu und sagte: "Ich will euch helfen stehlen."
Die Spitzbuben meinten, es wisse, wo man etwas erwischen könne und waren's zufrieden. Das Catherlieschen ging vor die Häuser und rief: "He Leute, habt ihr was? Wir wollen stehlen."
Da dachten die Spitzbuben: "Das wird gut werden", und wünschten, sie wären das Catherliesehen wieder los. "Frau", sagten sie, "vor dem Dorfe hat der Pfarrer Rüben auf dem Feld, geh hin und rupf uns Rüben."
Das Catherlieschen ging also hin und fing an zu rupfen, war aber so faul, dass es sich nur einmal bückte und nicht mehr vom Boden aufstand. Da kam ein Mann vorbei und dachte, das sei der Teufel, der so in den Rüben wühle. Eilig lief er ins Dorf zum Pfarrer und rief: "Herr Pfarrer, auf eurem Acker sitzt der Teufel und rupft eure Rüben." "Ach Gott", antwortete der Pfarrer, "Ich habe einen lahmen Fuß, ich kann nicht hinaus und ihn wegbannen."
Da sprach der Mann: "So will ich euch auf den Rücken nehmen und hinaustragen."
Als sie aber zum Acker' kamen, hatte sich das Catherlieschen gerade zum ersten Mal hoch gestreckt.
"Ach, der Teufel!", rief der Pfarrer und beide eilten fort. Und der Pfarrer konnte vor lauter Angst mit seinem lahmen Fuße schneller laufen als der Mann, der ihn getragen hatte, mit seinen gesunden Beinen. Das Catherlieschen aber lief mit einer großen Rübe hinterher, um sie dem Friederchen als Sonntagsschmaus zu bringen, denn es war ihm beim Rupfen eingefallen, dass es doch nicht zu Hause gewesen sein könne und also doch das Catherlieschen sein müsse.

Die Spinnerin am Flachsfeld

Zu Marburg an der Lahn lebte einst ein Bäckermeister, der den Armen viel Gutes tat. Er hatte sich frühmorgens aufgemacht, um über Feld zu gehen und Weizen einzukaufen, als er auf dem Frauenberg im Frühsonnenschein eine holde Jungfrau sitzen sah. Sie trug ein altmodisches, linnenes Kleid mit blauen Blüten bestickt, die aussahen wie die Blüten des Flachses. Sie hatte blaue Augen und langes, über den Rücken herabwallendes Haar und zwirbelte mit fleißigen Händen eine Spindel.
Freundlich einen „Guten Morgen“ wünschend wollte der Meister an der Spinnerein vorübergehen, als sie ihm mit zutraulicher Gebärde Halt gebot und ihn zu sich winkte.
Sie fragte ihn nach Zweck und Ziel seines Weges und bückte sich über eine Schürze, die sie auf den Boden neben sich ausgebreitet hatte. Viele Fruchtkapseln lagen darauf zum Trocknen, und sie reichte ihm eine Handvoll, die er Mann in die Rocktasche steckte. Die Jungfrau sprach zu dem Meister: „Nimm as, baue es und nütze es, es wird dir die Arbeit lohnen.“
Als er ein Stück Wegs hinter sich gebracht hatte, drehte er sich noch einmal nach der schönen Spinnerin um, sah sie aber nicht mehr. Indes verwunderte er sich wenig, weil er glaubte, sie sei inzwischen mit ihrer Arbeit fertig geworden und auch gegangen. Da griff er nach den Körnern in der Tasche und sah sie sich an; aber es war wertloses zeug, das vielleicht die Vögel zum Futter brauchen mochten oder die Kinder zum Spielen. Der Mann begegnete an dem Tag nur freundlichen Gesichtern. Und als er am Abend in die Tasche griff, um die Fruchtkapseln seinen Kindern zu schenken, da waren sie so schwer geworden, dass er sie staunend in der Hand wog: s waren lauter Kugeln aus echten, rotem Gold. Nun ahne er auch, wer die freundliche Spinnerin gewesen war: niemand anders als Frau Holle, der das Flachsfeld heilig war und die in ältesten Zeiten die Menschenfrauen gelehrt hatte, aus der lieblichen Pflanze den Hanf zu spinnen und das Leinen zu weben.

Dornröschen

Vor Zeiten lebten ein König und eine Königin.
Jeden Tag sprachen sie: "Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!", denn sie hatten keines. Einmal trug es sich zu, als die Königin im Bade saß, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land hüpfte und zu ihr sagte: "Dein Wunsch wird erfüllt werden. Ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter dein eigen nennen." Was der Frosch gesagt hatte, das geschah. Das Mädchen, das die Königin zur Welt brachte, war so schön, dass der König ganz außer sich vor Freude war und ein großes Fest feiern wollte. Alle Verwandten, Freunde und Bekannten wurden dazu geladen, aber auch die weisen Frauen, das waren die Schicksalsfrauen, damit sie dem Kinde hold und gewogen seien. Dreizehn lebten davon in seinem Reiche. Weil der König aber nur zwölf goldene Teller hatte, von denen sie essen sollten, so musste eine von ihnen fernbleiben. Das Fest wurde mit großer Pracht gefeiert, und als es zu Ende ging, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben. Die eine verlieh ihm Tugend, die andere Schönheit, die dritte Reichtum, und so erhielt es alles, was auf der Welt zu wünschen ist. Als elf Frauen ihre Sprüche getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen worden war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: "Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot niederfallen." Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, kehrte sie sich um und verließ den Saal. Jedermann war erschrocken. Da trat die zwölfte hinzu, die ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern ihn nur mildern konnte, sagte sie: "Es soll kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in den die Königstochter fällt."
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unheil bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, dass alle Spindeln im ganzen Königreiche verbrannt werden sollten. Inzwischen aber erfüllten sich an dem Mädchen die Gaben der weisen Frauen. Es wuchs heran Und war schön, sittsam, freundlich und verständig, dass es jedermann, der es ansah, liebhaben musste. Nun geschah es, dass an dem Tage, als es gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, der König und die Königin zur Jagd geritten waren und das Mädchen ganz allein im Schlosse zurückgeblieben war. Da ging es überall herum, besah sich, weil es Lust hatte, alle Stuben und Kammern und gelangte endlich auch zu einem alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, bis es vor einer kleinen Türe stand. In ihrem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es ihn umdrehte, sprang die Türe auf und da saß in einem kleinen Stübchen eine alte Frau an einer Spindel und spann emsig Flachs.
"Guten Tag, altes Mütterchen", sagte die Königstochter, "was machst du da?"
"Ich spinne", antwortete die Alte und nickte mit dem Kopf.
"Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?", fragte das Mädchen und nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging der böse Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in den Finger.
In eben dem Augenblick, als sie den Stich empfand, fiel sie auf einen Stuhl nieder, der in der Stube stand, und lag in tiefem Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss. Der König und die Königin, die gerade heimgekommen und in den großen Saal getreten waren, begannen einzuschlafen und der ganze Hofstaat mit ihnen. Auch die Pferde im Stall schliefen ein, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, sogar das Feuer, das auf dem Herde flackerte, wurde still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu schmoren, und der Koch, der den Küchenjungen an den Haaren ziehen wollte, weil er etwas versehen hatte, ließ ihn los und schlief ein. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr. Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher wurde und endlich das ganze Schloss umwob und noch darüber hinauswuchs, so dass gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach.
Mit der Zeit ging eine Sage durchs Land von dem schlafenden Dornröschen, denn so hatte man die Königstochter benannt. Und es war diese Sage, die auch immer wieder die Königssöhne aus fremden Ländern kommen ließ, um das Dornröschen im Schloss hinter der Hecke zu erlösen. Es war ihnen aber nicht vergönnt, denn die Dornen hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen und konnten sich nicht wieder losmachen, so dass sie eines elenden Todes starben.
Nach vielen, vielen Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land und hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke erzählte und dass ein Schloss hinter ihr stehe, in dem eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen geheißen, schon seit hundert Jahren schlafe, und mit ihr schlafe auch der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Der Alte wusste auch von seinem Großvater, dass schon viele Königssöhne gekommen seien und versucht hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie seien darin hängengeblieben und eines traurigen Todes gestorben.
Da sprach der Jüngling: "Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen."
Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, der Königssohn hörte nicht auf seine Worte.
Nun waren aber gerade die hundert Jahre verstrichen, und der Tag war gekommen, an dem Dornröschen erwachen sollte. Als sich der Königssohn der Dornenhecke näherte, fand er lauter schöne, große Rosen, die ihm den Weg freigaben, sich hinter ihm aber wieder zu einer Hecke zusammenschlossen. Im Hofe aber sah er die Pferde und die scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dache saßen die Tauben und hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wolle er den Küchenjungen packen, und die Magd saß vor einem schwarzen Huhn, das gerupft werden sollte. Er ging weiter und weiter und sah im Saal den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben auf dem Thronstuhl lagen der König und die Königin. Aber er hielt sich nicht auf und ging noch weiter, und alles war so still, dass einer seinen Atem hören konnte, und endlich gelangte er zu dem alten Turm und stieg hinauf. Er öffnete die Ture zu der kleinen Stube, in der Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, dass er die Augen nicht davon abwenden konnte. Er neigte sich ihm zu und küsste es. Da schlug Dornröschen die Augen auf und blickte ihn hell und freundlich an. Dann gingen sie zusammen hinab, und der König erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat und alle sahen sich mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen auf und schüttelten sich, die Jagdhunde sprangen auf und wedelten, die Tauben auf dem Dache zogen die Köpfe unter den Flügeln hervor, gurrten und flogen ins Feld, und die Fliegen an den Wänden krochen auf und ab wie eh und je zuvor. Das Feuer in der Küche fing an zu flackern, und der Braten begann zu brutzeln. Der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, dass er schrie, und die Magd rupfte das Huhn fertig. Darauf aber wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt zusammen bis an ihr Ende.

Der Meisterdieb

Eines Tages saß vor einem ärmlichen Hause ein alter Mann mit seiner Frau, und wollten von der Arbeit ein wenig ausruhen. Da kam auf einmal ein prächtiger, mit vier Rappen bespannter Wagen herbei gefahren, aus dem ein reich gekleideter Herr stieg. Der Bauer stand auf, trat zu dem Herrn und fragte was sein Verlangen wäre und worin er ihm dienen könnte. Der Fremde reichte dem Alten die Hand und sagte: „Ich wünsche nichts als einmal ein ländliches Gericht zu genießen. Bereitet mir Kartoffel, wie Ihr sie zu essen pflegt, dann will ich mich zu Eurem Tisch setzen und sie mit Freude verzehren.“
Der Bauer lächelte und sagte: „Ihr seid ein Graf oder Fürst, oder gar ein Herzog, vornehme Herren haben manchmal solch ein Gelüsten; Euer Wunsch soll aber erfüllt werden.“ Die Frau ging in die Küche und sie fing an Kartoffeln zu waschen und zu reiben und wollte Klöße daraus bereiten, wie sie die Bauern essen. Während sie bei der Arbeit stand, sagte der Bauer zu dem Fremden: „Kommt einstweilen mit mir in meinen Hausgarten, wo ich noch etwas zu schaffen habe.“ In dem Garten hatte er Löcher gegraben und wollte jetzt Bäume einsetzen. „Habt ihr keine Kinder“, fragte der Fremde, „die Euch bei der Arbeit behilflich sein könnten?“
„Nein“, antwortete der Bauer; „ich habe freilich einen Sohn gehabt“, setzte er hinzu, „aber der ist schon seit langer Zeit in die weite Welt gegangen. Es war ein ungeratener Junge, klug und verschlagen, aber er wollte nichts lernen und machte lauer böse Streiche; zuletzt lief er mir fort, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört.“ Der Alte nahm ein Bäumchen, setzte es in ein Loch und stieß einen Pfahl daneben; und als er Erde hingeschaufelt und sie festgestampft hatte, band er den Stamm unten, oben und in der Mitte mit einem Strohseil fest an den Pfahl. „Aber sagt mir“, sprach der Herr, „warum bindet Ihr den krummen knorrichten Baum, der dort in der Ecke fast bis auf den Boden gebückt liegt, nicht auch an einen Pfahl, wie diesen, damit er strack wächst?“ Der Alte lächelte und sagte: „Herr, Ihr redet wie Ihr’s versteht: man sieht wohl, dass Ihr Euch mit der Gärtnerei nicht abgegeben habt. DerBaum dort ist alt und verknorzt, den kann niemand mehr gerad machen; Bäume muss man ziehen, solange sie jung sind.“
„Es ist wie bei Eurem Sohn“, sagte der Fremde, „hättet Ihr den gezogen, wie er noch jung war, so wäre er nicht fortgelaufen; jetzt wird er auch hart und knorzig geworden sein.“
„Freilich“, antwortete der Alte, „es ist schon lange, seit er fortgegangen ist; er wird sich verändert haben.“
„Würdet Ihr ihn noch erkennen, wenn er vor Euch träte?“, fragte der Fremde.
„Am Gesicht schwerlich, antwortete der Bauer, „aber er hat ein Zeichen an sich, ein Muttermal auf der Schulter, das wie eine Bohne aussieht.“ Als er das gesagt hatte, zog der Fremde den Rock aus, entblößte seine Schuler und zeigte dem Bauer die Bohne.
„Herr Gott“, rief der Alte, „du bist wahrhaftig mein Sohn“, und die Liebe zu seinem Kinde regte sich in seinem Herzen. „Aber“, setzte er hinzu, „wie kannst du mein Sohn sein, du bist ein großer Herr geworden und lebst in Reichtum und Überfluss? Auf welchem Weg bist du dazu gelangt?“
„Ach, Vater“, erwidere der Sohn, „der junge Baum war an keinen Pfahl gebunden und ist krumm gewachsen: jetzt ist er zu alt; er wird nicht wieder gerad. Wie ich das alles erworben habe? Ich bin ein Dieb geworden. Aber erschreckt Euch nicht, ich bin ein Meisterdieb. Für mich gibt es weder Schloss noch Riegel; wonach mich gelüstet, das ist mein. Glaubt nicht, dass ich stehle wie ein gemeiner Dieb, ich nehme nur vom Überfluss der Reichen. Arme Leute sind sicher; ich lebe ihnen lieber als dass ich ihnen etwas nehme. So auch was ich ohne Mühe, List und Gewandtheit haben kann, das rühre ich nicht an.“
„Ach, mein Sohn“, sagte der Vater, „es gefällt mir doch nicht, ein Dieb bleibt ein Dieb; ich sage dir, es nimmt kein gutes Ende.“ Er führte ihn zur Mutter, und als sie hörte, dass es ihr Sohn war, weinte sie vor Freude; als er ihr aber sagte, dass er ein Meisterdieb geworden wäre, so flossen ihr zwei Ströme über das Gesicht. Endlich sagte sie: „Wenn er auch ein Dieb geworden ist, so ist er doch mein Sohn und meine Augen haben ihn noch einmal gesehen.“
Sie setzten sich an den Tisch und er aß mit seinen Eltern wieder einmal die schlechte Kost, die er lange nicht gegessen hatte. Der Vater sprach: „Wenn unser Herr, der Graf drüben im Schlosse, erfährt, wer du bist und was du treibst, so nimmt er dich nicht auf die Arme und wiegt dich darin, wie er tat, als er dich am Taufstein hielt, sondern er lässt dich am Galgenstrick schaukeln.“
„Seid ohne Sorge, mein Vater, er wird mir nichts tun, denn ich verstehe mein Handwerk. Ich will heute noch selbst zu ihm gehen.“
Als die Abendzeit sich näherte, setzte sich der Meisterdieb in seinen Wagen und fuhr nach dem Schloss. Der Graf empfing ihn mit Artigkeit, weil er ihn für einen vornehmen Mann hielt. Als aber der Fremde sich zu erkennen gab, so erbleichte er und schwieg eine Zeitlang ganz still. Endlich sprach er: „Du bist mein Pate, deshalb will ich Gnade für Recht ergehen lassen und nachsichtig mit dir verfahren. Weil du dich rühmst, ein Meisterdieb zu sein, so will ich deine Kunst auf die Probe stellen, wenn du aber nicht bestehst, so musst du mit des Seilers Tochter Hochzeit halten, und das Gekrächze der Raben soll deine Musik dabei sein.“
„Herr Graf“, antwortete der Meister, „denkt Euch drei Stücke aus, so schwer Ihr wollt, und wenn ich Eure Aufgabe nicht löse, so tut mit mir, wie Euch gefällt.“ Der Graf sann einige Augenblicke nach, dann sprach er: „Wohlan, zum ersten sollst du mir mein Leibpferd aus dem Stalle stehlen, zum andern sollst du mir und meiner Gemahlin, wenn wir eingeschlafen sind, das Betttuch unter dem Leib wegnehmen, ohne dass wir’s merken und dazu meiner Gemahlin den Trauring vom Finger; zum dritten und letzten sollst du mir den Pfarrer und Küster aus der Kirche wegstehlen. Merke dir alles wohl, den es geht dir an den Hals.“
Der Meister begab sich in die zunächstliegende Stadt. Dort kaufte er einer alten Bauerfrau die Kleider ab und zog sie an. Dann färbte er sich das Gesicht braun und malte sich noch Runzeln hinein, so dass ihn kein Mensch wiedererkannt hätte. Endlich füllte er ein Fässchen mit altem Ungarwein, in welchen ein starker Schlaftrunk gemischt war. Das Fässchen legte er auf eine Kötze, die er auf den Rücken nahm, und ging mit bedächtigen, schwankenden Schritten zu dem Schloss des Grafen. Es war schon dunkel, als er anlangte; er setzte sich in den Hof auf einen Stein, fing an zu husten, wie eine alte brustkranke Frau und rieb die Hände, als wenn er fröre. Vor der Türe des Pferdestalls lagen Soldaten um ein Feuer; einer von ihnen bemerkte die Frau und rief ihr zu: „Komm näher, altes Mütterchen, und wärme dich bei uns. Du hast doch kein Nachtlager und nimmst es an, wo du es findest.“ Die Alte trippelte herbei, bat ihr die Kötze vom Rücken zu heben, und setzte sich zu ihnen ans Feuer. „Was hast du da in deinem Fässchen, du alte Schachtel?“, fragte einer. „Einen guten Schluck Wein“, antwortete sie, „ich ernähre mich mit dem Handel; für Geld und gute Worte gebe ich Euch gerne ein Glas.“
„Nur her damit“, sagte der Soldat, und als er ein Glas gekostet hatte, rief er: „Wenn der Wein gut ist, so trink ich lieber ein Glas mehr“, ließ sich nochmals einschenken, und die andern folgten seinem Beispiel. „Heda, Kameraden“, rief einer denen zu, die in dem Stall saßen, „hier ist ein Mütterchen, das hat Wein, der so alt ist wie sie selber, nehmt auch einen Schluck, der wärmt euch den Magen noch besser als unser Feuer.“
Die Alte trug ihr Fässchen in den Stall. Einer hatte sich auf das gesattelte Leibpferd gesetzt, ein anderer hielt den Zaum in der Hand, ein dritter hatte den Schwanz gepackt. Sie schenkt ein soviel verlangt ward, bis die Quelle versiegte. Nicht lange, so fiel dem einen der Zaum aus der Hand, er sank nieder und fing an zu schnarchen, der andere ließ den Schwanz los, legte sich nieder und schnarchte noch lauter. Der, welcher im Sattel saß, blieb zwar sitzen, bog sich aber mit dem Kopf fast bis auf den Hals des Pferdes, schlief und blies mit dem Munde wie ein Schmiedebalg. Die Soldaten draußen waren schon längst eingeschlafen, lagen auf der Erde und regten sich nicht, als wären sie von Stein. Als der Meisterdieb sah, dass es ihm geglückt war, gab er dem einen statt des Zaums ein Seil in die Hand, und dem andern, der den Schwanz gehalten hatte, einen Strohwisch, aber was sollte er mit dem, der auf dem Rücken des Pferdes saß, anfangen? Herunterwerfen sollte er ihn nicht, er hätte erwachen und ein Geschrei erheben können. Er wusste aber guten Rat: er schnallte die Sattelgurt auf, knüpfte ein paar Seile, die in Ringen an der Wand hingen, an den Sattel fest, und zog den schlafenden Reiter mit dem Sattel in die Höhe, dann schlug er die Seile um die Pfosten und machte sie fest. Das Pferd hatte er bald von der Kette losgebunden, aber wenn er über das steinerne Pflaster des Hofes geritten wäre, so hätte man den Lärm Schloss gehört. Er umwickelte ihm also zuvor die Hufe mit alten Lappen, führte es dann vorsichtig hinaus, schwang sich auf und jagte davon.
Als der Tag angebrochen war, sprengte der Meister auf dem gestohlenen Pferd zum Schloss. Der Graf war eben aufgestanden und blickte aus dem Fenster. „Guten Morgen, Herr Graf“, rief er ihm zu, „hier ist das Pferd, das ich glücklich aus dem Stall geholt habe. Schaut nur, wie schön Eure Soldaten daliegen und schlafen, und wenn Ihr in den Stall gehen wollt, so werdet Ihr sehen, wie bequem sich’s Eure Wächter gemacht haben.“ Der Graf musste lachen, dann sprach er: „Einmal ist dir’s gelungen, aber das zweie Mal wird’s nicht so glücklich ablaufen; und ich warne dich, wenn du mir als Dieb begegnest, so behandle ich dich auch wie einen Dieb.“
Als die Gräfin abends zu Bette gegangen war, schloss sie die Hand mit dem Trauring fest zu, und der Graf sagte: „Alle Türen sind verschlossen und verriegelt; ich bleibe wach und will den Dieb erwarten; steigt er aber zum Fenster ein, so schieße ich ihn nieder.“ Der Meisterdieb aber ging in der Dunkelheit hinaus zu dem Galgen, schnitt einen armen Sünder, der da hing, von dem Strick ab und trug ihn auf dem Rücken nach dem Schloss. Dort stelle er eine Leiter an das Schlafgemach, setzte den Toten auf seine Schultern und fing an hinaufzusteigen. Als er so hoch gekommen war, dass der Kopf des Toten in dem Fenster erschien, drückte der Graf, der in seinem Bett lauerte, eine Pistole auf ihn los; alsbald ließ der Meister den armen Sünder herabfallen, sprang selbst die Leiter herab, versteckte sich in einer Ecke. Die Nacht war von dem Mond so weit erhellt, dass der Meister deutlich sehen konnte, wie der Graf aus dem Fenster auf die Leiter stieg, herabkam und den Toten in den Garten trug. Dort fing er an, ein Loch zu graben, in das er ihn legen wollte. „Jetzt“, dachte der Dieb, „ist der günstige Augenblick gekommen“, schlich behände aus seinem Winkel und stieg die Leiter hinauf, geradezu ins Schlafgemach der Gräfin. „Liebe Frau“, fing er mit der Stimme des Grafen an, „der Dieb ist tot, aber er ist doch mein Pate und mehr ein Schelm als Bösewicht gewesen; ich will ihn der öffentlichen Schande nicht preisgeben; auch mit den armen Eltern habe ich Mitleid. Ich will ihn, bevor der Tag anbricht, selbst im Garten begraben, damit die Sache nicht ruchbar wird. Gib mir auch das Betttuch, so will ich die Leiche einhüllen und ihn wie einen Hund verscharren.“ Die Gräfin gab ihm das Tuch. „Weißt du was“, sagte der Dieb weiter, „ich habe eine Anwandlung von Großmut, gib mir noch den Ring; der Unglückliche hat sein Leben gewagt, so mag er ihn ins Grab mitnehmen. Sie wollte dem Grafen nicht entgegen sein, und obgleich sie es ungern tat, so zog sie doch den Ring vom Finger und reichte ihn hin. Der Dieb machte sich mit beiden Stücken fort und kam glücklich nach Haus, bevor der Graf im Garten mit einer Totengräberarbeit fertig war.
Was zog der Graf für ein langes Gesicht, als am andern Morgen der Meiste4r kam und ihm das Betttuch und den Ring brachte. „Kannst du hexen“, sagte er zu ihm, „wer hat dich aus dem Grab geholt, in das ich selbst dich gelegt habe, und hat dich wieder lebendig gemacht?“
„Mich habt Ihr nicht begraben“, sagte der Dieb, „sondern den armen Sünder am Galgen“, und erzählte ausführlich, wie es zugegangen war; und der Graf musste ihm zugestehen, dass er ein gescheiter und listiger Dieb wäre.
„Aber noch bist u nicht zu Ende“, setzte er hinzu, „du hast noch die dritte Aufgabe zu lösen, und wenn dir das nicht gelingt, so hilft dir alles nichts.“ Der Meister lächelte und gab keine Antwort.
Als die Nacht angebrochen war, kam er mit einem langen Sack auf dem Rücken, einem Bündel unter dem Arm, und einer Laterne in der Hand zu der Dorfkirche gegangen. In dem Sack hatte er Krebse, in dem Bündel aber kurze Wachslichter. Er setzte sich auf den Gottesacker, holte einen Krebs heraus und klebte ihm ein Wachslichtchen auf den Rücken; dann zündete er das Lichtchen an, setzte den Krebs auf den Boden und ließ ihn kriechen. Er holte einen zweiten aus dem Sack, machte es mit diesem ebenso und fuhr fort, bis auch der letzte aus dem Sack war. Hierauf zog er ein langes, schwarzes Gewand an, das wie eine Mönchskutte aussah, und klebte sich einen grauen Bart an das Kinn. Als er endlich ganzunkenntlich war, nahm er den Sack, in dem die Krebse gewesen waren, ging in die Kirche und stieg auf die Kanzel. Die Turmuhr schlug eben zwölf; als der letzte Schlag verklungen war, rief er mit lauter gellender Stimme: „Hört an, ihr sündigen Menschen, das Ende aller Dinge ist gekommen, der jüngste Tag ist nahe; hört an, hört an. Wer mit mir in den Himmel will, der krieche in den Sack. Ich bin Petrus der die Himmelstüre öffnet und schließt. Seht ihr draußen auf dem Gottesacker wandeln die Gestorbenen und sammeln ihre Gebeine zusammen. Kommt, kommt und kriecht in den Sack, die Welt geht unter.“
Das Geschrei erschallte durch das ganze Dorf. Der Pfarrer und der Küster, die zunächst an der Kirche wohnten, hatten es zuerst vernommen, und als sie die Lichter erblickten, die auf dem Gottesacker umherwandelten, merkten sie, dass etwas Ungewöhnliches vorging, und sie traten in die Kirche ein. Sie hörten der Predigt eine Weile zu, da stieß der Küstern den Pfarrer an und sprach: „Es wäre nicht übel, wenn wir die Gelegenheit benutzten und zusammen vor dem Einbruch des jüngsten Tages auf eine leichte Art in den Himmel kämen.“
„Freilich“, erwiderte der Pfarrer, „das sind auch meine Gedanken gewesen; habt Ihr Lust, so wollen wir uns auf den Weg machen.“
„Ja“, antwortete der Küster, „aber Ihr, Herr Pfarrer, habt den Vortritt, ich folge nach.“ Der Pfarrer schritt also vor und stieg auf die Kanzel, wo der Meister den Sack öffnete. Der Pfarrer kroch zuerst hinein, dann der Küster. Gleich band der Meister den Sack fest zu, packte ihn am Bausch und schleifte ihn die Kanzeltreppe hinab; so oft die Köpfe der beiden Toren auf die Stufen aufschlugen, rief er: „Jetzt geht’s schon über die Berge.“ Dann zog er sie auf gleiche Weise durch das Dorf, und wenn sie durch Pfützen kamen, rief er: „Jetzt geht’s schon durch die nassen Wolken“, und als sie endlich die Schlosstreppe hinaufzog, so rief er: „Jetzt sind wir auf der Himme4lstreppe und werden bald im Vorhof sein.“ Als er oben angelangt war, schob er den Sack in den Taubenschlag, und als die Tauben flatterten, sagte er: „Hört ihr, wie die Engel sich freuen und mit den Fittichen schlagen.“ Dann schob er den Riegel vor und ging fort.
Am andern Morgen begab er sich zu dem Grafen, und sagte ihm, dass er auch die dritte Aufgabe gelöst und den Pfarrer und den Küster aus der Kirche weggeführt hätte. „Wo hast du sie gelassen?“, fragte der Herr. „Sie liegen in einem Sack oben auf dem Taubenschlag und bilden sich ein, sie wären im Himmel.“ Der Graf stieg selbst hinauf und überzeugte sich, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Als er den Pfarrer und Küster aus dem Gefängnis befreit hatte, sprach er: „Du bist ein Erzdieb und hast deine Sache gewonnen. Für diesmal kommst du mit heiler Haut davon, aber mache, dass du aus meinem Land fort kommst, denn wenn du dich wieder darin betreten lässt, so kannst du auf deine Erhöhung am Galgen rechnen.“
Der Erzdieb nahm Abschied von seinen Eltern, ging wieder in die weite Welt, und niemand hat wieder etwas von ihm gehört.

Die Rübe

Es waren einmal zwei Brüder, die dienten beide als Soldaten, und war der eine reich, der andere arm. Da wollte der Arme sich aus seiner Not helfen, zog den Soldatenrock aus und ward ein Bauer. Also grub und hackte er sein Stückchen Acker und säte Rübsamen. Der Same ging auf, und es wuchs da eine Rübe, die ward groß und stark und zusehends dicker und wollte gar nicht aufhören zu wachsen, so dass sie eine Fürstin aller Rüben heißen konnte, denn nimmer war so eine gesehen, und wird auch nimmer gesehen werden. Zuletzt war sie so groß, dass sie allein einen ganzen Wagen anfüllte, und zwei Ochsen daran ziehen mussten, und der Bauer wusste nicht, was er damit anfangen sollte und ob’s sein Glück oder sein Unglück wäre. Endlich dachte er: „Verkaufst du sie, was wirst du großes dafür bekommen, und willst du sie selber essen, so tun die kleinen Rüben denselben Dienst; am besten ist, du bringst sie dem König und machst ihm eine Verehrung damit.“ Also lud er sie auf den Wagen, spannte zwei Ochsen vor, brachte sie an den Hof und schenkte sie dem König.
„Was ist das für ein seltsam Ding?“, fragte der König, „mir ist viel Wunderliches vor die Augen gekommen, aber so ein Ungetüm noch nicht; aus was für Samen mag die gewachsen sein? Oder dir gerät’s allein und du bist ein Glückskind.“
„Ach nein“, sagte der Bauer, „ein Glückskind bin ich nicht, ich bin ein armer Soldat, der, weil er sich nicht mehr nähren konnte, den Soldatenrock an den Nagel hing und das Land baute. Ich habe noch einen Bruder, der ist reich, und Euch, Herr König, auch wohl bekannt, ich aber, weil ich nichts habe, bin von der Welt vergessen.“
Da empfand der König Mitleid mit ihm und sprach: „Deiner Armut sollst du überhoben und so von mir beschenkt werden, dass du wohl deinem reichen Bruder gleich kommst. “Da schenkte er ihm eine Menge Gold, Äcker, Wiesen und Herden, und machte ihn steinreich, so dass des andern Bruders Reichtum gar nicht konnte damit verglichen werden. Als dieser hörte, was sein Bruder mit einer einzigen Rübe erworben hatte, beneidete er ihn und sann hin und her, wie er sich auch ein solches Glück zuwenden könnte. Er wollt’s aber noch viel gescheiter anfangen, nahm Gold und Pferde und brachte sie dem König und meinte nicht anders, der würde ihm ein viel größeres Gegengeschenk machen, denn hätte sein Bruder soviel für eine Rübe bekommen, was würde es ihm für so schöne Dinge nicht alles tragen. Der König nahm das Geschenk an und sagte, er wüsste ihm nichts wiederzugeben, das seltener und besser wäre als die große Rübe. Also musste der Reiche seines Bruders Rübe auf einen Wagen legen und nach Haus fahren lassen. Daheim wusste r nicht, an wem er seinen Zorn und Ärger auslassen sollte, bis ihm böse Gedanken kamen und er beschloss, seinen Bruder zu töten. Er gewann Mörder, die mussten sich in einen Hinterhalt stellen und darauf ging er zu seinem Bruder und sprach: „Lieber Bruder, ich weiß einen heimlichen Schatz, den wollen wir miteinander heben und teilen.“ Der andere ließ sich’s auch gefallen und ging ohne Arg mit. Als sie aber hinauskamen, stürzten die Mörder über ihn her, banden ihn und wollten ihn an einen Baum hängen. Indem sie eben darüber waren, erscholl aus der Ferne lauter Gesang und Hufschlag, dass ihnen der Schrecken in den Leib fuhr und sie über Hals und Kopf ihren Gefangenen in den Sack steckten, am Ast hinauf wanden und die Flucht ergriffen. Er aber arbeitete oben bis er ein Loch im Sack hatte, wodurch er den Kopf stecken konnte. Wer aber des Wegs kam, war nichts als ein fahrender Schüler, ein junger Gesell, der fröhlich sein Lied singend durch den Wald und der Straße daher ritt. Wie der oben nun merkte, dass einer unter ihm vorbeiging, rief er: „Sei mir gegrüßt, zu guter Stunde.“ Der Schüler guckte sich überall um, wusste nicht wo die Stimme herschallte, endlich sprach er: „Wer ruft mir?“
Da antwortete er aus dem Wipfel: „Erhebe deine Augen, ich sitze hier oben im Sack der Weisheit; in kurzer Zeit habe ich große Dinge gelernt, dagegen sind alle Schulen ein Wind; um ein Weniges, so werde ich ausgelernt haben, herabsteigen und weiser sein als alle Menschen. Ich verstehe die Gestirne und Himmelszeichen, das Wehen aller Winde, den Sand am Meer, Heilung der Krankheit, die Kräfte der Kräuter, Vögel und Steine. Wärst du einmal darin, du würdest fühlen, was für Herrlichkeit aus dem Sack der Weisheit fließt.“
Der Schüler, wie er das alles hörte, erstaunte und sprach: „Gesegnet sei die Stunde, wo ich dich gefunden habe, könnt ich nicht auch ein wenig in den Sack kommen?“
Oben der antwortete, als tät er’s nicht gerne: „Eine kleine Weile will ich dich wohl hineinlassen für Lohn und gute Worte, aber du musst doch noch eine Stunde warten, es ist ein Stück übrig, das ich erst lernen muss.“ Als der Schüler ein wenig gewartet hatte, war ihm die Zeit zu lang und er bat, dass er doch möchte hineingelassen werden, sein Durst nach Weisheit wäre gar zu groß. Da stellte sich der oben, als gäbe er endlich nach und sprach: „Damit ich aus dem Haus der Weisheit heraus kann, musst du den Sack am Strick herunterlassen, so sollst du eingehen.“ Also ließ der Schüler ihn herunter, band den Sack auf und befreite ihn, dann rief er selber: „Nun zieh mich recht geschwind hinauf“, und wollt geradstehend in den Sack einschreiten.
„Halt“, sagte der andere, so geht’s nicht an“, packte ihn beim Kopf, steckte ihn umgekehrt in den Sack, schnürte zu und zog den Jünger der Weisheit am Strick baumwärts, dann schwengelte er ihn in der Luft und sprach: „Wie steht’s, mein lieber Geselle? Siehe, schon fühlst du, dass dir die Weisheit kommt und machst gute Erfahrung, sitze also fein ruhig, bis du klüger wirst.“
Dann stieg er auf des Schülers Pferd, ritt fort, schickte aber nach einer Stunde jemand, der ihn wieder herablassen musste.

Das Lumpengesindel

Hähnchen sprach zum Hühnchen: „Jetzt ist die Zeit, wo die Nüsse reif werden, da wollen wir zusammen auf den Berg gehen und uns einmal recht satt essen, ehe sie das Eichhorn alle wegholt.“
„Ja“, antwortete das Hühnchen, „komm wir wollen uns eine Lust miteinander machen:“
Da gingen sie zusammen fort auf den Berg, und weil es ein heller Tag war, blieben sie bis zum Abend. Nun weiß ich nicht, ob sie sich so dick gegessen hatten, oder ob sie übermütig geworden waren, kurz, sie wollten nicht zu Fuß nach Hause gehen, und das Hähnchen musste einen kleinen Wagen von Nussschalen bauen. Als er fertig war, setzte sich Hühnchen hinein und sagte zu Hähnchen: „Du kannst dich nur immer vorspannen.“
„Du kommst mir recht“, sagte das Hähnchen, „lieber geh ich zu Fuß nach Hause, als dass ich mich vorspannen lasse, nein, so haben wir nicht gewettet. Kutscher will ich wohl sein und auf dem Bock sitzen, aber selbst ziehen, das tu ich nicht.“
Wie sie so stritten, schnatterte eine Ente daher: „Ihr Diebsvolk, wer hat euch geheißen, in meinen Nussberg zu gehen? Wartet, das soll euch schlecht bekommen!“, ging also mit aufgesperrtem Schnabel auf das Hähnchen los. Aber Hähnchen war auch nicht faul und stieg der Ente tüchtig zu Leib, endlich hackte es mit seinen Sporen so gewaltig auf sie los, dass sie um Gnade bat und sich gern zur Strafe vor den Wagen spannen ließ. Hähnchen setzte sich nun auf den Bock und war Kutscher, und darauf ging es fort in einem Jagen, „Ente, lauf zu, was du kannst!“
Als sie ein Stück Weges gefahren waren, begegneten sie zwei Fußgängern, einer Stecknadel und einer Nähnadel.
Sie riefen: „Halt! Halt!“ und sagten, es würde gleich stichdunkel werden, da könnten sie keinen Schritt weiter, auch wäre es so schmutzig auf der Straße, ob sie nicht ein wenig einsitzen könnten, sie wären auf der Schneiderherberge vor dem Tor gewesen und hätten sich beim Bier verspätet. Hähnchen, da es magere Leute waren, die nicht viel Platz einnahmen, ließ sie beide einsteigen, doch mussten sie versprechen, ihm und seinem Hühnchen nicht auf die Füße zu treten. Spät abends kamen sie zu einem Wirtshaus, und weil sie die Nacht nicht weiterfahren wollten, die Ente auch nicht gut zu Fuß war und von einer Seite auf die andere fiel, so kehrten sie ein. Der Wirt machte anfangs viel Einwendungen, sein Haus wäre schon voll, gedachte auch wohl, es möchte keine vornehme Herrschaft sein, endlich aber, da sie süße Reden führten, er sollte das Ei haben, welches das Hühnchen unterwegs gelegt hatte, auch die Ente behalten, die alle Tage eins legte, so sagte er endlich, sie möchten die Nacht über bleiben. Nun ließen sie wieder frisch auftragen und lebten in Saus und Braus. Frühmorgens, als es dämmerte und noch alles schlief, weckte Hähnchen das Hühnchen, holte das Ei, pickte es auf, und sie verzehrten es zusammen; die Schalen aber warfen sie auf den Feuerherd. Dann gingen sie zu der Nähnadel, die noch schlief, packten sie beim Kopf und steckten sie in das Sesselkissen des Wirts, die Stecknadel aber in sein Handtuch, endlich flogen sie mir nichts dir nichts über die Heide davon. Die Ente, die gern unter freiem Himmel schlief und im Hof geblieben war, hörte sie fortschnurren, machte sich munter und fand einen Bach, auf dem sie hinab schwamm; und das ging geschwinder als vor dem Wagen. Ein paar Stunden später machte sich erst der Wirt aus den Federn, wusch sich und wollte sich am Handtuch abtrocknen, da fuhr ihm die Stecknadel über das Gesicht und machte ihm einen roten Strich von einem Ohr zum andern; dann ging er in die Küche und wollte sich eine Pfeife anstecken, wie er aber an den Herd kam, sprangen ihm die Eierschalen in die Augen: Heute morgen will mir alles an den Kopf“, sagte er und ließ sich verdrießlich auf seinen Großvaterstuhl nieder; aber geschwind fuhr er wieder in die Höhe und schrie: „Auweh!“, denn die Nähnadel hatte ihn noch schlimmer und nicht in den Kopf gestochen. Nun war er vollends böse und hatte Verdacht auf die Gäste, die so sät gestern abends gekommen waren, und wie er ging und sich nach ihnen umsah, waren sie fort. Da tat er einen Schwur, kein Lumpengesindel mehr in sein Haus zu nehmen, das viel verzehrt, nichts bezahlt und zum Dank noch obendrein Schabernack treibt.

Die Eule

Vor ein paar hundert Jahren, als die Leute noch lange nicht so klug und verschmitzt waren, als sie heutzutage sind, hat sich in einer kleinen Stadt eine seltsame Geschichte zugetragen. Von ungefähr war eine von den großen Eulen, die man Schuhu nennt, aus dem benachbarten Walde bei nächtlicher Weile in die Scheuer eines Bürgers geraten und wagte sich, als der Tag anbrach, aus Furcht vor den andern Vögeln, die, wenn sie sich blicken lässt, ein furchtbares Geschrei erheben, nicht wieder aus ihrem Schlupfwinkel heraus. Als nun der Hausknecht morgens in die Scheune kam, um Stroh zu holen, erschrak er bei dem Anblick der Eule, die da in einer Ecke saü, so gewaltig, dass er fortlief und seinem Herrn ankündigte, ein Ungeheuer, wie er Zeit seines Lebens keins erblickt hätte, säße in der Scheuer, drehe die Augen im Kopf herum und könnte einen ohne Umstände verschlingen.
„Ich kenne dich schon!“, sagte der Herr, „einer Amsel im Felde nachzujagen, dazu hast du Mut genug, aber wenn du ein totes Huhn liegen siehst, so holst du dir erst einen Stock, ehe du ihm nahe kommst. Ich muss nur einmal selbst nachsehen, was das für ein Ungeheuer ist“, setzte der Herr hinzu, ging ganz tapfer zur Scheuer hinein und blickte umehr. Als er aber das seltsam und gräuliche Tier mit eigenen Augen sah, so geriet er in nicht geringere Angst als der Knecht. Mit ein par Sätzen sprang er hinaus, lief zu seinen Nachbarn und bat sie flehentlich, ihm gegen ein unbekanntes und gefährliches Tier Beistand zu leisten; ohnehin könnte die ganze Stadt in Gefahr kommen, wenn es aus der Scheuer, wo es säße, heraus bräche. Es entstand großer Lärm und Geschrei in den Straßen. Die Bürger kamen mit Spießen, Heugabeln, Sensen und Äxten bewaffnet herbei, als wollten sie gegen den Feind ausziehen; zuletzt erschienen auch die Herren des Rats mit dem Bürgermeister an der Spitze. Als sie sich auf dem Markt geordnet hatten, zogen sie zu der Scheuer und umringten sie von allen Seiten. Hierauf trat einer der beherztesten hervor und ging mit gefälltem Spieß hinein, kam aber gleich darauf mit einem Schrei und totenbleich wieder herausgelaufen und konnte kein Wort hervorbringen. Noch zwei andere wagten sich hinein, es erging ihnen aber nicht besser. Endlich trat einer hervor, ein großer, starker Mann, der wegen seiner Kriegstaten berühmt war, und sprach: „Mit bloßem Ansehen werdet ihr das Ungetüm nicht vertreiben, hier muss Ernst gebraucht werden; aber ich sehe, dass ihr alle zu Weibern geworden seid und keiner den Fuchs beißen will.“ Er ließ sich Harnisch, Schwert und Spieß bringen, und rüstete sich. Alle rühmten seinen Mut, obgleich viele um sein Leben besorgt waren. Die beiden Scheunentore wurden aufgetan, und man erblickte die Eule, die sich indessen in die Mitte auf einen großen Querbalken gesetzt hatte. Er ließ eine Leiter herbeibringen, und als er sie anlegte und sich bereitete, hinaufzusteigen, so riefen ihm alle zu, er solle sich männlich halten, und empfahlen ihn dem heiligen Georg, der den Drachen getötet hatte. Als er bald oben war, und die Eule sah, dass er an sie wollte, auch von der Menge und dem Geschrei des Volks verwirrt war und nicht wusste, wo hinaus, so verdrehte sie die Augen, sträubte die Federn, sperrte die Flügel auf, gnappte mit dem Schnabel und ließ ihr „Schuhu, schuhu!“ mit rauer Stimme hören. „Stoß zu, stoß zu!“, rief die Menge draußen dem tapfern Helden zu. „Wer hier stände, wo ich stehe“, antwortete er, „der würde nicht ‚Stoß zu’ rufen.“ Er setzte zwar den Fuß noch eine Staffel höher, dann fing er an zu zittern und machte sich, halb ohnmächtig, auf den Rückweg.
Nun war keiner mehr übrig, der sich in die Gefahr hätte begeben wollen. „Das Ungeheuer“, sagten sie, „hat den stärksten Mann, der unter uns zu finden war, durch sein Gnappen und Anhauchen allein vergiftet und tödlich verwundet, sollen wir andern auch unser Leben in die Schanze schlagen?“
Sie ratschlagten, was zu tun wäre, wenn die ganze Stadt nicht sollte zugrunde gehen. Lange Zeit schien alles vergeblich, bis endlich der Bürgermeister einen Ausweg fand. „Meine Meinung geht dahin“, sprach er, „dass wir aus gemeinem Säckel diese Scheuer samt allem, was darin liegt, Getreide, Stroh und Heu, dem Eigentümer bezahlen und ihn schadlos halten, dann aber das ganze Gebäude, und mit ihm das fürchterliche Tier, abbrennen, so braucht doch niemand sein Leben daranzusetzen. Hier ist keine Gelegenheit zu sparen und Knauserei wäre übel angewendet.“ Alle stimmten ihm bei. Also ward die Scheuer an vier Ecken angezündet, und mit ihr die Eule jämmerlich verbrannt. Wer`s nicht glauben will, der gehe hin und frage selbst nach.

Der Gevatter Tod

Es hatte ein armer Mann zwölf Kinder und musste Tag und Nacht arbeiten, damit er ihnen nur Brot geben konnte. Als nun das dreizehnte zur Welt kam, wusste er sich in seiner Not nicht zu helfen, lief hinaus auf die große Landstraße und wollte den ersten, der ihm begegnete, zu Gevatter bitten. Der erste, der ihm begegnete, das war der liebe Gott. Der wusste schon, was er auf dem Herzen hatte, und sprach zu ihm: "Armer Mann, du dauerst mich! Ich will dein Kind aus der Taufe heben, will für es sorgen und es glücklich machen auf Erden."
Der Mann sprach: "Wer bist du?"
"Ich bin der liebe Gott!"
"So begehr' ich dich nicht zum Gevatter", sagte der Mann; "du gibst dem Reichen und lässest den Armen hungern!" Das sprach der Mann, weil er nicht wusste, wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilt. Also wendete er sich von dem Herrn und ging weiter.
Da trat der Teufel zu ihm und sprach: "Was suchst du? Willst du mich zum Paten deines Kindes nehmen, so will ich ihm Gold die Hülle und Fülle und alle Lust der Welt dazu geben."
Der Mann fragte: "Wer bist du?"
"Ich bin der Teufel!"
„So begehr' ich dich nicht zum Gevatter", sprach der Mann; "du betrügst und verführst die Menschen!"
Er ging weiter; da kam der dürrbeinige Tod auf ihn zugeschritten und sprach: "Nimm mich zu Gevatter!" Der Mann fragte: "Wer bist du?"
"Ich bin der Tod, der alle gleichmacht!" Da sprach der Mann: "Du bist der Rechte! Du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied; du sollst mein Gevattersmann sein!"
Der Tod antwortete: "Ich will dein Kind reich und berühmt machen; denn wer mich zum Freunde hat, dem kann's nicht fehlen."
Der Mann sprach: "Künftigen Sonntag ist die Taufe, da stelle dich zu rechter Zeit ein."
Der Tod erschien, wie er versprochen hatte, und stand ganz ordentlich Gevatter.
Als der Knabe zu Jahren gekommen war, trat zu einer Zeit der Pate ein und hieß ihn mitgehen. Er führte ihn hinaus in den Wald, zeigte ihm ein Kraut, das da wuchs, und sprach: "Jetzt sollst du dein Patengeschenk empfangen! Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, so will ich dir jedes Mal erscheinen. Steh' ich zu Häupten des Kranken, so kannst du keck sprechen, du wollest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von jenem Kraut. ein, so wird er genesen. Steh' ich aber zu Füßen des Kranken,. so ist er mein, und du musst sagen, alle Hilfe sei umsonst, und kein Arzt in der Welt könne ihn retten. Aber hüte dich, dass du das Kraut nicht gegen meinen Willen gebrauchst; es könnte dir schlimm ergehen!"
Es dauerte nicht lange, so war der Jüngling der berühmteste Arzt auf der ganzen Welt.
"Er braucht nur den Kranken anzusehen, so weiß er schon, wie es steht, ob er wieder gesund wird oder ob er sterben muss". so hieß es von ihm, und weit und breit kamen die Leute herbei, holten ihn zu den Kranken und gaben ihm so viel Gold, dass er bald ein reicher Mann war.
Nun trug es sich zu, dass der König erkrankte. Der Arzt ward berufen und sollte sagen, ob Genesung möglich wäre. Als er aber zu dem Bette trat, so stand der Tod zu den Füßen des Kranken, und da war für ihn kein Kraut mehr gewachsen.
"Wenn ich doch einmal den Tod überlisten könnte!", dachte der Arzt. "Er wird's freilich übelnehmen; aber da ich sein Patenkind bin, so drückt er wohl ein Auge zu. Ich will's wagen!"
Er fasste also den Kranken und legte ihn verkehrt, so dass der Tod zu Häupten desselben zu stehen kam. Dann gab er ihm von dem Kraute ein, und der König erholte sich und ward wieder gesund.
Der Tod aber kam zu dem Arzte, machte ein böses und finsteres Gesicht, drohte mit dem Finger und sagte: "Du hast mich hinter das Licht geführt. Diesmal will ich dir's nachsehen, weil du mein Patenkind bist. Aber wagst du das noch einmal, so geht dir's an den Kragen, und ich nehme dich selbst mit fort!" ,
Bald hernach verfiel die Tochter des Königs in eine schwere Krankheit. Sie war sein einziges Kind; er weinte Tag und Nacht, dass ihm die Augen erblindeten, und ließ bekanntmachen, wer sie vom Tode errettete, der sollte ihr Gemahl werden und die Krone erben. Als der Arzt zu dem Bette der Kranken kam, erblickte er den Tod zu ihren Füßen. Er hätte sich der Warnung seines Paten erinnern sollen; aber die große Schönheit der Königstochter und das Glück, ihr Gemahl zu werden, betörten ihn so, dass er alle Gedanken in den Wind schlug. Er sah nicht, dass der Tod ihm zornige Blicke zuwarf, die Hand in die Höhe hob und mit der dürren Faust drohte; er hob die Kranke auf und legte ihr Haupt dahin, wo die Füße gelegen hatten. Dann gab er ihr das Kraut ein, und alsbald röteten sich ihre Wangen, und das Leben regte sich von neuem.
Als der Tod sich zum zweiten Mal um sein Eigentum betrogen sah, ging er mit langen Schritten auf den Arzt zu und sprach: "Es ist aus mit dir, und die Reihe kommt nun an dich!", packte ihn mit seiner eiskalten Hand so hart, dass er nicht widerstehen konnte, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da sah er, wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten wieder auf, also dass die Flämmchen in beständigem Wechsel hin und her zu hüpfen schienen.
"Siehst du," sprach der Tod, "das sind die Lebenslichter der Menschen! Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur ein kleines Lichtchen."
"Zeige mir mein Lebenslicht!", sagte der Arzt und meinte, es wäre noch recht groß. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte, und sagte: "Siehst du, da ist es!"
"Ach, lieber Pate", sagte der erschrockene Arzt, "zündet mir ein neues an! Tut mir's zuliebe, damit ich meines Lebens genießen kann, König werde und Gemahl der schönen Königstochter!"
"Ich kann nicht!", antwortete der Tod; "erst muss eins verlöschen, ehe ein neues anbrennt."
"So setzt das alte auf ein neues, das gleich fort brennt, wenn jenes zu Ende ist", bat der Arzt. Der Tod stellte sich, als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, und langte ein frisches, großes Licht herbei. Aber weil er sich rächen wollte, versah er's beim Umstecken absichtlich, und das Stückchen fiel um und verlosch. Alsbald sank der Arzt zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten.

Die vier kunstreichen Brüder

Es war ein armer Mann, der hatte vier Söhne, wie die herangewachsen waren, sprach er zu ihnen: „Liebe Kinder, ihr müsst jetzt hinaus in die Welt, ich habe nichts, das ich euch geben könnte; macht euch auf und geht in die Fremde, lernt ein Handwerk und seht, wie ihr euch durchschlagt.“
Da ergriffen die vier Brüder den Wanderstab, nahmen Abschied von ihrem Vater und zogen zusammen zum Tor hinaus. Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen Kreuzweg, der nach vier verschiedene Gegenden führte.
Da sprach der älteste: „Hier müssen wir uns trennen, aber heut über vier Jahre wollen wir an dieser Stelle wieder zusammentreffen und in der Zeit unser Glück versuchen.“
Nun ging jeder seinen Weg, und dem ältesten begegnete ein Mann, der fragte, wo er hinaus wollte und was er vor sich hätte.
„Ich will ein Handwerk lernen“, antwortete er.
Da sprach der Mann: „Geh mit mir, und werde ein Dieb.“
„Nein“, antwortete er, „das gilt für kein ehrliches Handwerk mehr, und das Ende vom Lied ist, dass einer als Schwengel in der Feldglocke gebraucht wird.“
„Oh“, sprach der Mann, „vor dem Galgen brauchst du dich nicht zu fürchten, ich will dich bloß lehren, wie du holst, was sonst kein Mensch kriegen kann, und wo dir niemand auf die Spur kommt.“
Da ließ er sich überreden, ward bei dem Manne ein gelernter Dieb und ward so geschickt, dass vor ihm nichts sicher war, was er einmal haben wollte.

Der zweite Bruder begegnete einem Mann, der dieselbe Frage an ihn tat, was er in der Welt lernen wollte.
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete er.
„So geh mit mir und werde ein Sterngucker, nichts besser als das, es bleibt einem nichts verborgen.“
Er ließ sich das gefallen und ward ein so geschickter Sterngucker, dass sein Meister, als er ausgelernt hatte und weiterziehen wollte, ihm ein Fernrohr gab und zu ihm sprach: „Damit kannst du sehen, was auf Erden und am Himmel vorgeht, und kann dir nichts verborgen bleiben.“

Den dritten Bruder nahm ein Jäger in die Lehre und gab ihm in allem, was zur Jägerei gehört, so guten Unterricht, dass er ein ausgelernter Jäger ward. Der Meister schenkte ihm beim Abschiede eine Büchse und sprach: „Die fehlt nicht, was du damit aufs Korn nimmst, das triffst du sicher.“

Der jüngste Bruder begegnete gleichfalls einem Manne, der ihn anredete und nach seinem Vorhaben fragte: „Hast du nicht Lust, Schneider zu werden?“
„Dass ich nicht wüsste“, sprach der Junge, „das Krummsitzen von morgens bis abends, das Hin- und Herfegen mit der Nadel und das Bügeleisen will mir nicht in den Sinn.“
„Ei was“, antwortete der Mann, „du sprichst, wie du’s verstehst, bei mir lernst du eine ganz andere Schneiderkunst, die ist anständig und ziemlich, zum Teil sehr ehrenvoll.“
Da ließ er sich überreden, ging mit und lernte die Kunst des Mannes aus dem Fundament. Beim Abschied ab ihm dieser eine Nadel und sprach: „Damit kannst du zusammennähen, was dir vorkommt, sei es so weich wie ein Ei oder so hart wie Stahl; und es wird ganz zu einem Stück, dass keine Naht mehr zu sehen ist.“

Als die bestimmten vier Jahre herum waren, kamen die vier Brüder zu gleicher Zeit an dem Kreuzwege zusammen, herzten und küssten sich und kehrten heim zu ihrem Vater.
„Nun“, sprach dieser ganz vergnügt, „Hat euch der Wind wieder zur mir geweht?“
Sie erzählten, wie es ihnen ergangen war und dass jeder das Seinige gelernt hätte. Nun saßen sie gerade vor dem Haus unter einem großen Baum, da sprach der Vater: „Jetzt will ich euch auf die Probe stellen und sehen, was ihr könnt.“
Danach schaute er auf und sagte zu dem zweiten Sohne: „Oben im Gipfel des Baumes sitzt zwischen zwei Ästen ein Buchfinkennest, sag mir, wie viel Eier liegen darin?“
Der Sterngucker, nahm sein Glas, schaute hinauf und sagte: „Fünfe sind’s.“
Sprach der Vater zum ältesten: „Hol du die Eier herunter, ohne dass der Vogel, der darauf sitzt und brütet, gestört wird.“
Der kunstreiche Dieb stieg hinauf und nahm dem Vöglein, das gar nichts davon merkte und ruhig sitzen blieb, die fünf Eier unter dem Leib weg und brachte sie dem Vater herab. Der Vater nahm sie, legte an jede Ecke des Tisches eine und das fünfte in die Mitte, und sprach zum Jäger: „Du schießt mir mit einem Schuss die fünf Eier in der Mitte entzwei.“
Der Jäger legte seine Büchse an und schoss die Eier, wie es der Vater verlangt hatte, alle fünfe, und zwar mit einem Schuss. Der hatte gewiss von dem Pulver, das um die Ecke schießt.
„Nun kommt die Reihe an dich“, sprach der Vater zu seinem vierten Sohn, „du nähst die Eier wieder zusammen und auch die jungen Vöglein, die darin sind, und zwar so, dass ihnen der Schuss nichts schadet.“
Der Schneider hole seine Nadel und nähte, wie’s der Vater verlangt hatte. Als er fertig war, musste der Dieb die Eier wieder auf den Baum ins Nest tragen und dem Vogel, ohne dass er etwas merkte, wieder unterlegen. Das Tierchen brütete sie vollends aus, und nach ein paar Tagen krochen die Jungen hervor und hatten da, wo sie vom Schneider zusammengenäht waren, ein rotes Streifchen um den Hals.
„Ja“, sprach der Alte zu seinen Söhnen, „ich muss euch über den grünen Klee loben, ihr habt eure Zeit wohl benutzt und was Rechtschaffenes gelernt, ich kann nicht sagen, wem von euch der Vorzug gebührt. Wenn ihr nur bald Gelegenheit habt, eure Kunst anzuwenden, da wird sich’s ausweisen.“
Nicht lange danach kam großer Lärm ins Land, die Königstochter wäre von einem Drachen entführt worden. Der König war Tag und Nacht darüber in Sorgen und ließ bekanntmachen, wer sie zurück brächte, sollte sie zur Gemahlin haben. Die vier Brüder sprachen untereinander: „Das wäre eine Gelegenzeit, wo wir uns könnten sehen lassen“, wollten zusammen ausziehen und die Königstochter befreien.
„Wo sie ist, will ich bald wissen“, sprach der Sterngucker, schaute durch sein Fernrohr und sprach: „Ich sehe sie schon, sie sitzt weit von hier auf einem Felsen im Meer und neben ihr der Drache, der sie bewacht.“
Da ging er zu dem König und bat um ein Schiff für sich und seine Brüder und fuhr mit ihnen über das Meer, bis sie zu dem Felsen hinkamen. Die Königstochter saß da, aber der Drache lag in ihrem Schoß und schlief. Der Jäger sprach: „Ich darf nicht schießen, ich würde die schöne Jungfrau zugleich töten.“
„So will ich mein Heil versuchen“, sagte der Dieb, schlich sich heran und stahl sie unter dem Drachen weg, aber so leis und behend, dass das Untier nichts merkte, sondern fortschnarchte. Sie eilten voll Freude mit ihr aufs Schiff und steuerten in die offene See, aber der Drache, der bei seinem Erwachen die Königstochter nicht mehr gefunden hatte, hinter ihnen her und schnaubte wütend durch die Luft. Als er gerade über dem Schiff schwebte und sich herab herablassen wollte, legte der Jäger seine Büchse an und schoss ihm mitten ins Herz. Das Untier fiel tot herab, war aber so groß und gewaltig, dass es im Herabfallen das ganze Schiff zertrümmerte. Sie erhaschten glücklich noch ein paar Bretter und schwammen auf dem weiten Meer umher. Da war wieder große Not, aber der Schneider nicht faul, nahm seine wunderbare Nadel, nähte die Bretter mit ein paar großen Stichen in der Eile zusammen, setzte sich darauf und sammelte alle Stücke des Schiffes. Dann nähte er auch diese so geschickt zusammen, dass in kurzer Zeit das Schiff wieder segelfertig war und sie glücklich heimfahren konnten.
Als der König seine Tochter wieder erblickte, war große Freude. Er sprach zu den vier Brüdern: „Einer von euch soll sie zur Gemahlin haben, aber welcher das ist, macht unter euch aus.“
Da entstand ein heftiger Streit unter ihnen, denn jeder machte Ansprüche.
Der Sterngucker sprach¨ “Hätt ich nicht die Königstochter gesehen, so wären alle eure Künste umsonst gewesen, darum ist sie mein.“
Der Dieb sprach: „Was hätte das Sehen geholfen, wen ich sie nicht unter dem Drachen weggeholt hätte, darum ist sie mein.“
Der Jäger sprach: „Ihr wäret doch samt der Königstochter von dem Untier zerrissen worden, hätte s meine Kugel nicht getroffen, darum ist sie mein.“
Der Schneider sprach: „Und hätte ich euch mit meiner Kunst nicht das Schiff wieder zusammengeflickt, ihr wäret alle jämmerlich ertrunken, darum ist sie mein.“
Da tat der König den Ausspruch: „Jeder von euch hat ein gleiches Recht, und weil ein jeder die Jungfrau nicht haben kann, so soll sie keiner von euch haben, aber ich will jedem zur Belohnung ein halbes Königreich geben.“
Den Brüdern gefiel diese Entscheidung, und sie sprachen: „Es ist besser so, als dass wir uneins werden.“
Da erhielt jeder ein halbes Königreich, und sie lebten mit ihrem Vater in aller Glückseligkeit, so lange es Gott gefiel.

König Drosselbart

Ein König hatte eine schöne, stolze und übermütige Tochter. Kein Freier war ihr gut genug. Einen nach dem andern wies sie ab und trieb mit allen ihren Spott. Einmal ließ der König zu einem großen Fest aufrufen, wozu alle heiratslustigen Männer aus nah und fern geladen waren. Als alle erschienen waren, und das waren Könige, Fürsten, Grafen und Edelleute, wurde die Königstochter durch ihre Reihen geführt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick, und sie hieß ihn ein Weinfass. Der andere war ihr zu lang, deshalb spottete sie über ihn und sprach: "Lang und schwank hat keinen Gang." Und von dem dritten sagte sie: "Kurz und dick hat kein Geschick." Den vierten, der blassen Gesichtes war, nannte sie den bleichen Tod. Den fünften einen Zinshahn, weil er ihr zu rot schien, und den sechsten bezeichnete sie mit grünem Holz, hinterm Ofen getrocknet, weil er ihr nicht gerade genug dünkte. So hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen. Besonders aber machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz vorne und obenauf stand und dem das Kinn ein wenig krumm geraten war. "Ei", rief sie und lachte höhnisch, "der hat ein Kinn wie die Drossel einen Schnabel." Seit dieser Zeit nannte man ihn den König Drosselbart. Als der alte König sah, dass seine Tochter nichts anderes tat, als über die Leute zu spotten, und alle Freier verschmähte, die er versammelt hatte, wurde er zornig und schwur, sie solle den ersten besten Bettler zum Manne nehmen, der vor das Schlosstor komme.
Ein paar Tage danach begann ein Spielmann unter dem Fenster des Königs zu singen, um sich damit ein kleines Almosen zu verdienen. Als der König ihn singen hörte, befahl er, dass man ihn heraufkommen lasse. Da trat der Spielmann in seinen schmutzigen und zerlumpten Kleidern herein, sang vor dem König und seiner Tochter und bat, als er geendigt hatte, um eine milde Gabe. Der König sprach: "Dein Gesang hat mir so wohl gefallen, dass ich dir meine Tochter zur Frau geben will." Wie erschrak die Königstochter! Aber der König erwiderte: "Ich habe den Eid getan, dich dem ersten besten Bettelmann zu geben, und diesen Eid will ich halten." Es half keine Einrede, kein Weinen und kein Klagen. Die hochmütige Königstochter musste sich mit dem Spielmann trauen lassen. Als das geschehen war, sprach der König zu ihr: "Es schickt sich nicht länger, dass du als ein Bettelweib in meinem Schlosse bleibst. Zieh mit deinem Manne fort." Der Bettler nahm sie an der Hand und führte sie aus dem Schloss, und sie musste mit ihm zu Fuß weitergehen. Als sie in einen großen Wald kamen, fragte sie: "Ach, wem gehört der schöne Wald?"
"Der gehört dem König Drosselbart; hätt'st du ihn genommen, so wär er dein."
Da seufzte sie: "Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart."
Darauf kamen sie über eine Wiese, da fragte sie wieder: "Wem gehört die schöne grüne Wiese?"
"Sie gehört dem König Drosselbart; hätt'st du ihn genommen, so wär sie dein."
Da seufzte sie wieder: "Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart."
Dann kamen sie durch eine große Stadt, und wieder fragte sie: "Wem gehört diese schöne, große Stadt?"
"Sie gehört dem König Drosselbart; hätt'st du ihn genommen, so wär sie dein."
Da seufzte sie wieder: "Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart."
"Höre", sagte der Spielmann zu ihr, "es gefällt mir gar nicht, dass du dir immer einen anderen zum Mann wünschest. Bin ich dir nicht gut genug?"
Endlich kamen sie an ein ganz kleines Häuschen. Da sprach sie: "Ach Gott, was ist das Haus so klein, wem mag das elende, winzige Häuschen sein?"
"Das ist mein und dein Haus", antwortete der Spielmann, "darin werden wir wohnen."
Sie musste sich bücken, damit sie zu der niedrigen Türe hineinkommen könne. "Wo sind die Diener?" fragte die Königstochter.
"Was, Diener!" antwortete der Bettelmann, "wenn du etwas getan haben willst, so musst du es selber tun. Mach nur gleich Feuer an und stell Wasser auf, damit du mir etwas zum Essen kochen kannst. Ich bin müde." Aber die Königstochter wusste nicht, wie man ein Feuer anmacht und konnte auch nicht kochen, und der Bettler musste die Arbeit selber tun. Nachdem sie die schmale Kost verzehrt hatten, legten sie sich zu Bett. Am andern Morgen jedoch trieb er sie schon ganz früh heraus, weil sie das Haus bestellen sollte. Einige Tage lebten sie so schlecht und recht und zehrten ihren Vorrat auf. Da sprach der Mann zu ihr: "Frau, so geht's nicht länger, dass wir hier unseren Vorrat verzehren und nichts verdienen. Du sollst Körbe flechten." Er ging hinaus zum Bach, schnitt Weidenruten und brachte sie heim. Da fing sie zu flechten an, aber die harten Ruten stachen ihr die zarten Hände wund,
"Ich sehe, dass es nicht geht", sprach der Mann, "fang lieber zu spinnen an, vielleicht kannst du das besser." Sie setzte sich hin und versuchte es mit dem Spinnen, aber der harte Faden schnitt ihr bald in die weicher Finger, so dass das Blut daran herunter lief.
“Da siehst du es", sagte der Mann, "du taugst zu keiner Arbeit, mit dir bin ich richtig angeführt. Aber lass uns einen Handel mit Töpfen und irdenem Geschirr beginnen. Du setzt dich damit auf den Markt und hältst die Ware feil." "Ach", dachte sie, "wenn Leute aus meines Vaters Reich zum Markt kommen und sehen mich dort mit Töpfen sitzen, dann werden sie mich verspotten." Aber es half ihr alles nichts; sie musste sich fügen, wenn sie nicht mit ihrem Manne Hungers sterben wollte. Das erste Mal ging alles gut, denn die Leute kauften der Frau ihre Ware ab, weil sie eine schöne Frau war, und bezahlten auch, was sie forderte. Ja, viele gaben ihr das Geld und schenkten ihr die Töpfe obendrein. Nun lebten sie von dem Erworbenen, so lange das Geld reichte, und der Mann handelte wieder neues Geschirr ein. Damit setzte sie sich an eine Ecke des Marktes und hielt es feil. Plötzlich kam ein betrunkener Reiter herangejagt und ritt geradezu in die Töpfe hinein, die sie um sich hergestellt hatte, dass sie in tausend Scherben zersprangen. Sie begann zu weinen und wusste vor Angst nicht, was sie anfangen sollte.
"Ach Gott wie wird mir's ergehen!" rief sie; „Was wird mein Mann dazu sagen!" Voll Kummet' lief sie heim und
erzählte ihm das Unglück.
"Wer setzt sich auch mit irdenem Geschirr an eine Marktecke!", grollte der Mann, "lass nur dein Weinen, ich sehe wohl, du bist zu keiner ordentlichen Arbeit zu gebrauchen. Aber da bin ich in unseres Königs Schloss gewesen und habe gefragt, ob nicht eine Küchenmagd fehle, und man hat mir versprochen, dich dafür zu nehmen. Dafür erhältst du freies Essen."
Nun wurde aus der Königstochter eine Küchenmagd. Sie musste dem Koch an die Hand gehen und die geringste Arbeit tun. In beiden Taschen ihres Rockes hatte sie ein Töpfchen untergebracht; darin nahm sie nach Hause mit, was ihr von der übriggebliebenen Speise zuteil wurde, und davon nährte sie sich mit ihrem Manne. Eines Tages sollte die Hochzeit des ältesten Königssohnes gefeiert werden. Da ging die königliche Küchenmagd ins Schloss und stellte sich vor die Türe des großen Saals, um den Prinzen zu sehen. Als die Lichter angezündet waren und einer immer schöner als der andere herein trat und alles voll Pracht und Herrlichkeit war, da dachte sie mit betrübtem Herzen an ihr eigenes Geschick und verwünschte ihren Stolz und Übermut, der sie erniedrigt und in solch große Armut gestürzt hatte. Von den köstlichen Speisen, die ein- und ausgetragen wurden und deren Geruch ihr in die Nase stieg, warfen ihr die Diener manchmal ein paar Brocken zu. Sie sammelte das kärgliche Mahl in ihren Töpfchen und wollte es heim tragen. Auf einmal trat der Königssohn in Samt und Seide gekleidet herein und mit einer goldenen Kette um den Hals. Als er die schöne Frau in der Ture stehen sah, denn sie war trotz aller Armut noch immer schön, ergriff er sie bei der Hand und wollte mit ihr tanzen, aber sie weigerte sich und erschrak, denn sie sah, dass der Königssohn niemand anderes als König Drosselbart war, der um sie gefreit und den sie mit Spott abgewiesen hatte. Alles Sträuben half ihr nichts. Er zog sie in den Saal hinein. Da fielen ihr die Töpfe aus den Taschen, so dass die Suppe ausfloss und die Brocken auf den Boden fielen. Als das die Leute sahen, begannen sie zu lachen und die Ärmste zu verspotten. Sie war so beschämt, dass sie sich am liebsten tausend Klafter unter die Erde gewünscht hätte. Sie sprang zur Türe und wollte entfliehen, aber auf der Treppe holte sie ein Mann ein und brachte sie zurück. Als sie ihm ins Gesicht sah, war es wiederum der König Drosselbart: "Fürchte dicht nicht", sagte er freundlich zu ihr, "und sieh mich nur genauer an." Da erkannte sie in dem König Drosselbart den Spielmann, der sie zur Frau bekommen hatte und der mit ihr in dem elenden Häuschen gewohnt und gelebt hatte. "Dir zuliebe", fuhr er fort, "habe ich mich so verstellt. Und der Reiter, der dir die Töpfe entzwei geritten hat, ist niemand anderes gewesen als ich selbst. Das alles ist geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen und dich für deinen Hochmut zu strafen, womit du mich verspottet: hast.
Da weinte sie bitterlich und sagte: "Ich habe großes Unrecht an dir getan und bin nicht wert, deine Frau zu sein."
Er aber antwortete: "Tröste dich, die bösen Tage sind vorüber, jetzt wollen wir unsere wirkliche Hochzeit feiern." Da kamen die Kammerfrauen und legten ihr die schönsten Kleider an, und ihr Vater erschien und der ganze Hof, und jedermann wünschte ihr Glück zu ihrer Vermählung mit dem König Drosselbart. Und jetzt erst fing für beide die rechte Freude an und währte ihr Lebtag.

Der Fuchs und die Gänse

Der Fuchs kam einmal auf eine Wiese, wo eine Herde schöner, fetter Gänse saß, da lachte er und sprach: „Ich komme ja wie gerufen, ihr sitzt hübsch beisammen, so kann ich eine nach der andern auffressen.“
Die Gänse gackerten vor Schrecken, sprangen auf, fingen an zu jammern und kläglich um ihr Leben zu bitten.
Der Fuchs aber wollte auf nichts hören und sprach: „Das ist keine Gnade, ihr müsst sterben.“
Endlich nahm sich eine das Herz und sagte: „Sollen wir armen Gänse doch einmal unser jung frisch Leben lassen, so erzeige uns die einzige Gnade und erlaub uns noch ein Gebet, damit wir nicht in unsern Sünden sterben, hernach wollen wir uns auch in eine Reihe stellen, damit du dir immer die fettest aussuchen kannst.“
„Ja“, sagte der Fuchs, „das ist billig und ist eine fromme Bitte, betet, ich will so lange warten.“
Also fing die erste ein recht langes Gebet an, immer „ga! ga!“ Die dritte und vierte folgte ihr, und bald gackerten sie alle zusammen.
(Und wenn sie ausgebetet haben, soll das Märchen weiter erzählt werden, sie beten aber alleweile noch immer fort.)

Tischlein deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack

Ein Schneider hatte drei Söhne, aber nur eine einzige Ziege im Haus. Weil die Ziege alle zusammen mit ihrer Milch ernährte, musste sie gutes Futter haben, und wurde deshalb täglich von den Söhnen zur Weide geführt. Einmal brachte sie der älteste auf den Kirchhof, wo die schönsten Kräuter standen, und ließ sie dort fressen und herumspringen. Als es Zeit war, heimzugehen, fragte er: "Ziege, bis du satt?"
Die Ziege antwortete:
"Ich bin so satt, ich mag kein Blatt,
mäh, mäh, mäh!"
"So komm nach Haus", sagte der Junge, packte sie am Strick, führte sie in den Stall und band sie fest.
"Nun", fragte der alte Schneider, "hat die Ziege tüchtig Futter bekommen?"
"Sie ist so satt, sie mag kein Blatt", antwortete der Sohn.
Der Vater aber wollte sich selbst davon überzeugen, ging in den Stall und fragte das Tier: "Ziege, bist du auch satt?" Da antwortete die Ziege:
"Wovon sollt ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
und fand kein einzig Blättelein,
mäh, mäh, mäh!"
"Was muss ich hören!", rief der Schneider, lief hinauf und sprach zu seinem Sohn: "Du Lügner! Du sagtest die Ziege sei satt, und dabei hast du sie hungern lassen!" Zornig riss er die Elle von der Wand und jagte seinen ältesten Sohn mit Schlägen aus dem Haus.
Am anderen Tage war die Reihe am zweiten Sohn.
Er suchte an der Gartenhecke einen Platz aus, wo lauter gute Kräuter standen und ließ die Ziege dort fressen und herumspringen. Abends, als er heim wollte. fragte er: "Ziege, bist du satt?"
Die Ziege antwortete:
"Ich bin so satt,
ich mag kein Blatt,
mäh, mäh, mäh!"
"So komm nach Haus", antwortete der Junge, führte sie heim und band sie im Stalle fest.
"Nun", fragte der alte Schneider, "hat die Ziege tüchtig Futter bekommen?"
"Sie ist so satt, sie mag kein Blatt", erwiderte der Sohn.
Auf diese Antwort gab der Schneider nichts. Er ging hinab in den Stall und fragte: "Ziege, bist du auch satt?",
da antwortete die Ziege:
"Wovon sollt ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
und fand kein einzig Blättelein,
mäh, mäh, mäh!"
"Der gottlose Bösewicht!", schrie der Schneider, "so ein frommes Tier hungern zu lassen!" Er lief hinauf und schlug den Jungen mit der Elle zur Haustüre hinaus.
Jetzt kam die Reihe an den dritten Sohn. Er wollte seine Sache gut machen und suchte für die Ziege Buschwerk mit dem schönsten Laube aus. Abends, als er heim wollte, fragte er: "Ziege, bist du auch satt?"
Die Ziege antwortete:
"Ich bin so satt,
ich mag kein Blatt,
mäh, mäh, mäh!"
"So komm nach Haus", sagte der Junge, führte sie in den Stall und band sie fest.
Und wieder fragte der alte Schneider: "Hat die Ziege tüchtig Futter bekommen?"
"Sie ist so satt, sie mag kein Blatt", antwortete der Sohn.
Der Schneider aber traute der Rede nicht, ging zum Stall und fragte: "Ziege, bist'du auch satt?", da antwortete das boshafte Tier:
"Wovon sollt ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
und fand kein einzig Blättelein,
mäh, mäh, mäh!"
"Elende Lügenbrut!", rief der Schneider, "einer so gottlos und pflichtvergessen wie der andere! Aber ihr sollt mich nicht länger zum Narren haben!" Außer sich vor Zorn sprang er hinauf und gerbte dem armen Jungen mit der Elle den Rücken so gewaltig, dass er jammernd entfloh.
Nun war der alte Schneider allein mit seiner Ziege.
Am anderen Morgen ging er hinab in den Stall, streichelte sie und sprach: "Komm, mein liebes Tierchen, ich will dich selbst zur Weide führen." Er nahm sie am Strick und führte sie zu einer grünen Hecke, wo sie all das fand, was Ziegen gerne fressen. "Hier kannst du dich nach Herzenslust sättigen", sagte er zu ihr und ließ sie bis zum Abend weiden. Dann fragte er: "Ziege, bist du satt?"
Sie antwortete:
"Ich bin so satt,
ich mag kein Blatt,
mäh, mäh, mäh!"
"So komm nach Haus", erwiderte der Schneider, führte sie zum Stall und band sie fest. Als er nach oben wollte, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Nun bist du doch einmal satt!"
Aber die boshafre Ziege meckerte:
"Wovon sollt ich satt sein?
Ich sprang nur über Gräbelein
und fand kein einzig Blättelein,
mäh, mäh, mäh!"
Der Schneider stutzte, als er das hörte und erkannte mit Schrecken, dass er seine drei Söhne ohne Grund verstoßen hatte. "Wart, du undankbares Geschöpf", rief er, "dich fortzujagen, ist noch zu wenig. Ich will dich zeichnen, dass du dich unter ehrbaren Schneidern nicht mehr sehen lassen darfst.“ Eilig sprang er hinauf, holte sein Bartmesser, seifte der Ziege den Kopf ein und schor sie so glatt wie seine flache Hand. Dann holte er eine Peitsche und versetzte ihr solche Hiebe, dass sie in gewaltigen Sprüngen davonlief.
Jetzt saß der Schneider einsam in seinem Haus, und er hätte seine Söhne gerne wiedergehabt, aber niemand wusste, wo sie hingeraten waren. Darüber fiel er in große Traurigkeit. Der älteste Sohn aber war nach seiner Flucht zu einem Schreiner in die Lehre gegangen. Dort hatte er fleißig gelernt, und als seine Zeit herum war und er sich auf die Wanderschaft machen wollte, schenkte ihm der Meister ein Tischchen, das gar kein besonderes Aussehen hatte und von ganz gewöhnlichem Holze war. Es hatte jedoch eine gute Eigenschaft. Wenn man es hinstellte und zu ihm sprach: "Tischlein, deck dich", so war das gute Tischlein plötzlich mit einem sauberen Tuch bedeckt und Teller, Messer und Gabel lagen darauf und Schüsseln standen darauf mit Gesottenem und Gebratenem und ein großes Glas, das mit leuchtend rotem Wein gefüllt war, dass einem das Herz lachte. Der junge Gesell dachte: "Das genügt dir für dein Lebtag", zog guter Dinge in der Welt umher und bekümmerte sich nicht darum, ob ein Wirtshaus gut oder schlecht war. Wenn es ihm gefiel und wo er Lust hatte, nahm er sein Tischlein vom Rücken und das konnte im Feld, im Wald oder auf einer Wiese sein, stellte es vor sich hin und sprach: "Tischlein, deck dich!" und dann war alles da, was sein Herz begehrte.
Endlich fiel es ihm ein, in die Heimat zum Vater zurückzukehren. "Sein Zorn wird sich gelegt haben", dachte er, "und mit dem Tischlein-deck-dich wird er mich gerne wieder aufnehmen."
Eines Abends, auf dem Weg in die Heimat, kehrte er in einem Wirtshaus ein, das voller Gäste war. Sie hießen ihn willkommen und luden ihn ein, mit ihnen zu speisen, da er sonst schwerlich noch etwas bekomme.
"Nein", antwortete der Schreiner, "die paar Bissen will ich euch nicht vor dem Munde wegnehmen. Lieber sollt ihr meine Gäste sein." Sie lachten und glaubten, er treibe seinen Spaß mit ihnen. Er aber stellte sein Tischlein mitten in die Stube und sprach: "Tischlein, deck dich!" Im Augenblick prangte es voller Speisen, wie sie der Wirt nicht herbeischaffen hätte können, und der Geruch aus den Schüsseln stieg den Gästen lieblich in die Nase.
"Zugegriffen, liebe Freunde", sagte der Schreiner, und die Gäste ließen sich nicht zweimal bitten und griffen tapfer zu. Sobald eine Schüssel leer geworden war, das verwunderte jedermann am meisten, stellte sich gleich eine neue, volle wieder ein. Der Wirt, der in der Ecke stand und zusah, wusste nicht, was er dazu sagen solle, dachte aber: "Einen solchen Koch könntest du in deiner Wirtschaft brauchen."
Bis in die späte Nacht hinein war die Gesellschaft lustig. Endlich legte sich jedermann schlafen. Auch der junge Geselle ging zu Bett, nachdem er sein Tischlein an die Wand gestellt hatte. Nur der Wirt fand keine Ruhe. Es fiel ihm ein, dass er in seiner Rumpelkammer ein altes Tischlein stehen habe, das dem des Schreinergesellen ähnelte. Verstohlen holte er es herbei und vertauschte es mit dem Wunschtischlein. Am anderen Morgen bezahlte der Schreiner, was er schuldig war, packte sein Tischlein auf den Rücken und dachte gar nicht daran, dass er ein falsches trage. So ging er seiner Wege weiter, bis er am Mittag zu seinem Vater kam, der ihn mit großer Freude empfing.
"Mein Sohn", fragte der Alte, "was hast du gelernt?"
"Vater", erwiderte der Sohn, "ich bin ein Schreiner geworden."
"Das ist ein gutes Handwerk", sprach der alte Schneider, "aber was hast du von deiner Wanderschaft mitgebracht?" "Das Beste, das ich mitgebracht habe, ist dieses Tischlein hier." Der Schneider betrachtete es von allen Seiten. Darauf meinte er: "Ein Meisterstück ist es ja nicht gerade, dieses alte, schlechte Tischlein."
"Aber es ist ein Tischlein-deckdich", entgegnete der Sohn, "wenn ich es hinstelle und sage zu ihm: Tischlein, deck dich, so stehen gleich die schönsten Gerichte darauf und auch ein Glas voll Wein, der das Herz erfreut. Ladet nur alle Verwandten und Freunde ein. Sie sollen sich einmal laben und erquicken, denn mein Tischlein macht sie alle satt." Es währte nicht lange, dann war die Gesellschaft beisammen. Er stellte also sein Tischlein mitten in die Stube und sprach: "Tischlein, deck dich", aber das Tischlein regte sich nicht und blieb so leer wie jeder andere Tisch, der diese Sprache nicht versteht. Da merkte der arme Geselle, dass man ihm das Tischlein vertauscht und gestohlen hatte, und er schämte sich, weil er wie ein Lügner dastand. Die Verwandten lachten ihn aus und gingen nach Hause, ohne gegessen und getrunken zu haben.
Inzwischen hatte sich auch der zweite Sohn im Leben umgesehen. Er war zu einem Müller gekommen und bei ihm in die Lehre gegangen. Als er seine Jahre herum hatte, sprach der Meister: "Weil du dich so wohl gehalten hast, schenke ich dir einen Esel von besonderer Art. Er zieht zwar keinen Wagen und trägt auch keine Säcke."
"Wozu ist er dann nütze?", fragte der junge Geselle.
"Er speit Gold", antwortete der Müller. "Wenn du ihn auf ein 'Tuch stellst und sprichst: ,Bricklebrit', so speit dir das gute Tier Goldstücke aus, hinten und vorn."
"Das ist eine schöne Sache", erwiderte der Geselle, dankte dem Meister und zog mit dem Tier in die Welt. Wenn er Gold nötig hatte, brauchte er nur seinem Esel zu sagen: "Bricklebrit", so regnete es Goldstücke, und er hatte weiter keine Mühe, als sie von der Erde aufzuheben. Wo er hinkam, war ihm das Beste und Teuerste gut genug. Als er sich eine Zeitlang in der Welt umgesehen hatte, dachte er: "Du musst deinen Vater aufsuchen. Er wird seinen Zorn vergessen haben und dich gut aufnehmen, wenn du mit dem Goldesel kommst." Von ungefähr geriet er in dasselbe Wirtshaus, in dem seinem Bruder das Tischlein vertauscht worden War. Der Wirt wollte ihm das Tier abnehmen und den Esel anbinden, der junge Geselle aber sprach: "Gebt euch keine Mühe, ich führe meinen Grauschimmel selbst in den Stall und binde ihn dort an, denn ich muss wissen, wo er steht." Den Wirt dünkte das Wunderlich, und er glaubte, einer, der sieb selbst um seinen Esel sorge, habe nicht viel in der Tasche. Als aber der Fremde zwei Goldstücke zeigte und sagte, er solle ihm nur etwas Gutes dafür auftischen, machte er große Augen und lief und tat, wie ihm geheißen. Nach der Mahlzeit fragte der Gast, was er schuldig sei, und der Wirt, nicht faul, kreidete ihm die doppelte Zeche an.
Der Geselle griff in die Tasche, aber sein Gold war eben zu Ende. "Wartet einen Augenblick, Herr Wirt", sprach er, " ich will gehen und das Gold herbeischaffen; zugleich aber nahm er das Tischtuch mit. Der Wirt aber wusste nicht, was das heißen solle und schlich ihm neugierig nach, und da der Gast die Stalltüre zuriegelte, so guckte er durch ein Astloch hinein. Der Fremde breitete unter dem Esel das Tuch aus, rief "Bricklebrit", und augenblicklich begann das Tier Gold zu speien, dass es ordentlich auf die Erde herabregnete.
"Potz Tausend", sagte der Wirt, "so ein Geldbeutel ist nicht übel" Danach bezahlte der Gast seine Zeche und legte sich schlafen. In der Nacht schlich sich der Wirt hinunter in den Stall, führte den Goldesel weg und stellte einen anderen Esel an seine Stelle. Am nächsten Morgen zog der Geselle mit dem Tiere ab und glaubte, er habe seinen Goldesel. Mittags kam er bei seinem Vater an, der sich herzlich freute, als er ihn wiedersah. "Was ist aus dir geworden, mein Sohn?", fragte der Alte.
"Ein Müller, lieber Vater."
"Und was hast du von deiner Wanderschaft mitgebracht?"
"Weiter nichts als einen Esel", erwiderte der Sohn.
"Esel gibt’s hier genug", sagte der Vater, "da wäre mir eine gute Ziege lieber gewesen."
"Es ist kein gemeiner Esel", erwiderte der Sohn, "sondern ein Goldesel. Wenn ich sage ,Bricklebrit', so speit euch das gute Tier ein ganzes Tuch voll Goldstücke. Lasst nur alle Verwandten herbeirufen, ich mache sie alle zu reichen Leuten."
"Das gefällt mir", entgegnete der Schneider, "dann brauch ich mich mit der Nadel nicht länger zu quälen." Alsbald machte sich der Alte auf und rief die Verwandten herbei. Nachdem sie beisammen waren, breitete der Müller sein Tuch aus und brachte den Esel in die Stube. "Jetzt gebt acht", sagte er und rief: "Bricklebrit", aber es fielen keine Goldstücke herab. Da machte der arme Müller ein langes Gesicht und erkannte, dass er betrogen worden war. Er bat die Verwandten um Verzeihung, und sie mussten so arm heimgehen, wie sie hergekommen waren. Auch dem Alten blieb nichts anderes übrig, als wieder nach der Nadel zu greifen. Der Junge aber verdingte sich bei einem Müller.
Wie seine beiden Brüder war auch der dritte in die weite Welt gezogen. Er hatte bei einem Drechsler eine Lehre gefunden, und weil das Drechseln ein kunstreiches Handwerk ist, musste er am längsten lernen. Als er ausgelernt hatte und sich auf die Wanderschaft begeben wollte, schenkte ihm sein Meister für sein Wohlverhalten einen Sack und sprach: "Es liegt ein Knüppel darin."
"Ei Meister", fragte er, "was soll der Knüppel?"
"Das will ich dir sagen", antwortete der Meister, "hat dir jemand etwas zu Leid getan, so sprich nur ,Knüppel, aus dem Sack', so springt der Knüppel heraus und unter die Leute und tanzt ihnen so lustig auf dem Rücken herum, dass sie sich acht Tage lang nicht mehr regen und bewegen können. Er lässt auch nicht ab von ihnen, bis du rufst: ,Knüppel, in den Sack'''. Der Geselle dankte ihm, hängte den Sack um, und wenn ihm jemand zu nahe kam und handgreiflich werden wollte, so sprach er: "Knüppel, aus dem Sack." Alsbald sprang der Knüppel heraus und klopfte dem Kerl den Rücken aus nach allen Regeln der Kunst, und das ging so geschwind, dass, ehe sich's einer versah, die Reihe schon an ihm war. Endlich, nach langer Fahrt, trieb es auch den dritten Bruder wieder nach Haus. An einem Abend gelangte er zu dem Wirtshaus, wo seine Brüder, wie sie ihm kurz vor seiner Wanderschaft geschrieben hatten, elend betrogen worden waren. Er legte seinen Ranzen vor sich auf den Tisch und fing an zu erzählen, was er Merkwürdiges in der Welt gesehen habe. "Ja", sagte er, "ein Tischlein-deck-dich findet man wohl und auch einen Goldesel; lauter gute Dinge, die ich nicht verachte, aber das ist alles nichts gegen den Schatz, den ich hier in meinem Sacke mit mir führe." Der Wirt spitzte die Ohren. "Was in aller Welt mag das sein?" dachte er, "der Sack ist wohl gefüllt mit Edelsteinen? Den sollte ich auch noch haben, denn aller guten Dinge sind drei." Zur Schlafenszeit streckte sich der Gast auf die Bank und nahm seinen Sack als Kopfkissen. Als der Wirt glaubte, er liege in tiefem Schlaf, schlich er herbei, zog sachte an dem Sack und hoffte, einen anderen unterlegen zu können. Der Drechsler aber hatte nur darauf gewartet. Als der Wirt einen herzhaften Ruck tun wollte, rief er: "Knüppel, aus dem Sack!" Alsbald fuhr der Knüppel heraus, tanzte dem Wirt auf dem Rücken und rieb ihm die Nähte, dass es eine Art hatte. Der Wirt schrie zum Erbarmen, aber je lauter er schrie, desto kräftiger schlug ihm der Knüppel den Takt dazu, bis der Betrüger erschöpft zur Erde fiel. Da sprach der Drechsler: "Wenn du das Tischlein-deck-dich und den Goldesel nicht wieder herausgibst, soll der Tanz von neuem beginnen."
"Alles gebe ich heraus", rief der Wirt kläglich, "sperrt nur den verwünschten Kobold wieder in euren Sack." Darauf erwiderte der Geselle: "Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen, aber hüte dich, mich zu betrügen." Dann rief er: "Knüppel, in den Sack" und augenblicklich verschwand der Knüppel.
Am nächsten Morgen zog der Drechsler mit dem Goldesel und dem Tischlein-deck-dich heim zu seinem Vater. Wie freute sich der Schneider, als er den Sohn wiedersah! "Was hast du in der Fremde gelernt?" fragte er.
"Lieber Vater", antwortete der Junge, "ich bin ein Drechsler geworden."
"Ein kunstreiches Handwerk hast du gelernt", sagte der Alte, "aber was hast du von der Wanderschaft mitgebracht?" "Ei", entgegnete der Sohn, "einen Knüppel hier im Sack."
"Was!" rief der Vater, "einen Knüppel, den kannst du dir doch von jedem Baume abhauen."
"Aber einen solchen nicht, lieber Vater. Sage ich: ,Knüppel, aus dem Sack', so springt der Knüppel heraus und macht mit dem, der es nicht gut mit mir meint, einen schlimmen Tanz und lässt nicht eher nach, als bis er auf der Erde liegt und um gut Wetter bittet. Seht her, mit diesem Knüppel habe ich das Tischlein-deck-dich und den Goldesel wieder herbeigeschafft, die ein diebischer Wirt meinen Brüdern abgenommen hatte. Jetzt lasst sie beide rufen und ladet auch alle Verwandten ein. Ich will sie speisen und tränken und ihnen auch die Taschen mit Gold füllen." Der alte Schneider wollte den Worten seines dritten Sohnes nicht recht trauen. Nur zögernd holte er die bei den andern Söhne und die Verwandten herbei. Darauf breitete der Drechsler ein Tuch in der Stube aus, führte den Goldesel herein und sagte zu seinem Bruder: "Nun, lieber Bruder, sprich mit ihm."
Der Müller rief: "Bricklebrit!", und augenblicklich sprangen die Goldstücke auf das Tuch herab, als regnete es, und der Esel hörte nicht eher damit auf, bis alle so viel hatten, wie sie tragen konnten.
Dann holte der Drechsler das Tischlein und sagte: "Lieber Bruder, nun sprich mit ihm."
Kaum hatte der Schreiner" Tischlein, deck dich" gesagt, so standen die schönsten Speisen darauf. Da hielten sie eine Mahlzeit, wie sie der gute Schneider noch nie in seinem Hause erlebt hatte, und die ganze Verwandtschaft blieb die Nacht zusammen und war lustig und vergnügt.
Hernach aber verschloss der alte Schneider Nadel und Zwirn, Elle und Bügeleisen und lebte mit seinen drei Söhnen in Freude und Herrlichkeit für den Rest seiner Tage.

Der Zaunkönig

In den alten Zeiten, da hatte jeder Klang noch Sinn und Bedeutung. Wenn der Hammer des Schmieds ertönte, so rief er: „Smiet mi to! Smiet mi to!“.
Wenn der Hobel des Tischlers scharrte, so sprach er: „Dor häst! Dor, dor häst!“
Fing das Räderwerk der Mühle an zu klappern, so sprach es: „Help, Herr Gott! Help, Herr Gott!“
Und war der Müller ein Betrüger, und ließ die Mühle an, so sprach sie hochdeutsch und fragte erst langsam: „Wer ist da? Wer ist da?“ Dann antwortete sie schnell: „Der Müller! Der Müller!“ und endlich ganz geschwind: „Stiehlt tapfer, stiehlt tapfer, vom Achtel drei Sechter.“
Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprach, die jedermann verstand, jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen oder Pfeifen, und bei einigen wie Musik ohne Worte. Es kam aber den Vögelein in den Sinn, sie wollten nicht länger ohne Herrn sein und einen unter sich zu ihrem König wählen. Nur einer von ihnen, der Kibitz, war dagegen, frei hatte er gelebt und frei wollte er sterben, und angstvoll hin- und herfliegend, rief er: !Wo bliew ick?, Wo bliew ick?“ Er zog sich zurück in einsame und unbesuchte Sümpfe und zeigte sich nicht wieder unter seinesgleichen.
Die Vögel wollten sich nun über die Sache besprechen, und an einem schönen Maimorgen kamen sie alle aus Wäldern und Feldern zusammen. Adler und Buchfinke, Eule und Krähe, Lerche und Sperling, was soll ich sie alle nennen? Selbst der Kuckuck kam und der Wiedehopf, sein Küster, der so heißt, weil er sich immer ein paar Tage früher hören lässt, auch ein ganz kleiner Vogel, der noch keinen Namen hatte, mischte sich unter die Schar. Das Huhn, das zufällig von der ganzen Sache nichts gehört hatte, verwudnerte sich über die große Versammlung. „Wat, wat, wat is den dar to don?“, gackerte es, aber der Hahn beruhigte seine liebe Henne und sagte: „Luter riek Lüd!, erzählte ihr auch, was sie vor hätten. Es ward aber beschlossen, dass der König sein sollte, der am höchsten fliegen könnte. Ein Laubfrosch, der im Gebüsch saß, rief, als er das hörte warnend: „Natt, natt, natt! Natt, natt, natt!“, weil er meinte, es würden deshalb viel Tränen vergossen werden. Die Krähe aber sagte: „Auark ok!“, es sollte alles friedlich abgehen.
Es ward nun beschlossen, sie wollten gleich an diesem schönen Morgen aufsteigen, damit niemand hinterher sagen könnte: „Ich wäre wohl noch höher geflogen, aber der Abend kam, da konnte ich nicht mehr.!
Auf ein gegebenes Zeichen erhob sich also die ganze Schar in die Lüfte. Der Staub stieg da von dem Felde auf, es war ein gewaltiges Sausen und Brausen und Fittichschlagen, und es sah aus, als wenn eine schwarze Wolke dahin zöge. Die kleineren Vögel aber blieben bald zurück, konnten nicht weiter und fielen wieder auf die Erde. Die größeren hielten’s länger aus, aber keiner konnte es dem Adler gleich tun, der stieg so hoch, dass er der Sonne hätte die Augen aushacken können. Und als er sah, dass die andern nicht zu ihm herauf konnten, so dachte er: „Was willst du noch höher fliegen, du bist doch der König“, und fing an, sich wieder herab zu lassen. Die Vögel unter ihm riefen ihm alle gleich zu: „Du musst unser König sein, keiner ist höher geflogen als du.“
„Ausgenommen ich“, schrie der kleine Kerl ohne Namen, der sich in die Brustfedern des Adlers verkrochen hatte. Und da er nicht müde war, so stieg er auf und stieg so hoch, dass er Gott in seinem Stuhle konnte sitzen sehen. Als er aber so weit gekommen war, legte er seine Flügel zusammen, sank herab und rief unten mit feiner durchdringender Stimme: „König bin ick! König bin ick!“
„Du unser König?“, schrien die Vögel zornig, „durch Ränke und Listen hast du es dahin gebracht.“ Sie machten eine andere Bedingung, der sollte König sein, der am tiefsten in die Erde fallen könnte. Wie klatschte da die Gans mit ihrer breiten Brust wieder auf das Land! Wie scharrte der Hahn schnell ein Loch! Die Ente kam am schlimmsten weg, sie sprang in einen Graben, verrenke sich aber die Beine und watschelte fort zum nahen Teich mit dem Ausruf: „Pracherwerk, Pracherwerk!“ Der Kleine ohne Namen aber suchte ein Mäuseloch, schlüpfte hinab und rief mit seiner feinen Stimme heraus: „König bün ick! König bün ick!“
„Du unser König?, riefen die Vögel noch zorniger, meinst d, deine Listen sollen gelten?“ Sie beschlossen, ihn in seinem Loche gefangen zu halten und auszuhungern. Die Eule ward als Wache davor gestellt; sie sollte den Schelm nicht herauslassen, so lieb ihr das Leben wäre. Als es aber Abend geworden war und die Vögel von der Anstrengung beim Fliegen große Müdigkeit empfanden, so gingen sie mit Weib und Kind zu Bett. Die Eule allein blieb bei dem Mäuseloch stehen und blickte mit ihren großen Augen unverwandt hinein. Indessen war sie auch müde geworden und dachte: „Ein Aue kannst du wohl zutun, du wachst ja noch mit dem andern, und der kleine Bösewicht soll nicht aus seinem Loch heraus.“ Also tat sie das eine Auge zu und schaute mit dem andern steif auf das Mäuseloch. Der Kerl guckte mit dem Kopf heraus und wollte wegwitschen, aber die Eule trat gleich davor, und er zog den Kopf wieder zurück. Dann tat die Eule das eine Auge wieder auf und das andere zu, und wollte so die ganze Nacht abwechseln. Aber als sie das eine Auge wieder zumachte, vergaß sie, das andere aufzutun, und sobald die beiden Augen zu waren, schlief sie ein. Der Kleine merkte das bald und schlüpfte weg.
Von der Zeit an darf sich die Eule nicht mehr am Tage sehen lassen, sonst sind die andern Vögel hinter ihr her und zerzausen ihr das Fell. Sie fliegt nur zur Nachtzeit aus, hasst aber und verfolgt die Mäuse, weil sie solche böse Löcher machen. Auch der kleine Vogel lässt sich nicht gerne sehen, weil er fürchtet, es ginge ihm an den Kragen, wenn er erwischt würde. Er schlüpft in den Zäunen herum und wenn er ganz sicher ist, ruft er wohl zuweilen: „König bün ick!“ Und deshalb nennen ihn die andern Vögel aus Spott Zaunkönig.
Niemand aber war froher als die Lerche, dass sie dem Zaunkönig nicht zu gehorchen brauchte. Wie sich die Sonne blicken lässt, steigt sie in die Lüfte und ruft: „Ach, wo is dat schön! Schön ist dat! Schön! Ach wo ist dat schön!“

Großvater und Enkel – Nach Grimm

Es war einmal ein steinalter Mann. Er war fast blind, konnte nur noch schlecht hören, und seine Hände und Beine waren zittrig. Wenn er bei Tische saß, so konnte er nur mühselig den Löffel halten. Oft schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und manchmal floss ihm auch wieder etwas aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor. Deswegen musste der alte Großvater sich mit seinem irdenen Schüsselchen in eine Ecke hinter den Ofen setzen.
Das grämte ihn sehr, und oft liefen Tränen aus seinen trüben Augen.
Eines Tages konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht halten. Es fiel zur Erde und zerbrach. Da schalt die junge Frau. Er schwieg dazu und wurde noch trauriger.
Die Hausfrau kaufte für billiges Geld ein hölzernes Schüsselchen, aus dem er nun essen musste.
Wie sie wieder einmal beim Essen sitzen, kommt der kleine Enkel von vier Jahren mit einem kleinen Brettlein ins Zimmer.
„Was machst du da?“, fragte der Vater.
„Ich baue ein Tröglein“, antwortete das Kind, „daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“
Da sahen sich Mann und Frau schweigend an und begannen zu weinen. Sie holten sofort den alten Großvater wieder an den Tisch und sagten kein böses Wort mehr, wenn er ein wenig verschüttete.

Der Krautesel

Es war einmal ein junger Jäger, der ging in den Wald auf Anstand. Er hatte ein frisches und fröhliches Herz, und als er daher ging und auf dem Blatt pfiff, kam ein altes hässliches Mütterchen, das redete ihn an und sprach: „Guten Tag, lieber Jäger, du bist wohl lustig und vergnügt, aber ich leide Hunger und Durst, gib mir doch ein Almosen.“
Da dauerte den Jäger das arme Mütterchen, dass er in seine Tasche griff und ihr nach seinem Vermögen etwas reichte. Nun wollte er weiter gehen, aber die alte Frau hielt ihn an, und sprach: „Höre, lieber Jäger, was ich dir sage, für dein gutes Herz will ich dir ein Geschenk machen; geh nur immer deiner Wege, über ein Weilchen wirst du an einen Baum kommen, darauf sitzen neun Vögel, die haben einen Mantel in den Krallen und raufen sich darum. Da lege du deine Büchse an und schieß mitten drunter; den Mantel werden sie dir wohl fallen lassen, aber auch einer von den Vöglein wird getroffen sein und tot herabstürzen. Den Mantel nimm mit dir, es ist ein Wunschmantel, wenn du ihn um die Schultern wirfst, brauchst du dich nur an einen Ort zu wünschen, und im Augenblick bist du dort. Aus dem toten Vogel nimm das Herz heraus und verschluck es ganz, dann wirst du allen und jeden Morgen früh beim Aufstehen ein Goldstück unter deinem Kopfkissen finden.“
Der Jäger dankte der weisen Frau und dachte bei sich: „Schöne Dinge, die sie mir versprochen hat, wenn’s nur auch all so einträfe.“ Doch wie er etwa hundert Schritte gegangen war, hörte er über sich in den Ästen ein Geschrei und Gezwitscher, dass er aufschaute: da sah er einen Haufen Vögel, die rissen mit den Schnäbeln und Füßen ein Tuch herum, schrien, zerrten und balgten sich, als wollt’s ein jeder allein haben.
„Nun“, sprach der Jäger, „das ist wunderlich, es kommt ja gerade so, wie das Mütterchen gesagt hat“, nahm die Büchse von der Schulter, legte an und tat einen Schuss mitten hinein, dass die Federn herumflogen. Alsbald nahm das Getier mit großem Schreien die Flucht, aber einer fiel tot herab, und der Mantel sank ebenfalls herunter. Da tat der Jäger wie ihm die Alte geheißen hatte, schnitt den Vogel auf, suchte das Herz, schluckte es hinunter und nahm den Mantel mit nach Haus.
Am andern Morgen, als er aufwachte, fiel im die Verheißung ein, und er wollte sehen, o sie auch eingetroffen wäre. Wie er aber sein Kopfkissen in die Höhe hob, da schimmerte ihm das Goldstück entgegen und am andern Morgen fand er wieder eins, und so weiter jedes Mal, wenn er aufstand. Er sammelte sich einen Haufen Gold, endlich aber dachte er: „Was hilft mir all mein Gold, wenn ich daheim bleibe? Ich will ausziehen und mich in der Welt umsehen.“
Da nahm er von seinen Eltern Abschied, hing seinen Jägerranzen und seine Flinte um und zog in die Welt. Es trug sich zu, dass er eines Tages durch einen dicken Wald kam, und wie der zu Ende war, lag in der Ebene vor ihm ein ansehnliches Schloss. In einem Fenster desselben stand eine Alte mit einer wunderschönen Jungfrau und schaute herab. Die alte aber war eine Hexe und sprach zu dem Mädchen: „Dort kommt einer aus dem Wald, der hat einen wunderbaren Schatz im Leib, den müssen wir darum berücken, mein Herzenstöchterchen, uns steht das besser an als ihm. Er hat ein Vogelherz bei sich, deshalb liegt jeden Morgen ein Goldstück unter seinem Kopfkissen.“
Sie erzählt ihr, wie es damit beschaffen wäre und wie sie darum zu spielen hätte und zuletzt drohte sie und sprach mit zornigen Augen: „Und wenn du mir nicht gehorchst, so bist du unglücklich.“
Als nun der Jäger näher kam, erblickte er das Mädchen und sprach zu sich: „Ich bin nun so lang herumgezogen, ich will einmal ausruhen und in das schöne Schloss einkehren. Geld hab ich ja vollauf.“
Eigentlich aber war die Ursache, dass er ein Auge auf das schöne Bild geworfen hatte.
Er trat in das Haus ein, und ward freundlich empfangen und höflich bewirtet. Es dauerte nicht lange, da war er so in das Hexenmädchen verliebt, dass er an nichts anders mehr dachte und nur nach ihren Augen sah, und was sie verlangte, das tat er gerne. Da sprach die Alte: „Nun müssen wir das Vogelherz haben, er wird nichts spüren, wenn es ihm fehlt.“
Sie richteten einen Trank zu, und wie er gekocht war, tat sie ihn in einen Becher und gab ihn dem Mädchen, das musste ihn dem Jäger reichen. Sprach es: „Nun, mein Liebster, trink mir zu.“
Da nahm er den Becher, und wie er den rank geschluckt hatte, brach er das Herz des Vogels aus dem Leibe. Das Mädchen musste es heimlich fortschaffen und dann selbst verschlucken, denn die Alte wollte es haben. Von nun an fand er kein Gold mehr unter seinem Kopfkissen, sondern es lag unter dem Kissen des Mädchens, wo es die Alte jeden Morgen holte; aber er war so verliebt und vernarrt, dass er an nichts anderes dachte, als sich mit dem Mädchen die Zeit zu vertreiben.
Da sprach die alte Hexe: „Das Vogelherz haben wir, aber den Wunschmantel müssen wir ihm auch abnehmen.“
Antwortete das Mädchen: „Den wollen wir ihm lassen, er hat ja doch seinen Reichtum verloren.“
Da ward die Alte bös und sprach: „So ein Mantel ist ein wunderbares Ding, das selten auf der Welt gefunden wird, den soll und muss ich haben.“ Sie gab dem Mädchen Anschläge und sagte, wenn es ihr nicht gehorche, sollte es ihm schlimm ergehen. Da tat sie es nach dem Geheiß der Alten, stellte sich einmal ans Fenster und schaute in die weite Gegend, als wäre es ganz traurig. Fragte der Jäger: „Was stehst du so traurig da?“
„Ach, mein Schatz“, gab es zur Antwort, „da gegenüber liegt der Granatenberg, wo die köstlichen Edelsteine wachsen. Ich rage so groß Verlangen danach, dass wenn ich daran denke, ich ganz traurig bin; aber wer kenn sie holen? Nur die Vögel, die fliegen, kommen hin, ein Mensch nimmermehr.“
„Hast du weiter nichts zu klagen“, sagte der Jäger, „den Kummer will ich dir bald vom Herzen nehmen.“
Damit fasste er sie unter seinen Mantel und wünschte sich hinüber auf den Granatenberg, und im Auenblick saßen sie auch beide drauf. Da schimmerte das edele Gestein von allen Seiten, dass es eine Freude war anzusehen, und sie lasen die schönsten und kostbarsten Stücke zusammen. Nun hatte es aber die Alte durch ihre Hexenkunst bewirkt, dass dem Jäger die Augen schwer wurden. Er sprach zu dem Mädchen: „Wir wollen ein wenig niedersitzen und ruhen, ich bin so müde, dass ich mich nicht mehr auf den Füßen halten kann.“ Da setzten sie sich, und er legte sein Haupt in ihren Schoß und schlief ein. Wie er entschlafen war, da band es ihm den Mantel von den Schultern und hing ihn sich selbst um, las die Granaten und Steine auf und wünschte sich damit nach Haus.
Als aber der Jäger seinen Schlaf ausgetan hatte und aufwachte, sah er, dass seine Liebste ihn betrogen und auf dem wilden Gebirg allein gelassen hatte.
„Oh“, sprach er, „wie ist die Untreue so groß auf der Welt!“, saß da in Sorge und Herzeleid und wusste nicht, was er anfangen sollte. Der Berg aber gehörte wilden und unheuern Riesen, die darauf wohnten und ihr Wesen trieben, und er saß nicht lange, so sah er ihrer drei daher schreiten. Da legte er sich nieder, als wäre er in tiefem Schlaf versunken.
Nun kamen die Riesen herbei, und der erste stieß ihn mit dem Fuß an und sprach: „Was liegt da für ein Erdwurm und beschaut sich inwendig?
Der zweite sprach: „Tritt ihn tot.“
Der dritte aber sprach verächtlich: „Das wäre der Mühe wert! Lasst ihn nur leben, hier kann er nicht bleiben, und wenn er höher steigt bis auf die Bergspitze, so packen ihn die Wolken und tragen ihn fort.“
Unter diesem Gespräch gingen sie vorüber, der Jäger aber hatte ihre Worte gemerkt und sobald sie fort waren, stand er auf und klimmte den Bergzipfel hinauf. Als er ein Weilchen da gesessen hatte, so schwebte eine Wolke heran, ergriff ihn, trug ihn fort und zog eine Zeitlang am Himmel her, dann senkte sie sich und ließ sich über einen großen, rings mit Mauern umgebenen Krautgarten nieder, also dass er zwischen Kohl und Gemüsen sanft auf den Boden kam. Da sah der Jäger sich um und sprach: „Wenn ich nur etwas zu essen hätte, ich bin so hungrig, und mit dem Weiterkommen wird’s mir schwerfallen, aber hier seh ich keinen Apfel und keine Birne und keinerlei Obst, überall nichts als Krautwerk.“ Endlich dachte er: „Zur Not kann ich von dem Salat essen, der schmeckt nicht sonderlich, wird mich aber erfrischen.“ Also suchte er sich ein schönes Haupt aus und aß davon, aber kaum hatte er ein paar Bissen hinabgeschluckt, so war ihm so wunderlich zu Mute, und er fühlte sich ganz verändert. Es wuchsen ihm vier Beine, ein dicker Kopf und zwei lange Ohren, und er sah mit Schrecken, dass er in einen Esel verwandelt war. Doch weil er dabei immer noch so großen Hunger spürte und ihm der saftige Salat nach seiner jetzigen Natur gut schmeckte, so aß er mit großer Gier immer zu. Endlich gelangte er an eine andere Art Salat, aber kaum hatte er etwas davon verschluckt, so fühlte er aufs neue eine Veränderung, und kehrte in seine menschliche Gestalt zurück.
Nun legte sich der Jäger nieder und schlief seine Müdigkeit aus. Als er am andern Morgen erwachte, brach er ein Haupt von dem bösen und eins von dem guten Salat ab und dachte: „Das soll mir zu dem meinigen wieder helfen und die Treulosigkeit bestrafen.“
Dann steckte er die Häupter zu sich, kletterte über die Mauer und ging fort, das Schloss seiner Liebsten zu suchen. Als er ein paar Tage herumgestrichen war, fand er es glücklicherweise wieder. Da bräunte er sich schnell sein Gesicht, dass ihn seine eigene Mutter nicht erkannt hätte, ging in das Schloss und bat um Herberge. „Ich bin so müde“, sprach er, „und kann nicht weiter.“
Fragte die Hexe: „Landsmann, wer seid Ihr und was ist Euer Geschäft?
“Er antwortete: „Ich bin ein Bote des Königs und war ausgeschickt, den köstlichsten Salat zu suchen, der unter der Sonne wächst. Ich bin auch so glücklich gewesen, ihn zu finden und trage ihn bei mir, aber die Sonnenhitze brennt gar zu stark, dass mir das zarte Kraut zu welken droht und ich nicht weiß, ob ich es weiterbringen werde.“
Als die Ale von dem köstlichen Salat hörte, ward sie lüstern und sprach: „Lieber Landsmann, lasst mich doch den wunderbaren Salat versuchen.“
„Warum nicht?“, antwortete er, „ich habe zwei Häupter mitgebracht und will Euch eins geben“, machte seinen Sack auf und reichte ihr das böse hin. Die Hexe dachte an nichts Arges und der Mund wässerte ihr so sehr nach dem neuen Gericht, dass sie selbst in die Küche ging und es zubereitete. Als es fertig war, konnte sie nicht warten, bis es auf dem Tisch stand, sondern sie nahm gleich ein paar Blätter und steckte sie in den Mund, kaum aber waren sie verschluckt, so war auch die menschliche Gestalt verloren, und sie lief als eine Eselin hinab in den Hof. Nun kam die Magd in die Küche, sah den fertigen Salat da stehen und wollte ihn aufragen, unterwegs aber überfiel sie, nach aller Gewohnheit, die Lust zu versuchen, und sie aß ein paar Blätter. Alsbald zeigte sich die Wunderkraft, und sie ward ebenfalls zu einer Eselin und lief hinaus zu der Alten, und die Schüssel mit Salat fiel auf die Erde. Der Bote saß in der Zeit bei dem schönen Mädchen, und als niemand mit dem Salat kam, und s doch auch lüstern danach war, sprach es: „Ich weiß nicht wo der Salat bleibt.“
Da dachte der Jäger: „Das Kraut wird schon gewirkt haben“ und sprach: „Ich will nach der Küche gehen und mich erkundigen.“ Wie er hinab kam, sah er die zwei Eselinnen im Hof herumlaufen, der Salat aber lag auf der Erde.
„Schon recht“, sprach er, „die zwei haben ihr Teil weg“, und hob die übrigen Blätter auf, legte sie auf die Schüssel und brachte sie dem Mädchen. „Ich bring Euch selbst das köstliche Essen“, sprach er, „damit Ihr nicht länger zu warten braucht.“ Da aß sie davon und war alsbald wie die übrigen ihrer menschlichen Gestalt beraubt und lief als eine Eselin in den Hof.
Nachdem sich der Jäger sein Angesicht gewaschen hatte, also dass ihn die Verwandelten erkennen konnten, ging er hinab in den Hof und sprach: „Jetzt sollt ihr den Lohn für eure Untreue empfangen.“ Er band sie alle drei an ein Seil und trieb sie fort, bis er zu einer Mühle kam. Er klopfte an das Fenster, der Müller steckte den Kopf heraus und fragte was sein Begehren wäre. „Ich habe drei böse Tiere“, antwortete er, „die ich nicht länger behalten mag. Wollt Ihr sie zu Euch nehmen, Futter und Lager geben, und sie halten wie ich Euch sage, so zahl ich dafür as Ihr verlangt.“
Sprach der Müller: „Warum das nicht= Wie soll ich sie aber halten?“
Da sagte der Jäger der alten Eselin, und das war die Hexe, sollte er täglich drei Mal Schläge und einmal zu fressen geben; der jüngern, welche die Magd war, einmal Schläge und drei Mal Futter; und er jüngsten, welche das Mädchen war, kein Mal Schläge und drei Mal zu fressen, denn er konnte es doch nicht über das Herz bringen, dass das Mädchen sollte geschlagen werden. Darauf ging er zurück in das Schloss, und was er nötig hatte, fas fand er alles darin.
Nach ein paar Tagen kam der Müller und sprach, er müsste melden, dass die alte Eselin, die nur Schläge bekommen hätte und nur einmal zu fressen, gestorben wäre. „Die zwei andern“, sagte er weiter, „sind zwar nicht gestorben und kriegen auch drei Mal zu fressen, aber sie sind so traurig, dass s nicht lange mit ihnen dauern kann.“
Da erbarmte sich der Jäger, ließ den Zorn fahren und sprach zum Müller, er sollte sie wieder hertreiben. Und wie sie kamen, gab er ihnen von dem guten Salat zu fressen, dass sie wieder zu Menschen wurden. Da fiel das schöne Mädchen vor ihm auf die Knie und sprach: „Ach, mein Liebster, verzeiht mir was ich Böses an Euch getan, meine Mutter hatte mich dazu gezwungen; es ist gegen meinen Willen geschehen, denn ich habe Euch von Herzen lieb. Euer Wunschmantel hängt in einem Schrank, und für das Vogelherz will ich einen Brechtrunk einnehmen.“
Da ward er anderen Sinnes, und sprach: „Behalt es nur, es ist doch einerlei, denn ich will dich zu meiner treuen Ehegemahlin annehmen.“
Und da ward Hochzeit gehalten und sie lebten vergnügt miteinander bis an ihren Tod.

Doktor Allwissend

Es war einmal ein Bauer, der hieß Krebs. Einst fuhr er mit zwei Ochsen ein Fuder Holz in die Stadt und verkaufte es für zwei Taler an einen Doktor. Wie ihm das Geld ausbezahlt wurde, saß der Arzt gerade zu Tisch. Da sah der Bauer, wie der Doktor herzlich aß und trank. Das Herz ging ihm danach auf, und er wäre auch gern ein Doktor gewesen. Also blieb er noch ein Weilchen stehen und fragte endlich: „Kann ich nicht auch ein Doktor werden?“
„O ja“, sagte der Doktor, „das ist bald geschehen.“
„Was muss ich tun?“, fragte der Bauer.
„Zuerst kaufe dir ein Abc-Buch, eins, worauf vorn ein Gockelhahn ist.
Zweitens mache deinen Wagen und deine zwei Ochsen zu Geld und schaffe dir dann feine Kleider an und was sonst zur Doktorei gehört.
Drittens lass dir ein Schild malen mit den Worten ‚Doktor Allwissend’.
Das lasse über deine Haustür nageln.“
Der Bauer tat alles, wie’s ihm geheißen war.
Als er nun ein wenig gedoktert hatte, aber noch nicht viel, ward einem reichen Herrn Geld gestohlen. Da hörte er von dem Doktor Allwissend, der in dem und dem Dorfe wohnte und auch wissen müsste, wo das Geld hingekommen sei. Also ließ der Herr seinen Wagen anspannen, fuhr hinaus ins Dorf und fragte bei ihm an, ob er der Doktor Allwissend sei.
„Ja, der bin ich.“
„So geht mit und schafft das gestohlene Geld wieder!“
„O ja, aber die Grete, meine Frau, muss auch mit.“
Der Herr war damit zufrieden und ließ sie beide in den Wagen einsteigen, und sie fuhren zusammen fort. Als sie in das Haus des Reichen kamen, war der Tisch gedeckt; da sollte er erst mitessen.
„Ja, aber meine Frau, die Grete auch“, sagte er und setzte sich mit ihr an den Tisch. Wie nun der erste Diener mit einer Schüssel leckerem Essen kam, stieß der Bauer seine Frau an und sagte: „Grete, das war der erste“, und meinte, der bringt den ersten Gang.
Der Bediente aber meinte, er hätte sagen wollen: „Das ist der erste Dieb.“
Weil er’s nun wirklich war, ward ihm angst. Er sagte draußen zu seinen Kameraden: „Der Doktor weiß alles. Wir kommen übel an! Er hat gesagt, ich sei der erste.“
Der zweite wollte gar nicht hinein. Er musste aber doch. Wie er nun mit seiner Schüssel herein kam, stieß der Bauer seine Frau an: „Grete, das ist der zweite.“
Dem Bedienten ward ebenfalls angst. Er machte, dass er hinauskam. Dem dritten ging’s nicht besser. Der Bauer sagte wieder: „Grete, das ist der dritte.“
Der vierte musste eine verdeckte Schüssel hineintragen. Da sprach der Herr zum Doktor Allwissend: „Zeigt Eure Kunst und ratet, was unter dem Deckel liegt!“
Es waren aber Krebse. Der Bauer sah die Schüssel an, wusste nicht, wie er sich helfen sollte, und stöhnte: „Ach, ich armer Krebs!“
Wie der Herr das hörte, rief er: „Da, er weiß es! Dann weiß er auch, wer das Geld hat.“
Dem Bedienten aber ward gewaltig angst. Er blinzelte den Doktor an, er möchte einmal herauskommen. Wie er nun hinauskam, gestanden sie ihm alle vier, sie hätten das Geld gestohlen.
„Wir wollen’s ja gerne herausgeben und Euch eine schwere4 Summe dazu, wenn Ihr uns nicht verraten wollt! Es geht uns sonst an den Hals!“
Sie führten ihn auch hin, wo das Geld versteckt lag. Damit war der Doktor zufrieden. Er ging wieder hinein, setzte sich an den Tisch und sprach: „Herr, nun will ich in meinem Buch suchen, wo das Geld steckt.“
Der fünfte Bediente aber kroch in den Ofen und wollte hören, ob der Doktor noch mehr wusste. Der saß, schlug sein Abc-Buch auf, blätterte hin und her und suchte den Gockelhahn. Weil er ihn nicht gleich finden konnte, sprach er: „Du bist darin und musst heraus.“
Da glaubte der Dieb im Ofen, er sei gemeint, sprang voller Schrecken heraus und rief: „Der Mann weiß alles!“
Da zeigte der Doktor Allwissend dem Herrn, wo das Geld lag, sagte aber nicht, wer’s gestohlen hatte, bekam von beiden Seiten viel Geld zur Belohnung und ward ein berühmter Mann.

Der Schneider im Himmel

Es trug sich zu, dass der liebe Gott an einem schönen Tag in dem himmlischen Garten sich ergehen wollte – und alle Apostel und Heiligen mitnahm, also dass niemand mehr im Himmel blieb als der heilige Petrus. Der Herr hatte ihm befohlen, während seiner Abwesenheit niemand einzulassen. Petrus stand also an der Pforte und hielt Wache. Nicht lange, so klopfte jemand an; Petrus fragte, wer da wäre und was er wollte.
„Ich bin ein armer, ehrlicher Schneider“, antwortete eine feine Stimme, „der um Einlass bittet.“
„Ja, ehrlich“, sagte Petrus, „wie der Dieb am Galgen, du hast lange Finger gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt. Du kommst nicht in den Himmel, der Herr hat mir verboten, solange er draußen wäre, irgendjemand einzulassen.“
„Seid doch barmherzig“, rief der Schneider, „kleine Flicklappen, die von selbst vom Tisch herabfallen, sind nicht gestohlen und nicht der Rede wert. Seht, ich hinke und habe von dem Weg daher Blasen an den Füßen; ich kann unmöglich wieder umkehren. Lasst mich nur hinein, ich will alle schlechte Arbeit tun. Ich will die Kinder tragen, die Windeln waschen, die Bänke, darauf sie gespielt haben, säubern und abwischen und ihre zerrissenen Kleider flicken.“
Der heilige Petrus ließ sich aus Mitleid bewegen und öffnete dem lahmen Schneider die Himmelspforte so weit, dass er mit seinem dürren Leib hineinschlüpfen konnte. Er musste sich in einen Winkel hinter die Tür setzen und sollte sich da still und ruhig verhalten, damit ihn der Herr, wenn er zurückkäme, nicht bemerkte und zornig würde.
Der Schneider gehorchte. Als aber der heilige Petrus einmal zur Tür hinaustrat, stand er auf, ging voll Neugierde in allen Winkeln des Himmels herum und besah sich die Gelegenheit. Endlich kam er zu einem Platz, da standen viele schöne und köstliche Stühle und in der Mitte ein ganz goldener Sessel, der mit glänzenden Edelsteinen besetzt war; er war auch viel höher als die übrigen Stühle, und ein goldener Fußschemel stand davor. Es war aber der Sessel, auf dem der Herr saß, wenn er daheim war, und von dem er alles sehen konnte, was auf Erden geschah. Der Schneider stand still und sah den Sessel eine gute Weile an, denn er gefiel ihm besser als alles andere. Endlich konnte er den Vorsitz nicht bezähmen, stieg hinauf und setzte sich in den Sessel. Da sah er alles, was auf Erden geschah, und bemerkte eine alte, hässliche Frau, die an einem Bach stand und wusch und zwei Schleier heimlich beiseite tat. Der Schneider erzürnte sich bei diesem Anblick so sehr, dass er den goldenen Fußschemel ergriff und durch den Himmel auf die Erde hinab nach der alten Diebin warf. Da er aber den Schemel nicht wieder heraufholen konnte, so schlich er sich sachte aus dem Sessel weg, setzte sich an seinen Platz hinter der Tür und tat, als ob er kein Wasser getrübt hätte.
Als der Herr und Meister mit dem himmlischen Gefolge wieder zurückkam, war er zwar den Schneider hinter der Tür nicht gewahr, als er sich aber auf seinen Sessel setzte, mangelte der Schemel. Er fragte den heiligen Petrus, wo der Schemel hingekommen wäre, der wusste es nicht. Da fragte er weiter, ob er jemand hereingelassen hätte.
„Ich weiß niemand“, antwortete Petrus, „der dagewesen wäre, als ein lahmer Schneider, der noch hinter der Tür sitzt.“
Da ließ der Herr den Schneider vor sich treten und fragte ich, ob er den Schemel weggenommen und wo er ihn hingetan hätte.
„O Herr“, antwortete der Schneider freudig, „ich habe ihn im Zorne hinab auf die Erde nach einem alten Weibe geworfen, das ich bei der Wäsche zwei Schleier stehlen sah.“
„O du Schalk“, sprach der Herr, „wollt’ ich richten, wie du richtest, wie meinst du, dass es dir schon längst ergangen wäre? Ich hätte schon lange keine Stühle, Bänke, Sessel, ja, keine Ofengabel mehr hier gehabt, sondern alles nach den Sündern hinabgeworfen. Fortan kannst du nicht mehr im Himmel bleiben, sondern musst wieder hinaus vor das Tor: Da sieh zu, wo du hinkommst. Hier soll niemand strafen denn ich allein, der Herr.“
Petrus musste den Schneider wieder hinaus vor den Himmel bringen, und weil er zerrissene Schuhe hatte und die Füße voll Blasen, nahm er einen Stock in die Hand und zog nach Warteinweil.

Von dem Tode des Hühnchens

Das Hühnchen und das Hähnchen gingen einmal zum Nussberg, und sie machten miteinander aus, dass sie jeden Nusskern teilen wollten, den sie fänden. Nun fand das Hühnchen eine große, große Nuss, sagte aber nichts davon und wollte den Kern allein essen. Der Kern war aber so dick, dass es ihn nicht hinunterschlucken konnte und er ihm im Halse stecken blieb. Darob wurde ihm angst und bange, denn es fürchtete, ersticken zu müssen.
"Hähnchen", schrie das Hühnchen, "ich bitte dich, lauf, was du kannst und hol mir Wasser, sonst ersticke ich."
Das Hähnchen lief zum Brunnen, so schnell es konnte und sprach: "Brunnen, du sollst mir Wasser geben. Das Hühnchen liegt droben auf dem Nussberg und hat einen großen Nusskern geschluckt und wird ohne dein Wasser ersticken."
Darauf antwortete der Brunnen: "Lauf erst hin zur Braut und lass dir rote Seide geben."
Da lief das Hähnchen zur Braut und bat: "Braut, du sollst mir rote Seide geben; die rote Seide will der Brunnen haben, und der Brunnen soll mir Wasser geben, das Wasser will ich dem Hühnchen bringen, das droben auf dem Nussberg liegt und einen großen Nusskern verschluckt hat und ersticken muss, wenn ich ihm das Wasser nicht bringe."
Da erwiderte die Braut: "Lauf erst und hol mir mein Kränzlein, das an einer Weide hängen blieb."
Das Hähnchen lief zur Weide und zog das Kränzlein vom Ast herunter und brachte es zur Braut, und die Braut schenkte ihm die rote Seide dafür. Die Seide brachte das Hähnchen zum Brunnen, und von ihm erhielt es das Wasser. Nun lief das Hähnchen mit dem Wasser zum Hühnchen, als es aber hinkam, war das arme Hühnchen erstickt und regte sich nicht mehr und lag tot auf der Erde. Da war das Hähnchen so traurig, dass es laut klagte, und es kamen alle Tiere und beweinten das Hühnchen. Sechs Mäuse bauten einen kleinen Wagen, um das Hühnchen damit zum Grabe zu fahren. Kaum war der Wagen fertig, so spannten sie sich davor, und das Hähnchen war der Kutscher. Auf dem Wege begegnete ihm der Fuchs. "Wo willst du hin, Hähnchen?", fragte er.
"Ich will mein Hühnchen begraben."
"Darf ich mitfahren?"
"Ja, aber setz dich hinten auf den Wagen, vorn können's meine Pferdchen nicht vertragen." Da setzte sich der Fuchs hinten auf und später der Wolf, der Bär, der Hirsch, der Löwe und alle Tiere des Waldes. So ging die Fahrt fort, bis sie an einen Bach gelangten.
"Wie sollen wir hinüberkommen?", dachte das Hähnchen.
Am Bachrand lag ein Strohhalm, der sagte: "Ich will mich quer übers Wasser legen, so könnt ihr hinüberfahren." Als aber die sechs Mäuse auf die Brücke kamen, verrutschte der Strohhalm und fiel ins Wasser, und die sechs Mäuse fielen alle hinein und ertranken. Darauf ging die Not von neuem an. Auf einmal kam eine Kohle und sagte:
"Ich bin groß genug, ich will mich übers Wasser legen, dann könnt ihr hinüberfahren." Aber die Kohle berührte unglückseligerweise dabei das Wasser. Da zischte sie, verlöschte und war tot. Als das ein Stein sah, erbarmte er sich und wollte dem Hähnchen helfen und legte sich über das Wasser. Das Hähnchen zog nun den Wagen selbst. Beinahe hatte es ihn drüben und war mit dem toten Hühnchen am Land und wollte nun die anderen, die hinten saßen, auch heranziehen, da waren es ihrer zuviel geworden, und der Wagen glitt zurück und alle fielen ins Wasser und ertranken. Nur das Hähnchen war mit dem toten Hühnchen allein geblieben. Es grub ihm ein Grab, dann wölbte es einen Hügel darüber, und auf den setzte es sich und grämte sich, bis es auch starb. Da waren nun alle tot.

Der Wolf und der Fuchs

Der Wolf und der Fuchs wanderten einmal zusammen. Was der Wolf wollte, das musste der Fuchs tun, denn er war ja der schwächere von den beiden. Der Fuchs wäre freilich den Wolf gern los gewesen. Als sie einmal durch einen Wald gingen, da sagte der Wolf: „Rotfuchs, gib mir was zu essen, oder ich fresse dich selber auf.“
Da antwortete der Fuchs: „Ich weiß einen Bauernhof, da gibt es ein paar junge Lämmer. Wenn du Lust hast, wollen wir uns eins holen.“
Der Wolf war damit zufrieden. Sie gingen hin, der Fuchs stahl ein Lämmlein und brache es dem Wolf. Der verschlang es gleich. Aber er war mit dem einen nicht zufrieden, er wollte das zweite auch noch haben. Er ging also selbst hin, um es sich zu holen. Das machte er aber so ungeschickt, dass die Mutter des Lämmleins es merkte und laut zu schreien begann. Da kamen die Bauern und fanden den Wolf. Sie schlugen ihn so stark, dass er noch heulte und hinkte, als er bei dem Fuchs wieder ankam.
Der Fuchs antwortete: „Warum bist du auch ein solcher Nimmersatt!“
Am anderen Tag gingen sie aufs Feld. Der Wolf hatte wieder Hunger und sagte: „Rotfuchs, gib mir zu essen, oder ich fresse dich selbst.“
Da antwortete der Fuchs: „Ich weiß ein Bauernhaus, da backt die Frau heute Abend Pfannkuchen. Da wollen wir uns welche holen.“
Sie gingen hin. Der Fuchs schlich um das Haus herum und guckte und schnupperte. Schließlich wusste er, wo die Schüssel mit den Pfannkuchen stand. Er stahl vorsichtig sechs Stück und brachte sie dem Wolf, der sie alle auf einmal herunter schlang. Dann sagte er: „Die schmecken nach mehr!“ Er ging hin und riss die ganze Schüssel herunter. Sie fiel auf die Erde und zerbrach in tausend Stücke. Da kam die Bäuerin gelaufen, sah den Wolf und schrie laut um Hilfe. Da kamen die anderen und schlugen den Wolf, der mit zwei lahmen Beinen heulend zum Fuchs in den Wald gelaufen kam und behauptete, von ihm angeführt worden zu sein.
Am nächsten Tag gingen sie weiter. Der Wolf hinkte und kam kaum vorwärts. Aber er sagte schon wieder: „Rotfuchs, schaffe mir etwas zu essen, oder ich fresse dich auf!“
Da sagte der Fuchs: „Ich kenne einen Bauern, der hat ein Schwein geschlachtet. Das gesalzene Tier liegt in einem Fass im Keller. Ich werde dir etwas davon holen.“
„Ich komme gleich mit“, sagte der Wolf, „du bringst mir doch immer zu wenig mit.“
„Meinetwegen“, sagte der Fuchs.
Sie schlichen in den Keller, und der Wolf stürzte sich mit Heißhunger auf da Schlachtfleisch. Auch der Fuchs ließ es sich schmecken. Er passte aber gut auf. Ab und zu lief er zu dem Loch hin, durch das sie in den Keller gekrochen waren. Dort versuchte er, ob er noch durchkomme oder ob er schon zuviel gefressen habe und etwa zu dick sei.
Der Wolf merkte das und sagte: „Warum springst du so albern immer raus und rein?“
„Ich muss aufpassen, dass niemand kommt“, antwortete der Schlauberger und riet dem Wolf, sich nur tüchtig satt zu fressen.“
„Ja“, sagte der Wolf, „ich gehe nicht eher fort, bis das Fass leer ist.“
Da kam auch schon der Bauer. Er hatte gehört, wie der Fuchs immer hin und her gesprungen war. Der Fuchs war mit einem Satz zum Loch hinaus. Der Wolf wollte hinterher. Aber ach, er hatte sich viel zu dick gefressen! Er konnte nicht durch und blieb im Loch stecken. Der Bauer schlug ihn mit einem Knüppel tot. Der Fuchs aber sprang in den Wald. Er war froh, den alten Nimmersatt los zu sein.

Muttergottesgläschen

Es hatte einmal ein Fuhrmann seinen Karren, der mit Wein schwer beladen war, so festgefahren, dass er ihn trotz aller Mühe nicht wieder losbringen konnte. Nun kam gerade die Mutter Gottes des Weges daher, und als sie die Not des armen Mannes sah, sprach sie zu ihm: „Ich bin müd und durstig, gib mir ein Glas Wein, und ich will dir deinen Wagen frei machen.“
„Gerne“, antwortete der Fuhrmann, „aber ich habe kein Glas, worin ich dir den Wein geben könnte.“ Da brach die Mutter Gottes ein weißes Blümchen mit roten Streifen ab, das Feldwinde heißt und einem Glase sehr ähnlich sieht, und reichte es dem Fuhrmann. Er füllte es mit Wein, und die Mutter Gottes trank ihn, und in dem Augenblick ward der Wagen frei, und der Fuhrmann konnte weiterfahren. Das Blümchen heißt noch immer Muttergottesgläschen.
Brüder Grimm

Im Schlaraffenlande

Das Schlaraffenland liegt drei Meilen hinter Weihnachten und der Weg dahin führt erst rechts, dann links oder auch umgekehrt.
Ring ist ein großer Berg von Kuchen. Der ist drei Meilen dick und wer in das Land hinein will, muss sich erst durch den Kuchen essen. Die Häuser aber in dem Lande sind mit Eierfladen gedeckt. Die Türen sind von Pfefferkuchen, die Fensterscheiben von Zuckertafeln und die Wände aus Speckseiten und Schweinebraten. Um jedes Haus ist ein Zaun von Bratwürsten geflochten, manchmal kalt und manchmal braun gebraten.
Für durstige Seelen ist es erst recht eine Lust hier, denn in Brunnen, Bächen und Strömen fließt der allerbeste Wein. Und wer den Mund an eine Brunnenröhre hält, dem läuft süßer Traubensaft hinein. Die Tannen im Walde sind alle geschmückt mit Zuckermännern, Zuckerweiblein, Posthörnchen, Pferdchen, Sternen, Ringen, goldenen Äpfeln und Nüssen, gerade wie bei uns die Weihnachtsbäume. Statt der Tannenzapfen tragen sie Pfannenkuchen, Waffeln und andere süße Sachen. An den Weiden wachsen frischgebackene Semmeln. Die fallen in die Milchbäche, welche unter den Bäumen hinfließen und brocken sich von selber ein für diejenigen, welche gern Semmelmilch essen. Wer da gern mitlöffeln will, braucht gar keinen Löffel mitzubringen, für jeden liegt schon einer im Grase bereit.
Ganz drollig ist es mit den Fischen im Schlaraffenlande. Sie schwimmen nicht tief im Wasser, sondern spazieren auf der Oberfläche, sind auch allzeit gebacken oder gesotten und halten sich stets am Rande, dass jedermann sie mit den Händen fangen kann. Ja, ein echter fauler Schlaraffe braucht nur zu rufen: Bst! Bst! Denn kommen die Fische auch ans Land spaziert und hüpfen dem Hungrigen in die Hand, damit er sieh nicht zu bücken braucht.
Wer aber sogar zu faul ist die Hände auszustrecken, der darf sich nur auf den Rücken legen und den Mund aufsperren, so fliegen ihm gebratene Hühner, Gänse, Tauben, Rebhühner und Wachteln hinein. Auch die Schweinlein, rundlich und fett, laufen im Lande gebraten umher und haben im Rücken gleich Messer und Gabel stecken. Die Straßen sind im Schlaraffenlande mit Käse gepflastert. Die Steine aber sind lauter Fleischpastetchen, Austern und dergleichen Leckereien.
Wenn es im Winter regnet, so regnet es Honig. Wenn es im Sommer schneit, so schneit es klaren Zucker. Wenn es aber hagelt, so fallen Zuckerstückchen vom Himmel, untermischt mit Feigen, Mandeln und Rosinen.
Ja, ja, das ist ein herrliches Land, das Schlaraffenland – aber nur für Faulenzer und Schlemmer!

Wer sich machen will auf die Reis’
und selbst dahin den Weg nicht weiß,
der mag einen Blinden fragen.
Ein Stummer ist auch gut dazu,
wird ihm nicht unrecht sagen.

Eine spaßhafte Geschichte von den Fröschen

Ein Bauer hatte sein Kalb auf den Markt getrieben und für sieben Taler verkauft. Auf dem Heimwege musste er an einem Teich vorüber.
Da hörte er schon von weitem, wie die Frösche riefen: „Ak, ak, ak, ak!“
„Ja“, sprach er für sich, die „schreien auch ins Haferfeld hinein, sieben Taler sind’s die ich gelöst habe, keine acht.“
Als er an das Wasser kam, rief er ihnen zu: „Dummes Vieh, das ihr seid, wisst ihr’s nicht besser? Sieben Taler sind’s, keine acht.“
Die Frösche aber blieben bei ihrem „ak, ak, ak, ak.“
„Nun, wenn ihr’s nicht glauben wollt, ich kann’s euch vorzählen.“
Er holte das Geld aus der Tasche und zählte die sieben Taler ab.
Die Frösche kehrten sich aber nicht an seine Rechnung und riefen abermals: „Ak, ak, ak, ak.“
„Ei“, rief der Bauer ganz bös, „wollt ihr’s besser wissen als ich, so zählt selber!“ Und er warf ihnen das Geld ins Wasser hinein. Er blieb stehen und wollte warten, bis sie fertig wären und ihm das Seine wiederbrächten. Aber die Frösche beharrten auf ihrem Sinne, schrien immerfort: „Ak, ak, ak, ak!“ und warfen auch das Geld nicht wieder heraus.
Er wartete noch eine Weile, bis der Abend anbrach und er nach Hause musste. Da schimpfte er die Frösche aus und rief: „Ihr Wasserpatscher, ihr Dickköpfe, ihr Glotzaugen! Ein großes Maul habt ihr und könnt schreien, dass einem die Ohren wehtun, aber sieben Taler könnt ihr nicht zählen.“
Damit ging er fort, aber die Frösche schrien noch hinter ihm her: „ak, ak, ak, ak!“

Die Haselrute

Eines Nachmittags hatte sich das Christkind in sein Wiegenbett gelegt und war eingeschlafen. Da trat seine Mutter heran, sah es voll Freude an und sprach: "Hast du dich schlafen gelegt, mein Kind? Schlaf sanft; ich will derweil in den Wald gehen und eine Handvoll Erdbeeren holen." Draußen im Wald fand sie einen Platz mit den schönsten Erdbeeren. Als sie sich aber herabbückt, um eine zu brechen, springt eine Natter in die Höhe. Die Mutter Gottes weiß guten Rat. Sie versteckt sich hinter einer Haselstaude und bleibt da stehen, bis die Natter sich wieder verkrochen hat. Sie sammelt dann die Beeren und spricht: "Wie die Haselstaude diesmal mein Schutz gewesen, so soll sie es in Zukunft allen Menschen sein." Darum ist ein grüner Haselzweig gegen Schlangen und was sonst auf der Erde kriecht, der beste Schutz.

zurück zur Märchen-Übersicht                       zurück zur Hauptseite

zum Seitenanfang