Was ist bloß ein Glotzophon?

Frei von großen Zwängen zu leben, hoffte ich, seit ich nicht mehr jeden Tag ins Geschäft hetzen muss. Schmerzhaft durfte ich bald feststellen, dass mein Rentnergruß in Zukunft "Keine Zeit" heißen wird.
Angefangen mit der morgendlichen Gemeinsamkeit am Frühstückstisch, der Einteilung bei der Hausarbeit, bis zum Einkaufen und verschiedenen Unternehmungen, endet unser Tag meistens erst am nächsten frühen Morgen und oft fallen wir nach zwei Uhr müde ins Bett.
So auch gestern. Als Betthupferl hatten wir uns ein zweifarbiges Kartenspiel auf dem Laptop ausgesucht, das uns ganz schön beschäftigte. Beim letzten Kartengeben wollte nichts mehr gehen. Es MUSS doch möglich sein, dieses Spiel zu gewinnen, denn SO können wir nicht ins Bett. Da wäre ja noch ein Folgespiel nötig ... eine Revanche.
Nach langem Überlegen und Ausprobieren klappte es und das anschließende Feuerwerk belohnte uns.
Voller Genugtuung fiel ich sofort in einen tiefen Schlaf, aus dem uns zeitig morgens das Telefon riss. Schlaftrunken ließen wir es klingeln, mit dem Gedanken, der AB wird sich schon einschalten. Nach dem dritten Versuch hob ich ab und stellte fest, dass es eine liebe Freundin war, mit der ich eine Weile plaudern und ihr auch noch einen guten Rat geben konnte.
Dann die Wendeltreppe hoch zum Frühstück. Mein lieber Mann hatte mittlerweile den Tisch schon gedeckt und der Kaffee duftete verführerisch.
Der Griff zu meiner Brille, die morgens immer am selben Platz auf dem Küchentisch liegt, ließ mich ins Leere fassen. Betroffen sah ich mich um, aber sie war weg.
Die Automation lässt mich das Sehgerät abends vor dem Zubettgehen immer an die selbe Stelle legen. Natürlich konnte ich mich an diesen Vorgang nicht mehr erinnern.
Ein Gang ins Bad ... aber auch hier wurde ich nicht fündig. Ebenso ging es mir in unserem kleinen Esszimmerchen. Was nun? Treppen runter ... nichts. Wieder hoch und ein erneutes Suchen, das wieder keinen Erfolg brachte.
Die Begebenheit einer Mail-Freundin fiel mir ein, die ebenfalls ihre Brille fieberhaft suchte, als sie nach dem Einkaufen heim kam. Zum Glück hatte auch sie ein Ersatz-Glotzophon, wie wir es oft scherzhaft nennen. Als sie mir damals schrieb, dass die Brille sie - als sie den Rest des Eingekauften in den Kühlschrank räumte - von dort aus hämisch angrinste, konnte ich mich vor Lachen nicht halten. Aber mein Blick in das Kühlgerät brachte keinen Erfolg.
Entnervt beschlossen wir zu frühstücken.

Otto, mein Mann, fing plötzlich an, sich die Augen zu reiben. Eben wollte er mir erklären, dass er zum Augenarzt müsse, weil seine Brille nicht mehr die gewünschte Sehkraft vermitteln würde, als er zu grinsen anfing.
Mit tränenden Augen legte er das Sehgerät auf den Tisch und ... es war meine Brille.
Wir lachten schallend und glücklich.
Er hatte seine Brille, als wir zu Bett gingen, mitgenommen und sie lag auf dem Nachtkästchen. Für die Markierungen der Kaffeemaschine braucht er diese aber. Der Griff zum Tisch, auf dem eine Brille lag, war Gewohnheit. Da die Gestelle etwa dasselbe Gewicht haben und auch das Aussehen dieser Glotzophone ähnlich ist, bemerkte er den Irrtum nicht.
Es war ein lachender Morgen, der nun hoffentlich in einen guten Tag übergehen wird.
Heidi Gotti - 3. Februar 2006

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